Vor 26 Jahren haben mein Mann und ich ein älteres Haus gekauft. Eigentlich sollte es uns leer übergeben werden, aber wie es dann so kommt, fanden wir noch etliche Hinterlassenschaften der Vorbesitzer. Manches war schlicht liegengelassen worden, manches vergessen, anderes lag verborgen in den Winkeln auf dem Dachboden. Zu meiner großen Überraschung und Verwunderung fand ich dort auch ein Kruzifix aus Metall. Das Kruzifix war so eines von der Sorte, wie es bei uns früher auf dem Land auf Grabkreuzen angebracht wurde. Auf dem Kreuz, das dem Sarg vorangetragen wird bis zum Grab, wird es aufgerichtet, bis nach ungefähr einem Jahr der endgültige Grabstein gesetzt wird. So lange stehen der Name des oder der Verstorbenen provisorisch auf dem Grabkreuz, darüber oder darunter das Kruzifix als Zeichen des Glaubens der Verstorbenen.
Offenbar stammte das Kruzifix von solch einem Grabkreuz. Irgendein früherer Besitzer des Hauses war also verstorben und hatte inzwischen den Grabstein bekommen. Doch wohin mit dem Kreuz, gar dem Kruzifix darauf? Das Holz hatte man längst entsorgt, die metallene Jesusfigur aber nicht, sondern als fromme Menschen für die Nachkommen aufbewahrt. Aber irgendwann war die Figur doch vergessen worden und landete auf dem Dachboden. Sie hatte sehr gelitten, vielleicht war sie deshalb auf den Dachboden verbannt worden: Die Arme waren dünn geworden, abgebrochen und auch die am Kreuz durchbohrten Füße lagen verstreut daneben. Mich erinnerte die nahezu zerstörte Figur an Kriegstrümmer. In wievielen Kirchen waren Altarkreuze zerstört oder verbrannt worden!
Selbstverständlich konnten mein Mann und ich die Reste des Kruzifixes nicht in den Müll werfen. Nein, es war uns heilig und Heiliges ist kein Müll, egal in welchem Zustand! Sorgfältig hob ich die Trümmer vom Boden auf, sammelte sie in einer Tüte. Jesus hatte, so schien mir das Symbol, mehr als einmal gelitten: Am Kreuz und nun als Trümmerbild! Die Teile zu kleben kam mir nicht in den Sinn, denn das Metall war dünn und brüchig, also blieb es ein Mahnmal. Denn das war es: Christus besaß keine Arme, keine Füße mehr. Wer oder was kann sie ersetzen? Ein mahnendes Sinnbild! Christus, der das Leid und den Tod der Menschen vollkommen auf sich genommen hatte, hatte uns die Ohnmacht Gottes gezeigt, sein Mitleiden, weil er das Leid der Welt nicht scheut, sondern ganz und vollständig mit hineingegangen ist, für uns, vor uns und mit uns. Mir kam ein Gebet aus der ersten Zeit nach dem 2. Weltkrieg in den Sinn, als unter anderem die Marienschwestern in Darmstadt und auch fromme Brüder im zerstörten Kloster von Echternach / Luxemburg Jesusdarstellungen ohne Hände und Füße im Kriegsschutt fanden und schrieben:
Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Christus hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen, Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen auf seine Seite zu bringen. - In mancherlei Variationen ist dieses Gebet unter den Christenmenschen auf dieser Erde verbreitet. Jedes zerstörte, angebrannte oder zerbrochene Andachtsbild, ob alt oder frisch zerschlagen, ermahnt uns, seine Nachfolgerinnen und Nachfolger. Der zweimal gebrochene Jesus sollte uns erschrecken, aber uns auch ermahnen, die Gaben, die wir von Gott erhalten haben, in seinem Sinne einzusetzen.
Wie oft fragen Menschen, gerade in den Zeiten äußersten Leides wie dem Krieg: „Wie konnte Gott das zulassen?“ Diese Anklage gegen Gott aber geht in die falsche Richtung: Es sind Menschen, die Kriege anzetteln, nicht Gott. Es sind Menschen, die andere mit schrecklichem Leid überziehen, nicht Gott. Es geht um unsere Verantwortlichkeit, im Sinne Jesu auf dieser Welt tätig zu werden!
