Biblische Heilsgeschichte – Zwei spektakuläre Rettungstaten
Vorabbildung der Leiden Christi und seiner Auferstehung vom Tode
Predigttext: 2. Mose / Exodus 14 (Übersetzung nach Martin Luther)
5 Als nun dem König von Ägypten gemeldet wurde, dass das Volk geflohen sei, wurde sein Herz verwandelt und das Herz seiner Großen gegen das Volk, und sie sprachen: „Warum haben wir das getan und haben Israel ziehen lassen, sodass sie uns nicht) mehr dienen?“
6 Und er spannte seinen Streitwagen an und nahm sein Kriegsvolk mit sich
7 und nahm 600 erlesene Streitwagen und was sonst an Wagen in Ägypten war, und auf jedem war ein dritter Mann.
8 So verhärtete der Herr das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, dass er den Israeliten nachjagte, während die Israeliten mit erhobener Hand auszogen.
9 Und die Ägypter jagten ihnen nach, alle Rosse des Pharao und seine Gespanne und sein Heer und holten sie ein, als sie am Meer bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon lagerten.
10 Als der Pharao nahe herangekommen war, hoben die Israeliten ihre Augen und siehe, die Ägypter rückten hinter ihnen heran. Da fürchteten sie sich sehr und schrien zum Herrn.
11 Darauf sprachen sie zu Mose: „Gab es denn keine Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten herausgeführt hast?
12 Haben wir’s dir nicht schon in Ägypten gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Denn es ist besser für uns, den Ägyptern zu dienen als in der Wüste zu sterben.“
13 Das sprach Mose zum Volk: „Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und seht die Rettungstat des Herrn, die er euch heute erweisen wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wieder sehen.
14 Der Herr wird für euch kämpfen; ihr aber verhaltet euch ruhig!“ …
19 Da erhob sich der Engel Gottes, der vor dem Lager Israels herzog, und stellte sich hinter sie. Und die Wolkensäule vor ihnen erhob sich und trat hinter sie
20 und kam zwischen das Lager Ägyptens und das Lager Israels. Und dort war die Wolke finster und hier erleuchtete sie die Nacht. So konnten die Lager die ganze Nacht einander nicht näher kommen.
21 Als nun Mose sein Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und legte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich.
22 Darauf gingen die Israeliten mitten ins Meer auf dem Trockenen, während das Wasser ihnen zur Rechten und zur Linken eine Mauer bildete.
23 Doch die Ägypter verfolgten sie und zogen hinter ihnen hinein, alle Rosse des Pharao, seine Streitwagen und seine Gespanne, bis mitten in das Meer.
24 Zur Zeit der Morgenwache schaute der Herr aus einer Säule von Feuer und Wolken auf das Lager Ägyptens und brachte das Heer in Verwirrung.
25 Er verkantete die Räder ihrer Wagen und ließ sie nur schwer vorwärts kommen. Da sprachen die Ägypter: „Lasst uns fliehen vor Israel, denn der Herr kämpft für sie wider Ägypten!“…
28 Da kehrte das Wasser zurück und bedeckte die Streitwagen und Gespanne vom ganzen Heer des Pharao, die hinter ihnen ins Meer gestürmt waren. Kein einziger von ihnen blieb übrig.
29 Die Israeliten aber waren auf dem Trockenen mitten durch das Meer gezogen, während das Wasser ihnen zur Rechten und zur Linken eine Mauer bildete.
30a So errettete der Herr an jenem Tage Israel aus der Hand Ägyptens. …
31 Als aber Israel die mächtige Hand sah, mit der der Herr an den Ägyptern gehandelt hatte, da fürchtete das Volk den Herrn und sie glaubten an ihn und seinen Knecht Mose.
15,20 Darauf nahm Mirjam, die Prophetin, die Schwester Aarons die Handpauke in ihre Hand, und alle Frauen zogen hinter ihr her mit Handpauken und Reigentänzen.
21 Und Mirjam sang ihnen vor:
Singet dem Herrn! Ja, hoch hat er sich erhoben,
Ross und Wagenlenker warf er ins Meer.
