Ein Selfie ist schnell gemacht und eine schöne Erinnerung: Annika vor dem Karlsruher Schloß, Christine vor dem Bismarckturm in Ettlingen, Christoph vor dem Weißen Haus in Washington. Solange der Akku nicht leergelaufen ist, genügen zwei oder dreimal Wischen und Tippen auf den Bildschirm, dann können alle Freunde das gepostete Bild sofort auf Instagram oder Facebook sehen. Und sie wissen dann: Ich bin da gewesen, mir hat es gefallen. Gute Laune habe ich auch. Alles gut, alles in Ordnung. Mir gefällt’s.
Selfies sind eine beiläufige Selbstverständlichkeit geworden, die sich Menschen früherer Zeiten nicht im Traum vorstellen konnten. Selfies zeigen Bilder junger Menschen, und die Predigtgeschichte des Propheten Jesaja zeigt das Bild eines Menschen. Mit Jesaja denken wir über Menschenbilder nach, über das, was einen Menschen zu unverwechselbaren Person mit Würde, Talenten und Fehlern macht. Den Anfang macht die unbekannte Frau eines bekannten Malers, es folgt der ängstliche Prophet Jesaja, und die letzten Überlegungen gelten uns selbst, die wir heute Morgen in dieser Kirche Gottesdienst feiern.
In Brügge, der von Mittelalter und Renaissance geprägten Hafen- und Handelsstadt in Belgien, hängt im Groeningemuseum ein auf den ersten Blick sehr unscheinbares Ölbild. Wenn Besucher das Museum betreten, übersehen sie schnell neben großformatigen und großartigen Bildern alter flämischer Meister das winzige Porträt einer Frau. Es zeigt ihr Gesicht, den Kopf, den Hals, den Ansatz der Schultern, mehr nicht. Der Hintergrund ist ganz einfarbig gehalten. Das Bild zeigt die Ehefrau des Malers Jan van Eyck, entstanden Anfang des 15.Jahrhunderts. Es ist das einzige Porträt, das van Eyck von seiner Frau gemalt hat, sonst hat er neben Heiligen und biblischen Figuren fromme Kardinäle, reiche Kaufleute, Politiker, Fürsten und Adlige dargestellt. Männer, die hohe Honorare bezahlen konnten.
Das Bild der Frau erstaunt durch seine große Genauigkeit. Man hat den Eindruck: Es fehlt kein Detail. Der sorgfältig malende Ehemann hat sie nicht verschönert, nicht typisiert, nicht karikiert. Van Eyck war so etwas wie ein Photograph unter den Malern, nur daß damals niemand Photographien kannte und darum auch nicht vergleichen konnte. Andere Porträt-Bilder dieser Zeit zeigen neben den Porträtierten eine Madonna, verehrte Heilige, oft auch eine idyllische Landschaft oder ein Stadtbild im Hintergrund. Das Porträt van Eycks zeigt nur diese eine Frau. Nichts lenkt von ihr ab.
Van Eyck war einer der ersten, der so malte. Porträtmalerei, wie sie in der Renaissance entwickelt wurde, zeigt zum ersten Mal einzelne Menschen, Darstellungen, die weder abstrakt, noch verallgemeinert, noch vergröbert sind. Nicht den Menschen als Typ, als Gattung, als Exemplar, sondern einen ganz bestimmten Menschen, unverwechselbar, mit eigener Würde, mit seinem Namen, mit seinem Aussehen, mit seiner Persönlichkeit. Und dieser eine Mensch, in diesem Fall: diese Frau unterschied sich von allen anderen Menschen.
Van Eyck nahm die Menschen, seine Frau genauso wie die Kardinäle als einzelne ernst, als Personen, die einen bestimmten Namen tragen. Der Maler gab sich größte Mühe, eine Person so genau wie möglich wiederzugeben, mit allen Stärken und Schwächen seines Aussehens. In Genauigkeit ließ er sich auch nicht von hohem Honorar beirren. Wir wissen von einigen Renaissance-Kardinälen, dass sie es gerne hatten, wenn sie auf ihren Porträts imponierender aussahen als in Wirklichkeit.
Ein Menschenbild des Malers van Eyck ist immer das Bild eines bestimmten Menschen, einer Person, eines einzelnen, eines Individuums. Nun gilt: Das aufwendig herzustellende Porträt im 15.Jahrhundert und ein schnell geschossenes Selfie im 21.Jahrhundert beantworten dieselbe Fragen: Was ist das für ein Mensch? Welche Besonderheiten zeichnen ihn aus? Welchen Geschichte bringt dieser Mensch mit? Die Fragen finden sich verdichtet schon in der Bibel, im 8.Psalms „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“
Man kann diese Frage mit einer Definition des Menschen beantworten. Man kann diese Frage beantworten, indem man beschreibt, was alle Menschen gemeinsam haben. Das ist Sache der Anthropologie, der Biologie, der Medizin, der Philosophie, auch der Theologie. Man kann diese Frage aber auch beantworten, indem man Menschen als einzelne porträtiert. Im wissenschaftlichen Fall bestimmen die Gemeinsamkeiten die Antwort, im persönlichen Fall die Unterschiede. Das allgemeine Menschenbild zeigt den Menschen. Es beschreibt, was alle Menschen miteinander teilen. Das besondere Menschenbild, das Porträt zeigt einen bestimmten Menschen. Es beschreibt, was eine Person von allen anderen Menschen unterscheidet. Zwischen beiden Antworten besteht eine Beziehung.
