Bedingungsloser Freispruch
Einander nicht festlegen, sondern zu neuen guten Wegen verhelfen
Predigttext: Lukas 7,36-50 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als sie vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sagte: Meister, sag es! Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er`s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat mir meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein UHaupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben; denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da fingen die an, die mit zu Tische saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden.
Exegetische Skizze
Der Text ist von einer einzigartigen narrativen Dramaturgie geprägt. Man beachte die schrittweise Zuwendung Jesu zuerst zu Simon (V.40), danach zu ihm und der Frau (V.44), schließlich nur noch zu der Frau (V.48). Mit diesen Schritten geht einher, wie aus der anrührenden Erzählung vom Verhalten der „Sünderin“ sukzessiv eine soteriologische Geschichte wird, in der am Ende Jesus offenkundig wie an Gottes Stelle spricht. Wir werden auf solche Weise von der Erzählung an die Hand genommen, wie Jesus mit der Beispielgeschichte und dem folgenden Dialog den Simon sanft zu einem Blick auf das Geschehen führt, der ihm anfangs fremd war.
Die Beispielgeschichte von V. 41f lässt Lk 4, 14ff anklingen, wo Jesus die prophetische Verheißung von der Aufhebung aller Schuldknechtschaft (Jes 61, 1f) als durch ihn vollstreckt erklärt. Das gilt umso mehr, als es in V.39 um den Titel des Propheten geht, mit dem sich seit Dt 18,15 messianische Erwartung verbunden hat.
Wenn ich jemandem, der noch nie eine Geschichte von Jesus gehört hat, eine einzige erzählen sollte, ich würde diese wählen. Die Geschichte ist so anschaulich, dass ein Kind sie erfassen kann. Doch ein gelehrter Mensch könnte sie nicht ausschöpfen. Sie zeigt Jesus, wie er als Mensch unter Menschen geschwisterlich gelebt hat. Sie erzählt aber auch, wie er in Gottes eigener Hoheit spricht. Wie die Frau hineingekommen ist und warum sie als Sünderin vorgestellt wird, erfahren wir nicht. Alles läuft schnurstracks auf den Moment zu, wo sie Jesus weinend zu Füßen fällt, fast wie ein schluchzendes Kind. Sicher weint sie mit ihren Tränen viele Schmerzen heraus, die sie erlitten hat. Doch indem sich diese Schleusen öffnen, werden in ihr auch andere Ressourcen wie aus Verschüttung frei. Mit ihren Haaren beginnt sie, Jesu Füße zu trocknen. Sie liebkost sie und gießt Salböl darüber. Was für eine anrührende Geste inniger und zärtlicher Liebe! Da ist einem Menschen das Herz ganz aufgegangen. Wie versunken ist die Frau in diesem Augenblick in inniger Lebendigkeit. Könnte so nicht ein Leben aussehen, das ganz von Gottes Gegenwart erfüllt wäre?
Kaum hat uns die Geschichte die anrührende Szene mit der Frau erzählt, holt sie uns zurück in ein Miteinander, wie wir es allzu gut kennen. Der Gastgeber denkt sich so seinen Teil. Doch er spricht es bloß in sich hinein. Vielleicht meint er das zwar nur gut und will lediglich einen Eklat vermeiden. Doch wir, die wir Einblick in seine Selbstgespräche erhalten, können uns darauf besinnen, wie oft gerade unausgesprochene Urteile unser Miteinander auf gespenstische Art verhexen können. Wie schnell kann man mitunter kaum noch auseinanderhalten, was man an einem anderen Menschen wirklich wahrgenommen hat und was einem lediglich einmal „gesteckt“ worden ist? Wie heillos vermischt sich oft, was man an ihm findet damit, was man als Beweggründe unterstellt? Auf andere Menschen wird dann im Nu projiziert, was im Grunde woanders gebrütet wurdeutsch. Daraus entstehen unheilschwangere blinde Flecken im Miteinander. Wie viel Leid ist schon auf solchem Mist gewachsen!
An Simon zeigen sich auch die Scheuklappen, die mit solcherlei blinden Flecken einhergehen, wenn lauter unausgesprochene Urteile und nicht gestellte Rückfragen unter uns herumgeistern. Man kriegt dann nur noch einen Bruchteil davon mit, was vor sich geht. „Jesus kann kein echter Prophet sein“, denkt er. Ein Prophet, so setzt das voraus, verfügt über übernatürliches Wissen. „Bin ich etwa ein Prophet?“ heißt es ja auch heute noch, wenn jemand sich dagegen wehrt, sagen zu sollen, was noch niemand absehen kann. Doch Jesus setzt im Evangelium seine Sendung in einem völlig anderen Sinne mit der eines Propheten gleich. Dass den Armen in Gottes Namen ein Erlassjahr verkündet und denen, die in Schuldknechtschaft gefangen sind, Befreiung zuteil wird, in dieser Verheißung des Propheten Jesaja findet er sie zusammengefasst. Der Evangelist Lukas hatte das kurz zuvor berichtet.
