Bewunderung, Staunen und Ehrfurcht
Expeditionen zu Flügelschlag und Blütenpracht - Glaubensweisheiten entwickeln
Predigttext | Matthäus 6,25-34 |
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Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 08.09.2024 |
Kirchenjahr: | 15. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Pfarrer Professor Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Matthäus 6,25-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
(Christus spricht): Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Es ist sehr merkwürdig: Spaziergängerinnen oder Jogger, die durch den Wald oder den Park laufen, verschließen sich oft gegen das, was sie sehen und hören könnten.
I
Der Jogger sieht weder Eichenlaub noch Spatzenschwärme, sein Blick ist starr auf den Bildschirm des Smartphones gerichtet. Und kein Vogelzwitschern dringt durch die dämpfenden Kissen der Kopfhörer. Mit einer zusätzlichen Powerbank in der Hosentasche ist die Standleitung ins Internet sichergestellt. Die Natur bleibt sichtbar, aber kein Handynutzer nimmt sie wahr. So vieles Staunenswerte geht verloren: das Orange des Sonnenuntergangs, die Wolkenformationen, die prallen Äpfel im Herbst, der Gesang der Amseln. Wer das Handy beim Abendspaziergang oder der Laufrunde zu Hause läßt, der kann in Bewegung eine Vielzahl von Entdeckungen machen. Dafür muß niemand in der Nacht aufstehen, um sich in der Morgendämmerung mit dicken Ferngläsern auf die Lauer zu legen. Dahinter steckt mehr als Alltagskulturkritik. Jesus hat Vögel beobachtet und daraus Glaubensweisheiten entwickelt.
Jeder Spaziergänger kann, wenn er aufs Feld kommt, die Krähen beobachten: Sie registrieren ganz genau, wer ihnen entgegenkommt. Die schwarzen Vögel halten zu Spaziergängern stets einen Sicherheitsabstand. Spatzenschwärme sind da frecher, sie picken schon einmal die Tortenkrümel vom leer gegessenen Teller. Und für die Touristen, die sich am Strand ein Lachsbrötchen gekauft haben, kann es gefährlich werden: Gelegentlich stürzen sich kreischende Möwen auf sie und schnappen nach dem Brötchenbelag.
Auch die Joggerin, die frühmorgens auf ihre Runde entlang der Streuobstwiesen gestartet ist, wird einmal zusammenzucken, wenn ein Raubvogel, der sich gestört fühlt, von hinten über ihre Schulter hinwegfliegt. Der Raubvogel fliegt einen Scheinangriff, weil er sein Revier verteidigen will. Vögel in der Fußgängerzone und am Stadtrand lösen bei Passanten Mißtrauen, Abscheu oder Bewunderung aus. Wir beäugen die schwarzen Krähenschwärme mißtrauisch, bewundern aber den eleganten Flug der Starenschwärme im Abendlicht. Wenn ein Storchenpaar auf dem Kamin im Haus nebenan ein Nest baut und dann verliebt klappert, fühlen sich die Nachbarn gegenüber glücklich und gesegnet, dafür stören sich viele Einkäufer an den allgegenwärtigen und frechen Tauben in der Fußgängerzone.
Manche Vögel sind selten und scheu, darum schwer zu beobachten, darunter der Reiher, der manchmal im flachen Wasser des Baches steht, der Eisvogel, der noch scheuer ist, der Kuckuck, dessen volksliedträchtigen Ruf jeder Waldspaziergänger hören kann, wenn er denn die Kopfhörer abgenommen hat. Aber auch ohne Kopfhörer hat kaum jemand schon einen Kuckuck oder Specht gesehen. Kanarienvögel oder Wellensittichpärchen müssen ihre Tage oft im Käfig verbringen, genauso Papageien, die allerdings keine großen Flieger sind. Wer Augen und Ohren täglich öffnet, kommt an flatternden und fliegenden Vögeln nicht vorbei. Wie von selbst richtet sich der gesenkte Blick auf die Krone der Buche oder gleich in die Weiten des Wolkenhimmels. Und Jesus selbst läßt seine Weisheit sprühen, damit wir uns darüber ein paar Gedanken machen.