Bildern eignet nun immer ein Moment des Statischen. Sie fangen nur eine Momentaufnahme ein. Das ist ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche. Gelungene Porträts lassen etwas von der Lebensgeschichte ahnen, die sich hinter dem Gesicht eines Menschen verbirgt. Leben und Erinnerungen machen einen Menschen zu einer besonderen Person. Die Bibel enthält eine ganze Reihe solcher besonderen Lebensgeschichten. Sie verbinden sich mit Namen verbunden, die Sie alle kennen: Abraham, Sarah, Hiob, Mirjam, Aaron, Elia, Elias, Joseph, Jesus von Nazareth. All diese biblischen Lebensgeschichten haben durch die in ihnen aufbewahrten Erfahrungen, Weisheiten und Gefühle das Bild vom Menschen unendlich bereichert. Denn biblische Lebensgeschichten legen stets eine besondere Spur: Sie zeigen ohne Ausnahme Menschen in ihrer Beziehung zu Gott. Er hat sie angenommen und begleitet, in seiner Barmherzigkeit wie auch in seinem Zorn.
Diese Beziehung zu Gott läßt sich in einem gemalten Porträt oder in einem fotografierten Selfie nur indirekt darstellen.
Ein Mensch ist dadurch ausgezeichnet, daß Gott ihn annimmt. Das macht seine Besonderheit und seine Unverwechselbarkeit aus. Und Gott erinnert sich keineswegs nur an den Menschen allgemein, an den Menschen als Gattung. Er erinnert sich an jeden einzelnen Menschen. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, heißt es bei Deutero-Jesaja. Wortwörtlich erfährt das der erste Jesaja, der Prophet in der Geschichte von seiner Berufung. Die Geschichte enthält ein Porträt Jesajas, das Porträt eines unauffälligen, ängstlichen Menschen, der den Ruf Gottes hört und annimmt . Jesaja unterscheidet sich von allen anderen Menschen darin, dass ihn Gott zum Propheten berufen hat.
Jesaja selbst erzählt seine Berufungsgeschichte in einer Reihe großartiger Bilder: Thron und Tempel, Scharen von Engeln, Feuer, Kohlen und Rauch. Ob das so geschehen ist oder nicht, diese Frage reicht nicht an die tiefere Wahrheit dieser Geschichte heran. Die Bilder entfalten ihre Kraft daraus, daß sie die Ungeheuerlichkeit der Begegnung eines Menschen mit Gott mit allen drastischen Farben und prägnanten Symbolen ausmalen. Die Vision des Jesaja bekommt in der Erzählung einen bestimmten historischen Ort: das Jahr, als der König Usija starb, im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt. Gott wird vorgestellt als ein König, der auf einem Thron sitzt und regiert. Der Saum seines Mantels reicht aus dem Himmel hinunter bis auf den Tempel von Jerusalem.
Das Entscheidende an diesem Bild ist nicht seine „Wirklichkeit“. Entscheidend ist vielmehr: Gott ist groß, erhaben, unnahbar, so erhaben, daß sterbliche Menschen ihn nicht einfach anblicken oder sich ihm nähern können. Wie die Menschen nicht direkt in die Sonne blicken können, ohne geblendet den Blick abzuwenden, so können sie auch nicht direkt auf das Angesicht Gottes blicken. „Kein Mensch hat Gott je gesehen“, heißt es mehrfach in der Bibel. Deswegen verbergen die Engel, Seraphim genannt, ihr Gesicht und die Gestalt Gottes. Die Engel haben daneben noch eine zweite Aufgabe als Verkünder: Die Erhabenheit Gott wird bedeckt, sie ist nicht zu sehen, aber sie ist zu hören. Und dafür sorgen die Seraphim mit ihrem Rufen: „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Dieser Jubelruf erklingt noch heute in jedem Gottesdienst mit einer Abendmahlsfeier. Gleich am Anfang singt die Gemeinde dieses dreifache Heilig, ein Zeichen von Gottes Erhabenheit, einer der feierlichsten Momente des Gottesdienstes.