Um einen Schuldenerlass geht es auch in der kurzen Beispielgeschichte, die Jesus dem Simon erzählt. Schuldenerlass ist ein ausgesprochen aktuelles Thema. Wie viele Treffen hochrangiger Politikerinnen und Politiker in Europa hatten ihn in der letzten Zeit auf ihrer Tagesordnung. Doch was als Beschlüsse am Ende stand, blieb ganz im Rahmen ökonomischer Sachzwänge. Wurden Schuldenschnitte empfohlen, dann waren sie an die Bedingungen neuer Sparauflagen geknüpft. In der Beispielgeschichte von Jesus ist das anders. Beide Schuldner werden komplett entschuldet. Von weiteren Bedingungen vernimmt man kein Wort. Alle Zwänge und Bedingungen liegen hier fern als erinnerten sie nur noch an eine vergangene Welt. In dem Leben, zu deUm Gott uns beruft, gehört es wie von selbst zusammen, zum Leben erweckt zu werden und darüber wie vor unaussprechlichem Glück nichts als innige Liebe zu spüren. Hier geht das eine wie von selbst in das andere über, und beides fließt wie aus einer einzigen gemeinsamen Quelle. Daran kann man das Leben, zu dem Gott uns beruft geradezu erkennen wie an einem Wahrzeichen. Denn Gott hat uns von je her so wahrgenommen und gewollt – so, dass keinerlei Bedingungen, weder Druck und Zwang noch Anreize und Belohnungen vonnöten sind, damit aufgeweckte Lebendigkeit und innige Liebe Hand in Hand gehen als wären sie getrennt gar nicht vorstellbar. Seine lebensschaffende Zusage weckt beide zugleich. Wo Gott uns freispricht, ist es, als ob alles Miteinander, das ohne derlei Bedingungen und Zwänge nicht auskommen kann, bereits gänzlich vergangen wäre und hinter uns liegt. Wir sind wieder bei dem lebendigen Anschauungsunterricht, den uns die Geschichte mit der Frau gibt. „Ihr sind viele Sünden vergeben; denn sie hat viel geliebt. Wem wenig vergeben ist, der liebt wenig“.
Nachdem Jesus dem Simon die Beispielgeschichte von den zwei Schuldnern erzählt und ihm wie uns plausibel gemacht hat, wie es zugehen kann in einem Leben, das Gott freigesprochen und befreit hat, wendet er sich der Frau noch einmal ganz im Besonderen zu. Der Evangelist erzählt das sehr genau. Bis dahin hatte Jesus zwar wohl schon in ihre Richtung gewiesen und geschaut, aber zu Simon gesprochen. Nun aber spricht er die Frau persönlich an. „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Man könnte meinen, das sei doch schon die ganze Zeit vorausgesetzt gewesen. Warum erzählt das Evangelium noch einmal so ausdrücklich von diesem persönlichen Zuspruch? Zum einen wird die Frau noch einmal im Besonderen vergewissert, dass von Gott ausging, was sich dann in ihrem Verhalten so eindrücklich niederspppchlägt und spiegelt. Zugleich wird sie auf ihre weiteren Wege vorbereitet, die immer wieder überschattet sein werden von den Bedingungen eines Miteinanders, wie wir es zur Genüge kennen. Wir werden mit ihr zusammen darauf vorbereitet. Denn wir werden es nicht einfach wie mit einem Salto mortale überspringen können, auch wenn uns Gottes befreiende Berufung erreicht hat.