II
Bevor ich darauf komme, noch ein paar Beobachtungen über Lilien und andere Blumen. Nach der Bergpredigt lohnt es sich, den Blick genauso aufmerksam wie in die Wolken nach unten auf Gebüsch und Beete zu richten. Im August, sind die Lilien, die in diesem Jahr wunderschön im Mai geblüht haben, nicht mehr schön anzusehen. Die Blüten sind abgefallen, Blätter und Stängel sind trocken und rissig geworden. Aber ich bin überzeugt, Sie kennen wie ich zwei oder drei Stellen, einen Garten oder einen Park, an denen jedes Jahr im Frühsommer große Mengen Lilien wachsen. Und Sie gehen wie ich während der kurzen Blüte zwei- oder dreimal dorthin, um Eleganz und Schönheit dieser Blumen zu bestaunen.
Genauso kenne ich zwei kleine Felder mit Lavendel, auf deren Blüte ich jedes Jahr sehnsüchtig warte. Und es blühen ja nicht nur Blumen, sondern auch Bäume. Ich habe eine Reihenfolge des Blütenjahres vor Augen: weiße Schneeglöckchen, violetter Krokus, Blausternchen, weißrosa Magnolien, Kirschen- und Apfelblüten, Rhododendron, Maiglöckchen, Lilien, Linden, schließlich gelbe Sonnenblumen im Spätsommer. Ich muß gestehen, ich schaue mir sehr gern Blüten und Blütenmeere an. Ich gehe gerne in Gärten und Parks, um Blumenbeete zu bewundern, aber zum Gärtner hat mich das nicht gemacht. Mir fehlt die Geduld, um zu warten, bis die Blütenstände sich öffnen. Es geht auch nicht um Gärtnerei, Vogelkunde oder Botanik. Am wichtigsten ist das Staunen.
Es reicht aus, genau hinzuschauen, auf die Vögel im Himmel und die Blumen am Boden zu achten. Wie von selbst lenkt der Blick auf Vögel und Blüten von den eigenen Sorgen ab und öffnet dem Ich einen einfachen Weg zu Bewunderung, Staunen und Ehrfurcht – für die Anmut der Blumen und die Eleganz der fliegenden, jagenden und Nester bauenden Vögel. Schwalben und Sonnenblumen machen einen Sommer.
Ja, der Blick auf Vögel und Blüten weitet das Herz für die Schönheit der gesamten Schöpfung, obwohl jeder weiß, daß zu jeder Lilienblüte auch ein invasiver Riesenbärenklau gehört, der sich mit Hilfe seiner Giftstoffe ausbreitet und bei Menschen, die ihn berühren, Verbrennungen und Allergien auslösen kann. Niemand freut sich über Tigermücken, Feuerameisen und asiatische Hornissen, die sich invasiv in Wäldern und auf Wiesen ausbreiten. Spaziergänger hüten sich vor Mücken- und Wespenstichen sowie vor Zeckenbissen.
Und jeder weiß auch, daß die Natur nicht nach dem Vorbild des geordneten Gartens Eden aufgebaut ist. Hungrige Wölfe und Bären, die Schafe reißen oder gar Menschen anfallen, geraten ungewollt in die Schlagzeilen von Boulevardzeitungen. Schöpfung ist nicht nur schön. In der Natur herrscht der Kampf aller gegen aller, es geht um Fressen und Gefressenwerden. Umso ungewöhnlicher erscheint dann die gesprenkelte weiße Lilienblüte oder das bunt schillernde Gefieder eines Eisvogels. Natürliche Schönheit, die achtsame Spaziergänger entdecken, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein erstaunliches, bemerkenswertes Wunder. Smartphone, Earphones und getönte Sonnenbrillen stören da nur.
III
Ich habe mich deshalb so lange beim Beobachten von Vögeln und Blüten aufgehalten, weil es leider üblich geworden ist, in der Bergpredigt eine Sammlung politischer Parolen zu sehen und mit ihrer Hilfe einen rechthaberischen, protestantischen „Aktivismus“ zu rechtfertigen. Dieser ist zwar in der politischen Öffentlichkeit einfach zu handhaben, weil er die komplizierte Welt auf wenige simple Schwarz-Weiß-Schemata bringt.
