Befreiende Erkenntnis

Gerechtigkeit, die vor Gott gilt

Predigttext: Galater 2,16-21
Kirche / Ort: St. Martinskirche / 32139 Spenge
Datum: 19.08.2012
Kirchenjahr: 11. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Brigitte Janssens

Predigttext: Galater 2, 16-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

16 Doch weil wir wissen, daß der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht.
17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden - ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!
18 Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter.
19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt.
20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.
21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.

Exegetische und homiletische Überlegungen

Die protestantische Rechtfertigungslehre „in nuce“ steht im Zentrum des Predigttextes. Es ist den prägnanten und präzisen Formulierungen des Paulus nicht abzuspüren, dass sich hinter der Entfaltung der zentralen Aussagen des christlichen Glaubens schwere persönliche Konflikte zwischen Paulus und Petrus sowie schwierige theologische Auseinandersetzungen zwischen Heidenchristen und Judenchristen innerhalb der von Paulus gegründeten Gemeinde verbergen. Menschlich enttäuscht ist Paulus von Petrus, der sich nach anfänglicher Begeisterung für die junge Gemeinde, mehr und mehr zum Kritiker, sogar zum Gegner paulinischer Theologie entwickelt hat. Theologisch empört, ja erzürnt ist er, dass die mühsam errungene Freiheit vom Gesetz, von der Beachtung jüdischer Reinheitsvorschriften, bedroht ist.

Die Freiheit des Christenmenschen, der sich allein im Glauben an seinen Gott gebunden und von ihm angenommen weiß, ist eine mühsam errungene Erkenntnis, hinter die Paulus weder für sich noch für die Gemeinde zurück will. Vor dem Hintergrund dieser persönlichen und theologischen Konfliktsituation sowie seiner zugespitzten und zentralen Aussage in V. 20 wähle ich als Zugang zum Predigttext die Biographie des Paulus. Ermutigt zu diesem Ansatz werde ich von Johann Anselm Steiger, der schreibt: „In der Bibel lernt der Mensch sich als im reformatorischen Sinne simul iustus et peccator kennen, obwohl er eine fremde Biographie liest, wird sie ihm zur Autobiographie; obwohl sie von einem andren Menschen jeweils erzählt und obwohl ich als Leser meine Autobiographie noch nicht verfasst habe, legt sich die Bibel als eine solche in mein Leben hinein aus…Und gerade der Verfremdungscharakter ist es, die Tatsache, dass ich meine eigene Geschichte und eigenen Geschicke unter anderen Vorzeichen und Namen lese, was mich umso stärker und klarer auf die Analogie meiner Biographie zu derjenigen biblischer Personen hinweist(…)“

Sein Lebensweg, seine Wandlung vom Saulus zum Paulus, greift die aktuelle Konfliktsituation als zentrale Lebensfrage des Paulus auf. So sind auch heute Menschen eingeladen, die Befreiung und Entfaltung neuer Lebensmöglichkeiten durch die reformatorische Erkenntnis zu teilen, dass sie nicht durch des Gesetzes Werke, sondern allein durch den Glauben an Jesus Christus Gott und sich selbst gegenüber gerecht werden. Der Lebensweg des einen soll zur staunenden Erkenntnis auf dem je eigenen führen: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.

Literatur: Eugen Drewermann, Zwischen Staub und Sternen. Predigten im Jahreskreis, Düsseldorf 1991, S.  79ff. - Johann Anselm Steiger, Johann Ludwig Ewald. Rettung eines theologischen Zeitgenossen, Göttingen 1996, S. 176-183, zitiert nach: Reinhard Laser, 11. Sonntag nach Trinitatis, Der Brief an die Gemeinde Galatien 2, 16-21, in :GottesdienstPraxis, Serie A, IV. Perikopenreihe, Bd. 3, Gütersloh 2006, S. 157.

