Ein etwa 2000 Jahre altes Lied geht um die Welt. Es erreicht uns immer wieder. So auch heute. Paulus lässt es uns zukommen. Ein Lied, das eine Biographie hymnisch und poetisch wiedergibt. Es schildert die Lebensgeschichte Jesu von Nazareth, nein, genauer, die von Jesus Christus, nein, noch genauer: ein Aspekt der Geschichte Gottes. Poesie tut im nüchternen Leben gut. Poesie baut auf. Poesie macht Mut. Nicht durch ihre Form und Melodie allein, auch durch ihren Inhalt und die Atmosphäre, die sie vermittelt. So auch dieser Hymnus aus dem Philipperbrief. Er eröffnet einen Raum, der wärmt, schützt und birgt in kalter Welt, versetzt einen in eine Schwingung, die lebendig werden lässt inmitten von Ängsten …
Die Kraft dieses Christusliedes hat der Apostel Paulus erfahren, und er lässt uns daran teilhaben wie die Gemeinde zu Philippi damals. Paulus saß gefesselt im Gefängnis, als er den Brief schrieb. Es ging für ihn um Leben und Tod. Ausgeliefert war er an die Herren damals und angegriffen von Mächten – Paulus lässt sie in der Schwebe -, die ihm hart zu setzten. Da stärkt dieses Christuslied seinen Lebensmut. Warum? Paulus weiß: In dieser Tiefe bin ich nicht allein. Gott ist da. Christus steht mir bei in diesem “finsteren Tal”. Gott ist mir nicht fern, er blieb nicht da oben, weit weg im Himmel, und lässt mich hier verloren gehen. Gott steht mir zur Seite. Gott kam in die Welt, wurde Mensch mir zu Gute. Gott kennt meine Verlorenheit, mein Verfangensein, mein Ausgeliefertsein.
Das Lied beschreibt nämlich zugleich, wie es um uns Menschen steht. Wir sind Sklaven, Knechte, wie Paulus schreibt, indirekt auf uns bezogen, wenn er sagt, dass Jesus Christus, dass Gott unsere Gestalt annimmt – er „nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich“. In dieser Welt bin ich Knecht, um dies Wort von Paulus zu gebrauchen. Ein Knecht ist einer, der ausgeliefert, gefangen, unfrei ist. Ich bin nicht allein Herr in meinem Haus, nicht alleiniger Autor meiner Lebensgeschichte. Ich bin, trotz meiner eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, ausgeliefert, mit meiner Selbstbezogenheit, meiner Angst, zu kurz zu kommen, meinen Vorurteilen, die mich von anderen abschließen und Grenzen bauen. Ich spüre auch meine Grenzen. Ich erfahre, dass ich schuldig werde. Ich lebe auf den Tod zu, der mich in vielerlei Gestalt umgreift und ereilt. Nicht nur der natürliche Tod, der irgendwann kommt, sondern die anderen Tode, verursacht durch Ichsucht, Hass, Rachegelüste, Herrschsucht …
Ängste quälen mich. Sorgen plagen mich.
„Jeder muss sein Kreuz tragen“, sagt man. Wir haben unsere Lebenslasten zu tragen. Wir sind mannigfachen „Herren und Mächten der Welt“ unterworfen, die Lasten auferlegen und zu Angst und Verzweiflung führen. Martin Luther beschreibt es in der 2. und 3. Strophe seines Liedes „Nun freut euch liebe Christengmein“ (EG 341): “Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren …” / “Mein guten Werk, die galten nicht …” In tiefster Verzweiflung gefangen, unmöglich, sich allein daraus zu befreien. Die Sünde hat mich besessen, nicht nur mich, sie durchzieht die Menschenwelt. Der Mensch braucht Beistand. Martin Luther drückt es in seinem Lied weiter so aus (EG 341,4.5): “Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen …” / “Er sprach zu seinem lieben Sohn: ‘Die Zeit ist hier zu erbarmen’ …” Gott begibt sich in diese Tiefe. Er liefert sich den Mächten aus, den Herren dieser Welt, die sich ihre Herrschaft, die oft den Tod bringt, nicht nehmen lassen wollen. Er ist sich dafür nicht zu schade und hält sich aus der schuldigen und dem Tod verfallenen Menschenwelt nicht heraus. Gott nimmt auf sich, was uns bedrängt und gefangen hält. Aber er lässt sich von seinem Weg der Liebe, die das Leben achtet und wertschätzt, nicht abbringen durch die Anfeindungen. Weder Verrat noch Spott noch Hohn, weder Verfolgung noch Folter und Verurteilung.
Gott bleibt sich treu – bis zum bitteren Tod, dem Tod am Kreuz. Um das Kreuz zu tragen, das Wirken der Todesmächte zu durchkreuzen. Dafür steht sein Kreuz, das Zeichen für Gottes Liebe und Beistand, an dem wir Gott erkennen und was wir ihm wert sind. Dass wir dann frei werden von den Ängsten und Lasten, frei von den Schulden und uns so neu orientieren können. Mit Martin Luther: „Er sprach zu mir: ‘Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen; denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden’“. Dass wir
nicht in unseren engen Grenzen und Mauern gefangen bleiben, sondern
offen füreinander werden, herzlich aufeinander zugehen,
das Böse durchkreuzen, den bösen Herren und Mächten standhalten und ihnen nicht auf den Leim gehen, unser Herz Gott, Jesus Christus, hingeben, und von ihm her leben, die dunklen Mächte in Liebe, ohne Hass und Resignation überwinden.
Denn am Kreuz wird deutlich, wer mein Herr ist: Jesus Christus. Dass ich mich zu ihm stelle, wie er sich zu mir stellt, dass ich mich zu ihm bekenn, wie er sich zu mir bekannt hat. „Wer bekennt, muss sich nicht mehr fürchten.“ (Karl Barth, KD III/4, S.94). Paulus lenkt unseren Blick auf das Kreuz: „Kreuz, auf das ich schaue, steht als Zeichen da; der, dem ich vertraue, ist in dir mir nah. Kreuz, zu dem ich fliehe aus der Dunkelheit; statt der Angst und Mühe ist nun Hoffnungszeit. Kreuz, von dem ich gehe in den neuen Tag, bleib in meiner Nähe, daß ich nicht verzag”. Gegen Angst und Verzweiflung, gegen lebensfeindliche Mächte hilft es, Lieder der Freiheit und Liebe anzustimmen, Lieder wie unseren Philipperhymnus, den Martin Luther in seinem Lied neu zur Sprache brachte.