Das eine ist: Indem Jesus der Frau ausdrücklich und persönlich zusagt „Dir sind deine Sünden vergeben“, redet er wie nur Gott reden kann. Er begegnet ihr in Gottes eigner Hoheit und wie an Gottes Stelle. Die Leute im Haus des Simon registrieren das auch prompt. Denn nur Gott kann dafür bürgen, dass es ein Leben gibt, wo aufgeweckte Lebendigkeit und innigste Liebe wie von selbst beieinander wohnen. Gott aber hat sich für ein Leben verbürgt, in dem es mit ihnen zugeht wie wenn man einen Klangkörper anschlägt. Zusammen mit jedem Ton schwingen automatisch zugleich lauter Ober- und Untertöne mit. So beginnt, wo Gottes Wort in uns Leben erweckt, sofort etwas von seiner Liebe in uns mitzuschwingen. Oder umgekehrt erlebt : wo immer uns ein Wort innerlich erreicht und berührt, das in uns aufgeweckte Lebendigkeit und innige Liebe zugleich zum Klingen bringt, dürfen wir gewiss sein, dass Gottes Wort hinter ihm steht, wie es hinter Jesus Christus steht. Da ist es ganz verlässlich Gott, der zu uns geredet hat. Dann dürfen alle anderen Stimmen für einen Moment ganz draußen bleiben. Für einen Moment ist es dann tatsächlich, als gehörten sie bereits einer vergangenen Welt an.
Das andere ist: Indem die Geschichte uns Jesus so vorstellt, wie er in Gottes Hoheit spricht, führt sie uns noch einmal neu an ihren Anfang zurück. „Dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin im Frieden“, sagt Jesus der Frau. Vor der Frau tun sich neue Wege auf. Sie wird vorerst in keiner anderen Welt leben. Sie wird zurückkehren in ein Miteinander, in dem sie einst zu der Person geworden war, die dann weinend zu Füßen von Jesus zusammenbrach. Auch vor uns tun sich immer wieder Wege auf, die von so manchen blinden Flecken beherrscht sind, die unser Miteinander schwierig machen. Auf ihnen kommt man kaum umhin, mitunter Bedingungen zu stellen, damit gemeinsame Ziele erreicht werden.
Jedoch wo Gottes Wort uns einmal erreicht hat, und wo dann alle anderen Stimmen für diesen Moment außen vor bleiben mussten, so als gehörten sie bereits jetzt einer vergangenen Welt an, da werden sich für uns auch andere Wege auftun. Vielleicht sind es Wege, die nur wir ganz persönlich zu gehen haben. Vielleicht sind es solche, auf denen wir ganz im Besonderen gefragt sind – von Gott womöglich, aber vielleicht auch von Menschen. Es können Begegnungen sein, bei denen wir merken, dass wir Zeichen setzen können für die vergebende Befreiung, die wir von Gott erfahren haben. Mag sein, dass sie uns auch mal etwas abverlangen, was keineswegs in den Alltag der Welt mit ihren blinden Flecken und ihren Bedingungen und Zwängen hineinpassen will. Mag sein, dass wir uns mit ihnen keinesfalls nur Freunde machen; dass uns gar manches ablehnende Gerede trifft. Dann kann es uns helfen, zu dem Zuspruch, den wir gehört haben, Zuflucht zu nehmen. Genauso tut es ja in der Geschichte jene Frau, von der man um sie herum nur tuschelte, was für eine Sünderin sie sei. Vielleicht wird sie uns dann zu einer heimlichen Schwester, deren Geschichte wir uns jederzeit in Erinnerung rufen können.
“Die Geschichte ist so anschaulich, dass ein Kind sie erfassen kann. Doch ein gelehrter Mensch kann sie nicht ausschöpfen”, behauptet Pfarrer Funke am Anfang seiner Predigt. Ein naives Kind kann das Evangelium durchwaten und ein Elefant an Gelehrsamkeit droht darin zu ertrinken. Auch der ganz große Theologe Paul Tillich sagt in seiner tiefsinnig-gelehrten Predigt zum Text in: Das neue Sein, S.16: “Jesus stellt sich auf die Seite der Sünder gegen die Gerechten, obwohl er nicht an der Gültigkeit des Gestzes zweifelt. Hier rühren wir an das Geheimnis der christlichen Botschaft in ihrer paradoxen Tiefe. Wir können hoffen, hinter den Vorhang diese Geheimnisses zu blicken”. Pfarrer Funke predigt vor diesem Hintergrund sehr überzeugend und gewinnend über den Text. Die verschiedenen Positionen des Textes inmterpretiert er mit folgenrichtigem Aufbau und innerer Dramaturgie. Er schildert die anrührende Geschichte der Frau am Anfang. Dann spricht er über die ganz anderen Gedanken der Gastgeber und Pharisäer. Die Beispielgeschichte wird zum “lebendigen Anschauungsuntericht”. Zum Schluss spricht er über die Sündenvergebung Jesu, die eigentlich nur Gott zusprechen kann. Die neuen Wege für die Frau und uns schließen die Predigt ab. Die Problematik der Vergebung und der Gnade und Gerechtigkeit-Dialektik bleibt ein Thema. Zu einem zentralen Kern des Evangeliums wie beim verlorenen Sohn eine sehr gelungene Predigt!