Wir hörten die Geschichte von der Aussendung der Jünger, die im Geste Jesu genau das tun sollen, was Jesus selbst tut: Heilend und segnend in seiner Nachfolge tätig werden! Denn genau das erwartet Jesus von uns, nicht nur von den frommen Jüngern und Jüngerinnen damals. Wir können es uns wirklich gut vorstellen, wie es damals in Galiläa und Judäa gewesen sein mag. Zwar gab es keinen Krieg oder andere Katastrophen, aber Menschen in schwerer sozialer Not gab es, Kranke, Leidende, Verzweifelte. Es waren nicht die reichen Leute, die sich Ärzte und Heilmittel leisten konnten, die in großer Zahl zu Jesus strömten, sondern die Armen. Sie waren glücklich, endlich gehört und „wahr“-genommen zu werden.
Jesus heilt, er segnet, er tut Wunder über Wunder, sieht und handelt nach der Not der Menschen. Jesus liebt die Menschen. Sie sind ihm wichtig. Ein schönes Wort folgt: „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn“. Jesus leidet mit seinem Volk und hilft ihm. Manchmal wird es ihm auch zuviel. Hin und wieder braucht er Ruhe, wenn die Hilfesuchenden ihn zu sehr bedrängen. Doch er will die Not der Menschen lindern. Sie sollen den Anbruch des Reiches Gottes spüren. Immer mehr Menschen kommen, die Jesus brauchen. Darum braucht Jesus Helfer und Helferinnen. Damals sandte Jesus zunächst die Zwölf aus, später folgen ihm viele, die sein Werk weiter tun.
Die Bruchstücke des zerstörten Kruzifix habe ich oft mit zu „Geistlichen Tagen“ genommen. Vorsichtig hatte ich sie in ein Tuch gewickelt, damit sie nicht noch mehr Schaden nehmen. Doch mit den Jahren bröckelte immer mehr von dem Metall ab. Aber die Wirkung war jedes Mal groß, wenn ich das Kreuz auspackte und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer großen diakonischen Einrichtung der Johannes-Diakoniie zeigte. Groß auch zunächst der Schrecken, wenn sie das Sinnbild des zweifachen Leids erkannten. Zusammen mit dem Gebet war dieses Kruzifix eine Bestätigung unseres Auftrags. Es ist Aufgabe und Ehre zugleich, sich von Jesus selbst auf den Weg geschickt zu sehen.
Bis heute gibt es Menschen, die sich von Jesus ausgesandt sehen. So werden sie seine Hände, Füße, seine Lippen und in allem, was wir sind und haben, seine Hilfe. Ich danke Gott für den Segen der in der Kranken- und Altenpflege Tätigen, den Mitarbeitenden in den Sozialstationen, den Streetworkern und Streetworkerinnen an den Brennpunkten der Großstädte. Ich danke für die Sozialarbeiter und -arbeiterinnen, die in Arbeitslosentreffs Menschen Mut und Würde geben. Ich danke für die ehrenamtlich Tätigen, die in der Arbeit mit Geflüchteten Großartiges leisten. Es gibt so Viele, denen ich Gott danken möchte und für ihre Arbeit bete. Jesus sendet auch uns hier und heute, seinen Frieden in die Welt zu bringen. Ein bedeutender Vordenker im Jüdisch-Christlichen Dialog, Schalom Ben Chorin, schrieb:
Wer Frieden sucht, wird den anderen suchen
wird zuhören lernen
wird das Vergeben üben
wird das Verdammen aufgeben
wird vorgefasste Meinungen zurücklassen
wird das Wagnis eingehen
wird an die Änderung des Menschen glauben
wird Hoffnung wecken
wird den anderen entgegen gehen
wird zu seiner eigenen Schuld stehen
wird geduldig dranbleiben
wird selber den Frieden leben
Suchen wir Frieden?