Befreiende Wahrheit

Besinnung und Nachdenklichkeit an der Schwelle zum Neuen Jahr

Predigttext: Johannes 8,31-36
Kirche / Ort: Heidelberg
Datum: 31.12.2012
Kirchenjahr: Altjahresabend
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Johannes 8,31-36 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger  32 und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.  33 Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?  34 Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.  35 Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig.  36 Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.

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Altjahresabend, letzter Tag des alten Jahres, Tag der Wende vom alten zum Neuen Jahr. Zeit der Bilanzen im persönlichen wie im öffentlichen gesellschaftlichen Leben. Bei solchen Bilanzen ist Ehrlichkeit gefragt, die Bereitschaft, der Wahrheit ins Auge zu sehen, und der Mut, die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Besinnung und Nachdenklichkeit sind an der Schwelle zum Neuen Jahr angebracht. Die Liturgie des Gottesdienstes zum Altjahresabend ist darauf besonders ausgerichtet. Das heißt auch, dass die Dankbarkeit für so manches Gute, das wir in diesem Jahr erfahren haben, bedacht werden darf. “Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat”, heißt es im 103. Psalm. Grund zur Dankbarkeit haben wir auch, weil Gott heute Abend zu uns reden möchte. Gott redet mit uns durch das Wort der Heiligen Schrift, er kommt zu uns heute wie damals im Wort seiner Boten, der Männer und Frauen, die seinem Ruf folgen, und für die christliche Gemeinde besonders im Wort Jesu, auf das zu hören uns das heutige Predigtwort aus dem Johannesevangelium einlädt.

(Lesung des Predigttextes)

“Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort”, sagt Jesus, “so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.” Aus dem Zusammenhang dieser Worte erfahren wir, dass Jesus hier zu den Juden, die an ihn glaubten, spricht. Jesus wendet sich hier also nicht mit universalem Anspruch an die große weite Welt, sondern eher bescheiden an einen kleinen Kreis von Menschen in seiner vertrauten Umgebung. Vom Bleiben an seinem Wort, vom Erkennen der Wahrheit und von der wirklichen Freiheit als Folge dieser Erkenntnis spricht Jesus. Was hält uns zu bleiben, so möchten wir vielleicht den großen Worten Jesu fragend entgegenhalten, was ist Wahrheit (so hat schon Pilatus gefragt), und wie frei bin ich wirklich? Ist für den einen Menschen nicht dies und für den anderen das Wahrheit und Freiheit? Der Glaube und das existenzielle Fragen nach Wahrheit sind in der Bibel gar nicht so weit auseinander, wie gewöhnlich angenommen wird, sie gehören vielmehr zusammen. Realistisch erscheint die Aussage jenes Vaters eines kranken Kindes, für das er Hilfe bei Jesus sucht: “Ich glaube; hilf meinem Unglauben” (Markus 9, 24).

Jesus ruft zum Bleiben an seinem Wort auf. Solches Bleiben schafft Verbindung und stärkt. Jesu Jüngerschaft ist eine Gemeinschaft von “Lernenden”, dies bedeutet das griechische Wort “mathaetaes” im Urtext, das Martin Luther mit “Jünger” übersetzte. Ich möchte ein lernender Mensch bleiben – in Kirche und Gesellschaft ebenso wie in meinem ganz persönlichen vertrauten Lebensbereich. Es geht Jesus um ein Lernen, ein Auseinandersetzen, das in eine immer tiefere Beziehung zu Gott führt, es ist im eigentlichen umfassenden Sinn ein “Lernen für das Leben”. Die Wahrheit, die zu erkennen Jesus uns verspricht, wenn wir an seinem Wort bleiben, öffnet uns die Augen für das wahre Leben, das keine Unwahrhaftigkeit und Unfreiheit erträgt. Es ist eine Wahrheit, die sich in der Beziehung gestaltet, in der Beziehung mit Gott und den Menschen. Sie hat mit Gemeinschaft, Liebe, Einander-gerecht-werden, und mit Friede zu tun. Die Wahrheit bedarf auch stets neuer Verständigung. Die Wahrheitsfindung, von der Jesus spricht, ist ein Prozess, ein lebenslanger Prozess, ein “Kommunikationsprozess“, „und die Wahrheit wird uns frei machen” (Johannes 8, 31).