Die visionären Bilder, so wie sie sich Jesaja darstellen, kann er zuerst nicht ertragen. Er fühlt sich als sterblicher, fehlbarer, unwürdiger Mensch. Er kommt zu Gott mit einer Geschichte aus Fehlern, Unzulänglichkeit und Scheitern. Im Angesicht Gottes wird das sichtbar, transparent. Darum braucht Jesaja, um den Anblick Gottes ertragen zu können, erst noch ein Ritual der Reinigung: Einer der Seraphim-Engel berührt den Mund Jesajas mit einem Stück glühender Kohle. Das Feuer brennt die Schuld hinweg, so wie in der Taufe Wasser die Sünde abwäscht. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung: Kein Mensch kann Gott gegenübertreten, wenn er sich schuldig gemacht hat.
Kein Mensch kann Gott gegenübertreten, wenn er eine Lebensgeschichte mit sich bringt, die ihn von Gott abgelenkt hat und noch ablenkt. Diese Lebensgeschichte kann niemand, auch Jesaja nicht, aus eigener Kraft überwinden. Nur Gott kann Vergebung gewähren. Und in Jesajas Vision gestaltet sich dieser Akt der Vergebung als Reinigungsritual mit glühenden Kohlen.
Fehlbare Menschen können die Distanz zu Gott nicht von sich aus aufheben. Niemand kann sich einen Gott schaffen, der stets billigt, was die Menschen tun. Gott entspricht nicht einfach allen Wünschen der getriebenen Menschen. Nicht die Menschen gehen darum auf Gott zu, sondern umgekehrt: Gott kommt auf jeden einzelnen sündigen Menschen zu. Das ist das Ungeheuerliche dieser Geschichte von Jesajas Berufung. Erst nachdem dieses Reinigungsritual vorüber ist, beginnt das eigentliche Geschehen, die Berufung zum Propheten. Gott hat einen Auftrag zu vergeben. Er fragt: Wen soll ich schicken? Und der von Sünde und Schuld gereinigte Jesaja meldet sich: Da bin ich.
Gott gibt Jesaja einen Auftrag. Er soll zum Volk Israel über dessen Verstockung sprechen. Er soll eigentlich das Gegenteil tun, was man von einem Propheten Gottes erwarten würde. Statt Hilfe anzukündigen soll er sagen: Ihr sollt nicht hören! Ihr sollt nicht sehen! Ihr sollt nicht verstehen! Ihr sollt es nicht merken! Jesaja gestattet sich eine bange klingende Zwischenfrage: Wie lange soll ich das tun? Gott sagt: So lange sollst du das tun, bis das Land völlig verlassen ist. In Gottes Antwort ist nur wenig an Gnade und Barmherzigkeit spüren. Gott beauftragt also Jesaja mit einer Botschaft, die nur Unheil für die Menschen bereithält? Die Berufungsgeschichte scheint das nahezulegen. Ist Gott darum für uns Menschen ein ungerechter, böser Gott? Das ist ein entscheidender Punkt für die Predigt: Ich bin zutiefst überzeugt, daß er das nicht ist, sonst würde ich hier nicht als Prediger stehen. Zum Schluß will ich drei Indizien nennen, warum ich vom Gegenteil überzeugt bin.
Diese Berufungsgeschichte Jesajas ist zu lesen als der Versuch, die Menschen davon abzuhalten, sich ihren eigenen Gott zu basteln. die Botschaft zu vermitteln: Macht es euch mit Gott nicht zu einfach. Erliegt nicht der Gefahr, euch einen lieben Gott zu denken, der doch eure Wünsche und Sehnsüchte spiegelt. Zweitens: Wir wissen aus der Bibel sehr viel, was Jesaja den Menschen in Israel gesagt hat: Es war nicht nur Unheilsprophezeiung, am Ende haben Gnade und Barmherzigkeit alles Unheil immer übertroffen. Und das Dritte: Selbst in der Berufungsgeschichte des Jesaja ist am Ende noch von dem Baumstumpf die Rede, aus dem ein „heiliger Same“ sprießen kann. Die meisten Ausleger halten das für einen späteren Eintrag, mit dem Zweck eingeschrieben, die Schroffheit und Drastik des ursprünglichen Prophetenauftrags abzumildern. Trotzdem bleibt das stehen: Bei Gott kann und wird sich Zorn in Barmherzigkeit verwandeln.
Für mich ist entscheidend: Die Begegnung mit Gott macht den Menschen erst zu einem Menschen, zu einem höchst besonderen Individuum. Sie gibt seiner Lebensgeschichte eine besondere Dimension, sie zeichnet diese Lebensgeschichte ein in die Geschichte Gottes. Das gilt für Jesaja. Das gilt für die Ehefrau Jan van Eycks. Das gilt für jeden Menschen, den Gott bei seinem Namen gerufen hat. Amen. Dr.Wolfgang Vögele, Erzbergerstr.98, 76133 Karlsruhe, wolfgangvoegele1@googlemail.com, www.wolfgangvoegele.wordpress.com