Lieder: „Aus tiefer Not“ (EG 299) - „Eines Tages kam einer“ (in: Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde, Nr. 257,  TVD-Verlag, Düsseldorf, 2007)

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Nur etwa fünf Seiten lang ist der Brief, den Paulus an die Gemeinde in Galatien schreibt. Wenn wir uns eben bei der Verlesung des Predigttextes auch wie erschlagen gefühlt haben mögen, von den vielen theologischen Begriffen, so sind diese wenigen Seiten dennoch keine philosophische Abhandlung mit antiken Wert. Nein, dieser Brief ist mit Herzblut geschrieben. Er ist das Do­kument der tiefen Lebens- und Glaubenskrise eines Mannes, der nicht allein die Sache, für die er einsteht, sondern auch sich selbst, seinen gesamten Lebensweg, in Fra­ge gestellt sieht.

Gefangen

Es lag bestimmt kein leichter Lebensweg hinter ihm: So selbst­bewusst und zielstrebig, so felsenfest davon überzeugt, dass sein Weg der Richtige wäre, hatte er mittendrin erkennen müssen: Nichts war richtig und gut. Es war ein Weg vieler Irrtümer, ein Weg, auf dem er  oft schuldig geworden war gegen andere, gegen Gott und gegen sich selbst. Als er noch Saulus hieß, war er ein Pharisäer im wahrsten Sinne des Wortes. Tag und Nacht hatte er das Wort Gottes studiert. Er beherrschte die rund 600 niedergeschriebenen Gesetze samt ihrer mündlichen Aus­legungen aus dem FF und befolgte sie auch mit dem Herzen, in seinem Leben. So fest er davon überzeugt war, darin Gott zu lieben und allein seinem Willen zu folgen, so sehr verfolgte er all die Menschen, die gegen das Gesetz verstießen, die in seinen Augen den Willen Gottes missachte­ten. Saulus war ein guter Pharisäer, der seinem Stand (übersetzt heißen die Pharisäer „die Abgesonderten“) alle Ehre machte. Er war etwas Besonderes. Man begegnete ihm nicht allein mit Ehrfurcht, mehr noch mit Furcht. Denn Gottes Gebot und Wort war ihm nicht allein im übertragen­en Sinne Waffe und Schwert, ein Panzer, der ihm wie ein Korsett Halt und Stütze gab, der ihn auch, wie er erst viel später spürte, einengte und einsam machte.

Als „Abgesonderter“ hatte er nichts zu tun mit den Menschen seiner Straße, seiner Stadt, vor allem und erst recht nicht mit den Armen oder Kranken, den Sehnsuchtsvollen oder Verängstigten, den Traurigen oder Hoffnungslosen, die  allein durch ihr Elend signalisierten: Gott hat mit mir nichts im Sinn, weil ich nichts im Sinn habe mit ihm. Er war besser, richtiger, frommer und überzeugt: Mit Gott an meiner Seite brauche ich keinen anderen Menschen. Wenn man die anderen mit Worte nicht überzeugen kann, dann eben mit der Waffe. So zählten dann die, die sogar ganz offen das Gesetz in seiner einschnürenden und re­glementierenden Form kritisierten, zu seinen ärgsten Feinden. Von diesen Christen, die gerade die Freiheit vom Gesetz betonten, gab es eine ganze Menge. So sieht man denn Saulus eines Tages bei der Hinrichtung eines Jesusanhängers. Die Kleider des Stephanus legt man ausge­rechnet ihm zu Füßen, damit die Steine ihr Opfer auch zielsicher treffen. „Und Saulus hatte Gefallen an seinem Tod“ (Apg 8, 1). Ausgestattet mit den bereits ausgefertig­ten Haftbefehlen gegen jeden, ob Mann oder Frau, will Saulus der christlichen Gemeinde ein Ende machen. Jedes Haus durchsucht er. Jeden, den er findet, wird er dem Haftrichter und damit der verdienten Strafe zuführen.