In der vermeintlichen Unabhängigkeit von Gott und dem Wort Jesu, das auf Gott hinweist, sieht die Bibel die Gefahr einer inneren Leere, die negativen Einflüssen leicht Raum gibt. Die Bibel redet in diesem Zusammenhang von “Sünde”, womit sie die tiefe Trennung von Gott meint, dem Ursprung, der Mitte, dem “wahren Leben”. Die Gottesferne, das Beharren in sich, die Bewegungslosigkeit, ist die eigentliche Ursünde, das „Verplantsein“ des Menschen an sich selber – Martin Luther redet von dem “in sich selbst gewundenen Menschen”, von dem Menschen, der an sich selbst gebunden und unfrei für den anderen Mensch ist. Seine vermeintliche Freiheit ist in Wahrheit “Knechtschaft” (Johannes 8, 33 – 35). “Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort…”, sagt Jesus. An welchem Wort? Doch zunächst an dem, das er gerade spricht. Es ist das Wort über seinen Auftrag, mit dem er sich von Gott gesandt weiß. Das Wort, das die Menschen in Verbindung mit Gott, in die ursprüngliche Gottesbeziehung hineinholen möchte. Das Wort, das an die Geschichte seines Volkes mit Gott erinnert, zum Beispiel – wie in unserem Predigtwort – an die Geschichte Abrahams und Gottes Weg mit ihm. Nicht zuletzt das Wort der Gebote, der “Thora”, der “guten Weisung(en)”, die den Mensch helfen wollen, einander gerecht zu werden, ihr Leben in der Beziehung mit Gott und dem Nächsten zu gestalten. Exemplarisch stehen dafür die Zehn Gebote und in Entsprechung zu ihnen die Bergpredigt Jesu.

Diese in ihrer Bedeutung nicht zu übertreffenden biblischen Texte mit ihrer humanen Ethik, die wir im dritten Jahrtausend nach Christus so dringend brauchen, sprechen von einem Gott, der durch und durch Liebe ist. “Gott ist Liebe”, so steht es im1. Johannesbrief (4, 16). Die Aspekte biblischer Gottesvorstellung sind von der Menschen- und schöpfungsfreundlichen Liebe geprägt, dazu gehören der Glaube im Sinne des Vertrauens auf Gott und die Hoffnung. Vom Dreiklang “Glaube, Liebe, Hoffnung” spricht der Apostel Paulus. Diese Gesichtspunkte können helfen, uns sachlich mit den fanatischen und menschenfeindlichen Gottesbildern auseinanderzusetzen. Aus den Zehn Geboten greife ich zwei heraus. Das fünfte Gebot: “Du sollst nicht töten” – hören wir dazu die Auslegung Martin Luthers: “Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an Leib und Leben keinen Schaden tun, ihn nicht beleidigen und gar hassen, sondern ihm willig helfen in aller Not und Gefahr und in jeder Zeit mit Liebe begegnen”. Und das 8. Gebot: “Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten”. Martin Luther erklärt dieses Gebot so: “Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht belügen oder verleumden, sondern jederzeit die Wahrheit reden und des Nächsten Ehre und guten Namen retten und bewahren”. Welch sinnvolle Perspektiven für unsere Wege im Neuen Jahr.

Unser Vertrauen auf menschliche Kraft und Möglichkeiten ist gewiss begrenzt. Umso mehr sind wir als Christen aufgerufen, im Namen Jesu Gott darum zu bitten, dass sich seine Wahrheit durchsetzt und wir seine Boten sein können. “Am Wort Jesu bleiben” bedeutet für uns heute, dass wir uns auch im Neuen Jahr zu den Gottesdiensten versammeln und dort auf die Verkündigung des Wortes Gottes hören, darüber ins Gespräch kommen und uns von den Sakramenten stärken lassen. So sind wir Jesu Jünger und Jüngerinnen, “Lernende” und auf dem Weg zu einer Wahrheit, die uns frei macht. So sind wir wirklich frei.

 

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