Ich möchte Ihnen heute drei Geschichten erzählen. Drei Geschichten, die um das Wort „barmherzig“ kreisen. Es ist schon mutig, was wir heute lesen, was uns heute gesagt ist: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Oder: „Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Irgendwie kennen wir das. Aber wir vermissen es auch. Oft kommen wir dann auch an unsere Grenzen.
Die erste Geschichte
Die Jugendmitarbeiterin, nennen wir sie Kerstin, hat sich dazu durchgerungen, die Ausbildung zur Diakonin zu machen. Berufsbegleitend ist das gar nicht so einfach. Kurse, Praxisblöcke und am Ende eine Prüfung. Als Prüfungsaufgabe hat sie, über „Barmherzigkeit“ eine Arbeit schreiben zu müssen. 15 Seiten maximal, Anmerkungen eingeschlossen. Am Ende soll das Literaturverzeichnis stehen. 15 Seiten über Barmherzigkeit? Wie anfangen? Wo aufhören? Kerstin hat in der Bibliothek herausgefunden, was es da so alles gibt. Ziemlich viel. Zu viel für einen kleinen Kopf, zu viel für die vier Wochen, die gerade mal bleiben. Am Ende der Ferien, die die anderen haben, soll sie ihre Arbeit abgeben. Ziemlich unbarmherzig!
Schauen wir Kerstin einmal über die Schulter. Sie hat sich festgebissen. Fast ein wenig leidenschaftlich. Darüber hat sie noch nie nachgedacht: Was ist das für ein tolles Wort: barmherzig, Barmherzigkeit. Kerstin nimmt das Wort in die Hand wie ein Schmuckstück, dreht es im Sonnenlicht und ist ganz fasziniert von der glitzernden Schönheit. In einem der dicken Bücher hat sie gelesen, dass im Hebräischen Barmherzigkeit mit dem Mutterschoß zu tun hat, mit der Gebärmutter. Und dass Gott nicht nur Vater ist – er ist auch Mutter, Geborgenheit vor allem Anfang, Geborgenheit auf allen Wegen, Liebe ganz und gar.
Im 2. Buch Mose liest Kerstin (34,6): Und der Herr kam an Mose vorbei. Und Mose rief aus: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. - Als sie noch weiteren Stellen nachgeht, was sie sonst noch nie getan hat, entdeckt Kerstin, dass das Wort „Barmherzigkeit“ Gott beschreibt, in der Verbindung mit Gnade und Treue. Ein Bild können wir uns von ihm nicht machen, aber was er tut, das lässt sich erzählen. Über Generationen hinweg. Über Ländergrenzen hinaus. Kerstin stößt bei ihrer Recherche auf eine Stelle beim Propheten Jesaja (49,13ff.):
Jauchzet, ihr Himmel, freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Und dann: Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn, die Tochter ihres Leibes? Trotzig dann: Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Ich nicht - sagt Gott, der Barmherzige.
Kerstin macht sich Notizen. Was für eine Geschichte hat dieses Wort „barmherzig“, dieses Wort „Barmherzigkeit“? In diesem Wort spiegelt sich, mutig gesagt, die Geschichte Gottes mit Menschen, die aus seiner Liebe kommen, aus seinem Mutterschoß das Licht der Welt erblicken, bei ihm eine Heimat haben. Gott nimmt wahr, was geschieht. Gott leidet mit. Gott lässt sich berühren. So barmherzig sein? Wie ER? An IHM Maß nehmen? Kerstin weiß noch nicht, wie sie die Kurve kriegen soll. Aber wir sind doch alle zuversichtlich, dass sie eine gute Arbeit abgeben wird! Die Diakonin in spe. Ich habe sie schon gefragt, ob sie sich, wenn alles fertig ist, schon eine Predigt zutraut.
Die zweite Geschichte
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Ich weiß nicht, ob diese Sätze immer passen. Bei kirchlichen Sitzungen, es gibt gar viele von ihnen, wird immer ein „geistliches Wort“ an den Anfang gestellt. Mal kürzer, mal länger. Heute also diese Worte aus dem Lukasevangelium. Nur die Tagesordnung – die ist wie ein Fremdkörper. Die stört. Die ist verstörend. Es geht um das Thema „Missbrauch“.
Eine große Studie dazu ist erschienen. Hunderte von Seiten. Es gibt auch in der evangelischen Kirche Missbrauch. Nachweisbar. Schwarz auf Weiß. Ein Fazit der Studie ist, dass wir, christlich gesinnt, Machtstrukturen klein oder fromm reden. Während die Opfer das Schweigen lernten, nicht gehört wurden, konnten die Täter sich in einem frommen Raum verstecken und auf Deckung hoffen. Es reicht, ein „Vergebungssystem“ zu haben, das beschönigt, verschleiert und verdrängt. Täter bekommen eine weiße Weste. Täter behalten ihre Unschuld. Es ist eine lange Geschichte, die bitter schmeckt und kaum auszuhalten ist. Und jetzt auch noch Lukas!
In der Sitzung, von der ich erzähle, spürt man, was es bedeutet, mit einem biblischen Wort, mit dem Evangelium zu beginnen und sich dann einem bedrängenden Thema zu stellen. Wer darf denn vergeben? Gibt es etwas, das nicht vergeben werden kann? Wohin führt es, wenn Vergebung missbraucht, auch (!) missbraucht wird? Wenn das, was Lukas von Jesus überliefert, so einfach wäre: nicht richten, nicht verdammen, aber: vergeben. Ich schaue ein wenig ratlos in die Runde, allerdings auch ein wenig provozierend. Barmherzig sein, heißt doch, Opfern eine Stimme zu geben, für sie einzutreten, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Barmherzig sein, heißt doch, jede Form von Missbrauch zu benennen, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, unheilvolle Machtstrukturen aufzubrechen. In Gottes Barmherzigkeit kann sich kein Unrecht einnisten. Dieser Mutterschoß gebiert kein Unheil.