Aber die genaue Lektüre der Bergpredigt zeigt wenig von Rechthaberei und Politik. Sie zeigt um so mehr von dem, was der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker „intelligente Feindesliebe“ genannt hat. Und sie zeigt noch mehr von dem, was schon in der hebräischen Bibel Weisheit heißt. Was die Politik und den Frieden angeht: Niemand braucht eine Anleitung zum Rechthaben, letzteres stellt sich in der Regel von selbst ein. In dieser Predigt will ich darauf nicht weiter eingehen. Ich weiß, es wäre töricht, die Politik zu unterschätzen und ihre tiefe Zweideutigkeit zu ignorieren. Auch Christen sollen sich politisch engagieren. Aber ein Protestantismus, der nur auf Politik zielt, verfehlt auch sein Ziel. Und er verfehlt seinen Ursprung, denn schon Jesus selbst läßt sich nicht auf eine politische Botschaft reduzieren.
In der Bergpredigt verkündet Jesus neben Feindesliebe und Gerechtigkeit für die Armen auch eine Anleitung für das tägliche Leben: Es besteht die Gefahr, sich in Ablenkungen (Handy), Zerstreuungen (Glotze) und Routinen (Langeweile) zu verlieren. Dafür entwickelt Jesus von Nazareth in der Bergpredigt ein einfaches Gegenmittel, obwohl er weder Headsets noch Flachbildschirme kannte. Die Betonung liegt auf dem einfachen Gegenmittel. Denn Jesus empfiehlt nicht komplizierte Glaubensgymnastik oder politische Rechthaberei, keine intellektuellen oder theologischen Etüden und Fingerübungen. Jesu Ratschläge sind ganz einfach umzusetzen.
Jesus von Nazareth empfiehlt regelmäßiges Glaubenstraining, um an Geist und Körper im Glauben gesund zu bleiben. Er gibt drei Ratschläge, die sich alle Nachfolger der Bergpredigt in einem gelben Post-it auf den Kühlschrank kleben können:
1. Schaut auf die Vögel. 2. Schaut auf die Blumen, besonders auf die Lilien. 3. Macht euch keine Sorgen.
Ich möchte das Schauen, Sehen mit dem Sorgen vergleichen. Wer sich nicht ablenken oder zerstreuen läßt, der macht sich auf die Suche nach der Schönheit der Lebenswelt um sich selbst herum. Er bemüht sich, die kleinen Wunder der Natur nicht zu übersehen. Schönheit und Anmut der Lilien, Spatzen und Rotkehlchen fallen auf die Betrachter zurück. Sie wissen sich geborgen zwischen Blütenmeer und Starenschwarm. Leben und Natur erscheinen als etwas Wertvolles
Das Leben als wertvoll zu betrachten, haben Schauen und Sorgen gemeinsam. In beiden Modi erkennen alte und junge Menschen an, daß die Natur wertvoll und zu respektieren ist. Wer unverstellt wahrnimmt, der staunt über die Wunder der Natur. Wer sich Sorgen macht, der nimmt das Leben an. Er versucht, dieses Leben zu erhalten, indem er in Gedanken durchspielt, was alles passieren könnte: Gefahren, Sicherheitsrisiken, blöde Zufälle. Im Modus der Sorge prägt sich der Wert des Lebens um in Angst, in konkrete Angst vor Krankheiten und Risiken, aber auch in diffuse Angst vor all dem, was passieren könnte, aber nie eintritt.
Leben erscheint völlig zu Recht als gefährdet und verletzlich. Das kann Angst machen. Und diese Angst – erstaunlich! – kann zu vernünftigem Handeln anleiten, zu Versicherungen zum Beispiel, von der Kranken- über die Haftpflicht- bis zur Auto-Unfallversicherung. Alle diese verpflichtenden Versicherungen nehmen den Menschen weitgehend das Risiko, im Krankheits- oder Schadensfall mit riesigen Kosten wie Schadensersatz, Renovierung, Rehabilitation konfrontiert zu werden. Diese Sorgen haben in der Vergangenheit zu wirksamen sozialen Institutionen geführt, die Risiken abmildern.