Doch, bereits unterwegs nach Jerusalem, trifft es ihn kurz vor den Toren Damaskus wie ein Schlag. Eine Stimme hört er, die ihn fragt: Saulus, was verfolgst du mich? Die Stimme hätte genauso gut fragen können: Wen oder was willst du eigentlich ermorden und töten, wenn du die Christen verfolgst? Saulus ist wie gelähmt, kann den einst begonnen und so für richtig befunden Weg nicht länger fortsetzen. In Gedanken sucht er nach einer Antwort, nach einer ehrlichen Antwort. Sie ist für ihn schmerzhaft und heilsam zugleich, die Erkenntnis, dass er das Gesetz als tödliche Waffe eingesetzt hat gegen sich selbst und andere, und darum gerade nicht begriffen hat, wie es von Gott her gemeint war: als Spielregel der Freiheit, als Spielraum des Lebens, den Gott einem jeden seiner Menschen zur Verfügung stellt. Für ihn war sein Glaube das Erfüllen des göttlichen Gesetzes  gewesen, es war wie ein Korsett, das ihn einschnürte und einengte, ihn fernhielt von den Menschen, vom Leben. Als „Abgesonderter“ war er selbstgerecht geworden und hochmütig, einsam und böse.

Befreit

Saulus lässt die Frage zu. Er lässt die Stimme in sein Ohr und tief in sein Herz eindringen. Später kann er als Paulus in unserem Predigttext sagen: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus in mir. Nicht länger braucht Paulus das Korsett des Gesetzes. Seine Lebenskraft bezieht er fortan aus dem Geist und aus den Worten Jesu Christi, sie sind tief in seinem Herzen und fest in seinem Verstand verankert. Wie gewandelt erwacht Paulus aus der Erstarrung. Es ist als sei er ein anderer. Doch ist er gerade darin er selbst geworden, ein Mensch, von Gott geliebt, mit dem Mut und der Kraft zum eigenen Leben, nicht in vorgeformten und gefertigten Bahnen, sondern auf dem ganz eigenen Weg mit Gott hin zu den Menschen. Das Gesetz konnte nur töten und tödlich sein, nicht aufgrund seines Inhalts, sondern dann, wenn es zum Lebensprinzip gemacht wird: Denn wohin soll ich mit meinen Fehlern, mit meinen Schwächen, mit meinen Unzulänglichkeiten. Was ist, wenn ich versage oder schuldig werde. Immer wird mich das Gesetz dann verklagen und klein machen, vielleicht den Menschen nicht töten, aber doch die Menschlichkeit.

Leben

Wie anders ist da das Leben und die Freiheit, die Christus anbietet, damals dem Saulus, heute uns: Ich kann mich einlassen auf mein Leben mit all meinen Irrtümern, auf das Leben des Menschen neben mir, ihn verstehen, ihn da und dorthin begleiten, wohin sein Weg ihn gerade führt, im Glück, aber auch und gerade in Traurigkeit oder Leid. Das Leben ist nicht länger schwarz-weiß, es ist bunt und  hat eine Fülle von Möglichkeiten. Lebensmöglichkeiten hält Gott für mich bereit, ich muss sie nur erkennen und ergreifen. Wie heilsam diese Erkenntnis für uns Menschen bis heute sein kann, führte mir die Fernsehausstrahlung des Filmes über Albert Schweitzer vor wenigen Tagen vor Augen: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus in mir. Die zentrale Erkenntnis des Paulus schlägt sich über die unterschiedlichen Stationen seines Lebens als Theologe und Musiker, als Arzt und politischer Mahner in der unbedingten Ehrfurcht vor dem Leben nieder, die all seine so vielfältigen Lebensbereiche durchzieht und gestaltet.

„Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will.“ So fasst Albert Schweitzer seine Erkenntnis seines Glaubens und Maxime seines Handelns zusammen. Dieses authentische und  zugleich vorbildhafte Motto lässt die Botschaft des Paulus ganz lebenspraktisch werden, nicht nur für die großen Vorbilder im Glauben, sondern für jeden und jede von uns. Deshalb schreibt Paulus seinen Brief an die Gemeinde, die das alte Gesetz neu beleben will und hält ihr die Freiheit und Menschlichkeit entgegen, die Christus ihm selbst, vielen nach ihm und uns mit sei­nem Leben und Reden geschenkt hat. Durch sein Leben in uns will Christus in unserem Leben zur Welt kommen: als der, der er ist und mit dem, was er wirkt. So besingt es der katholische Theologe Alois Albrecht in seinem Lied, das von Jesus handelt, ihn jedoch mit keinem einzigen Wort beim Namen nennt und gerade darin deutlich macht: Einen solchen Herrn und Bruder, ein solches Leben brauchen wir und können wir uns nur für uns selbst und einander wünschen:

Eines Tages kam einer, der hatte eine Klarheit in seiner Stimme,
eine Wärme in seinen Worten, eine Kraft in seiner Botschaft.

Eines Tages kam einer, der hatte eine Freude in seinen Augen,
eine Freiheit in seinem Handeln, eine Zukunft in seinen Zeichen.

Eines Tages kam einer, der hatte eine Hoffnung in seinen Wundern,
eine Weite in seinem Wesen, eine Offenheit in seinem Herzen.

Eines Tages kam einer, der hatte eine Liebe in seinen Gesten,
eine Güte in seinen Blicken, eine Nähe in den Umarmungen.

Eines Tages kam einer, der hatte einen Vater in den Gebeten,
einen Helfer in seinen Ängsten, einen Gott in seinem Schreien.

Eines Tages kam einer, der hatte einen Geist in seinen Taten,
eine Treue in seinem Leiden, einen Sinn in seinem Sterben.

Eines Tages kam einer, der hatte einen Schatz in seinem Himmel,
ein Leben in seinem Tode, eine Auferstehung in seinem Grabe.

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2 Kommentare on “Befreiende Erkenntnis

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Mit “Herzblut” ist diese Predigt geschrieben, weil sie dem Herzblut des Paulus nachspürt. Weil die zentralen Aussagen des Paulus zur “Rechtfertigungslehre in nuce” für heutige Hörer schwer verständlich sind, erzählt sie die Biographie des Paulus mit zuerst festem Pharisäer-Standpunkt, dann tiefer Krise und dann Befreiung durch Jesus. Selten habe ich eine evangelische Predigt gelesen über die revolutionären reformatorischen Gedanken des Paulus und seines innigsten Nachfolgers Martin Luther. Selten war ich so angerührt und wurde ich so überzeugt und befreit durch Paulus. Sehr interessant der Hinweis auf den neuen Albert Schweitzer-Film. Sehr innig und zum Aufbewahren auch die Schlußbetrachtung von Alois Albrecht über Jesus. Erinnern möchte ich, dass der Konflikt zwischen Paulus und Petrus und seine Lösung weltgeschichtliche Bedeutung hat. Gäbe es nicht Paulus und sein gesetzesfreies Heidenchristentum, gäbe es wohl nur ein unbedeutendes Judenchristentum. Die weltgeschichtliche Größe des Petrus besteht darin, dass er die Heidenmission des Paulus offiziell akzeptiert hat (nach Apostelgeschichte 15, 1-12).

  2. Anne Kölling

    Zutiefst bewegt bin, war ich von dieser gehaltvollen und aufbauenden Predigt über Saulus / Paulus und die Rechtfertigungslehre. Mit viel Wärme und sehr menschlich sowie authentisch ist diese Predigt gehalten worden, ermutigend und befreiend zugleich. Dankbar bin ich, diese Predigt nun auch an “Mühselige und Beladene” weitergeben zu können. In Brigitte Janssens hat Spenge eine begnadete Predigerin.

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