Es war eine harte Sitzung! Eigentlich sind sich alle einig. Eigentlich. Aber so mancher Zwischenton wird hörbar. Es tut wohl auch weh, der Institution Kirche, die einen hohen Anspruch verkörpert, ins Gesicht sagen zu müssen, dass sie es an Barmherzigkeit hat fehlen lassen. Oder es vielleicht auch immer noch tut. Es ist, als ob man seiner Mutter etwas Böses sagt. Sagen muss. Die Vorwürfe wiegen schwer. Groß sind die Worte, die wir machen. Doch sie machen uns bescheiden und klein. Aber aufmerksam und wach.
Als Lukas sein Evangelium und dabei auch die sog. Feldrede Jesu aufschrieb, gab es natürlich längst ein Wissen darum, dass nicht alles vergeben werden kann, als gäbe es da nichts weiter zu bedenken. Aber an der Stelle hat Lukas Recht: Vergeben können ist ein Geschenk, das Gegenteil wäre Rache. Doch Rache unterbricht nichts, das Unheil am wenigsten. Rache gebiert Rache. Angst gebiert Angst. Vergebung ist nach Gottes Art ein Durchbrechen von Teufelskreisläufen: Wir machen jetzt nicht mehr weiter. Doch der Weg ist lang und steinig. Bis wir Versöhnung feiern. Opfer sind zu hören. Ihr Schweigen hat ein Ende. Täter werden zur Rechenschaft gezogen. Sie müssen sich stellen. Aus Barmherzigkeit.
Die dritte Geschichte
Die dritte Geschichte, die ich erzählen will, spielt in einem „Familienzentrum“. Hier sind besonders viele Menschen, die eine Migrationsgeschichte „hinter“ sich haben, die aus der Ferne kommen und aus ihren Heimaten geflüchtet sind. Meistens sind sie unter sich. Sprachlich ist es oft auch schwierig, auf Augenhöhe miteinander zu reden. Aber manchmal reicht das „Deutsch“ für ein offenes Gespräch. Das ist dann ein Glücksfall – wenn man ein Glück darin sehen kann.
Achmed, wir nennen ihn jetzt so, ist schon ein paar Jahre in Deutschland. Er erzählt, wie er die Diskussionen und Wortbeiträge wahrnimmt, die in den Medien geführt werden. Er versteht auch jedes Wort. Er nimmt die Unbarmherzigkeit wahr. Er weiß auch kein anderes Wort dafür. Unbarmherzig. Viele Parolen, längst zu Kürzeln geronnen, grenzen ab und grenzen aus. Viele Redeweisen verletzten. Menschen gehen mit ihren Geschichten unter. Achmed arbeitet, zahlt Steuern, will hier bleiben, aber er fühlt sich nicht angenommen. Wenn da nicht die Menschen wären, die ihm zuhören, die ihm helfen, die ihm eine „Herberge“ geben. Für Gedanken und Träume. Ungeregelte Migration und fehlende Integration sind nicht unschuldig daran, dass auch die Töne rau geworden sind oder: unbarmherzig. Tatsächlich! Wie aber sieht eine barmherzige Rede aus? Ist Barmherzigkeit nur etwas für eine fromme Rede, die wir Predigt nennen?
Achmed kannte die Geschichte vom Barmherzigen Samariter nicht. Woher auch? Er kennt eigentlich keine biblischen Geschichten. Er ist Muslim. In einem kleinen Kreis haben wir aber dieses Gleichnis Jesu für uns entdeckt, Muslime und Christen, Geflüchtete und seit Generationen hier wohnhaft. Barmherzig ist der Samariter doch, weil er einfach einem Menschen hilft, der unter die Räuber gefallen ist. Unter die Räuber gefallen sind hier viele. An dem Abend werden viele Geschichten erzählt! Manche war noch nie erzählt worden! Die Geschichte entfaltet eine eigene Kraft. Priester und Levit gehen weiter, weil sie im Tempel einen frommen Kult verrichten. Ganz nach Vorschrift. Mit reinen Händen!
In unserem kleinen Kreis, mehr zufällig als absichtlich, haben auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, die Pointe auf Anhieb verstanden: Wir können uns nicht verdrücken. Uns auch nicht hinter unserem Status verstecken. Wir können auch nicht fremd bleiben! Nicht fremd bleiben wollen. Wir wollen, wie der barmherzige Samariter, „Nächste“ sein für Menschen, die jetzt einen „Nächsten“ brauchen. Hautfarbe, Sprache, Nationalität – egal.
Jesus sagt: Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. Die Beobachtungen von Achmed, in Deutschland seien viele Sätze und Redeweisen „unbarmherzig“, gehen mir nach. Der „barmherzige Samariter“ steigt von seinem hohen Ross herunter, bückt sich, hebt den Verwundeten auf sein Reittier und verspricht sogar, wieder zu kommen – um die restlichen Kosten auszugleichen. Barmherzigkeit gibt es tatsächlich auf – Kredit! Auf Vertrauen!
Drei Geschichten
Ich wollte Ihnen heute drei Geschichten erzählen. Drei Geschichten, die um das Wort „barmherzig“ kreisen. Es ist schon mutig, was wir heute lesen, was uns heute gesagt ist: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Oder: „Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Barmherzigkeit braucht Zukunft. Barmherzigkeit gewährt Zukunft. Barmherzigkeit wird Zukunft. Gott ist – Barmherzigkeit