Jesus von Nazareth geht das Thema Sorgen nicht als Versicherungsmathematiker an. Er sieht vor allem den Fall, wenn Menschen sich in ihren Sorgen verlieren, nur noch Schreckensszenarien entwickeln, die dann gar nicht eintreten. Die Zukunft triumphiert dann über den aktuellen Moment. Über bangen Blicken in die Zukunft verlieren die Menschen die Wahrnehmung für die Gegenwart. Aber das, was sich besorgte Bürger ausmalen, muß gar nicht unbedingt eintreten. Es besteht kein Anlaß zu Schwarzmalerei im Tunnel und panischer Risikofolgenabschätzung.
Grübelei verlängert das Leben um keinen einzigen Tag. Dagegen O-Ton Jesus von Nazareth in der Bergpredigt: „Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“. Jeden Tag eine Blutdrucktablette (für die Älteren), jeden Sommertag eine Kugel Zitroneneis im Hörnchen, jeden Tag eine begrenzteDosis Sorgen, um das eigene Leben so einzurichten, daß die Einschläge des Zufalls nicht allzu hart treffen. Aber: Wer nur noch grübelt, verpaßt das Leben. Ich füge noch hinzu, daß Jesus in der Bergpredigt die Menschen nicht belehrt. Er gibt sich nicht als Oberlehrer. Belehrt werden wollen unbedingt die ‚Aktivisten‘, aber auch nur deshalb, damit sie andere belehren können.
IV
Jesus von Nazareth hält einen Lernprozeß vor, der in das Betriebssytem der Weisheit eingebettet ist: Vogel- und Blütenbeobachtungen zusammentragen, Erfahrungen sammeln, Erkenntnisse abspeichern und die notwendigen Schlüsse ziehen für das eigene Handeln. Weisheit lebt aus Freiheit und eigener Entscheidung, nicht aus Belehrung und Besserwisserei. Und schließlich geht der kluge Jesus der Bergpredigt noch einen letzten Schritt weiter und ordnet Handeln und Beobachtungen weiser Glaubender ein in die große Schöpfung Gottes.
Gott greift hier nicht in die Naturgesetze ein. Statt dessen kümmert er sich um den banalen Alltag von anmutigen Blumen am Feldrand und winzigen Vögeln, die in der Luft Kapriolen vollführen. Gott kümmert sich um winzige Netzwerke und Naturkreisläufe, bei den Pflanzen – siehe Lilien – und bei den Tieren – siehe Spatzen, Schwalben, Krähen. Ich finde das einen schönen Gedanken, auch wenn ich weiß, daß Klimawandel und menschliche Eingriffe die Ordnungen der Natur ins Wanken gebracht haben. Vielleicht ist der Begriff der Ordnungen den vielen Veränderungen der Natur, gerade den riskanten, nicht mehr angemessen.
Aber wenn sich Gott um tschilpende Vögel und gesprenkelte Blüten kümmert, dann wird er sich auch um die Menschen kümmern, die in der Bibel ausdrücklich als Gottes Ebenbilder bezeichnet werden. Und für das Menschenleben gilt: Gott führt den Menschen nicht am Nasenring durch die Untiefen und Abgründe von Zufall, Krankheit und Katastrophen. Vielmehr spiegelt der Blick auf Spatzen und Lilien ein zärtliches und beruhigendes Gottes- und Menschenbild.
Auf dem Berg predigt Jesus: Wir Menschen haben die Möglichkeit zu einem Leben in Glauben, Weisheit und Respekt vor der Natur, zuerst vor den Lilien, dann vor den Spatzen, schließlich vor allen Lebewesen, die der barmherzige Gott geschaffen hat. Das ist als eine vertrauensvolle Einladung zu verstehen. Keine Hörerin und kein Hörer dieser Passage der Bergpredigt wird in ein Gerüst aus – klerikaler oder hierarchischer – Bürokratie gezwängt. Die Einladung zur Weisheit ist eine Einladung zu Freiheit, Vertrauen und Selbstbewußtsein.
Das Reden von Gott kommt schließlich im Alltag an. Ganz im Sinne des Satzes: Macht euch nicht so viele Sorgen, macht euch erst einmal einen Kaffee! Und dann schaltet eure Weisheit ein und denkt nach und glaubt. Und der Friede Gottes, der auf Spatzen, Kranichen, Lilien, Magnolien und schließlich auch auf Joggern und Spaziergängerinnen ruht, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.