Trotz aller kulturellen Einschränkungen, die uns durch die Pandemie auferlegt sind, erleben wir an diesem Osterfest 2021 eine kleine kirchengeschichtliche Sensation! Zum ersten Mal wird auf Vorschlag der kirchlichen Kommission, die für die Auswahl der Predigttexte zuständig ist, in diesem Jahr am Ostersonntag über einen alttestamentlichen Text gepredigt, der in der Alten Kirche fest zur Passions- und Osterzeit gehörte, aber in den Evangelischen Kirchen Deutschlands über Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war: nämlich über die Erzählung von der Rettung Israels am Schilfmeer aus dem 2. Buch Mose, dem Buch Exodus.
I.
Die Sängerinnen und Sänger unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die Aufführung von Telemanns Oratorium „Die Befreiung Israels“ unter der Leitung von Frau Rux-Voss. Dieses blieb in Deutschland recht unbekannt, aber war eine Nachahmung des großen Oratoriums „Israel in Egypt“, das Georg Friedrich Händel zwanzig Jahre zuvor, 1739, mit sehr großem Erfolg in England aufgeführt hatte, und zwar in der Passions- und Osterzeit, extra für diese Zeit des Kirchenjahres komponiert. Denn in England war über die Mönche aus Irland immer noch die Tradition aus der Alten Kirche lebendig geblieben: Hier wurde während der Passions- und Osterzeit die ganze Geschichte von der Befreiung Israels von seiner Unterdrückung in Ägypten aus den ersten 15 Kapiteln des Exodusbuches während der Morgen- und Abendgottesdienste durchgelesen, als eine Vorabbildung der Leiden Christi und seiner Auferstehung vom Tode. An diese alte Tradition knüpfen wir heute wieder an!
Die Geschichte von der Befreiung und Rettung Israels ist relativ lang und verschlungen. Nur mit Mühe war es Gott gelungen, dem mächtigen Pharao, der die Israeliten durch eine bewusst schikanöse, harte Sklavenarbeit möglichst gewinnbringend ausrotten wollte, mithilfe einer Kette von zehn Plagen die Zustimmung zur Freilassung der Fronarbeiter abzuringen. Doch kaum entlassen, gerieten die Israeliten in eine neue tödliche Bedrohung. Ich lese Ihnen eine etwas verkürzte Version der Schilfmeererzählung aus dem 14. Kapitel des Buches Exodus und dazu das Mirjamlied aus Kapitel 15.
(Lesung des Predigttextes)
II.
Am Anfang der biblischen Heilsgeschichte steht eine spektakuläre Rettungstat unseres Gottes, mit der dieser eine Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter, die zu seinem Volk Israel werden sollten, auf wunderbare Weise vor dem Angriff einer gewaltigen militärischen Übermacht in Schutz nahm. Er machte die glänzende ägyptische Waffentechnik unbrauchbar, versenkte die ganze Streitmacht im Meer und ließ die vom Tode bedrohten Menschen mit dem Leben davonkommen.
Auch in der Mitte der biblischen Heilsgeschichte steht eine spektakuläre Rettungstat unseres Gottes, die wir heute feiern. Gott rettete Jesus, den die Menschen eines gewaltsamen und erniedrigen Todes hatten sterben lassen, durch den Tod hindurch. Er ließ ihn auferstehen, neues Leben bei Gott gewinnen und zerstörte damit für uns alle die Macht von Sünde und Tod (1 Kor 15, 54–57).
Wohl gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen diesen beiden spektakulären Ereignissen. Die Rettung einer unbewaffneten Gruppe aus Todesnot vor einer Militärmacht ist nicht identisch mit der Rettung eines Hingerichteten aus der Gewalt des Todes. Aber beide Male tritt Gott an die Seite der Opfer von Gewalt, beide Male gewährt er ihnen auf überraschende und wunderbare Weise ein neues Leben.
Von der grundlegenden Befreiungs- und Rettungstat Gottes im Exodusbuch aus gelesen, wird eindeutig und klar erkennbar, dass auch die Auferstehung Jesu Christi als ein Ereignis verstanden werden muss, das Gott zu unserer Befreiung von Todesängsten und zu unserer Rettung aus der Gewalt des Todes unternommen hat. Weil die Auferstehung, ja, noch mehr eine leibliche Auferstehung so wunderbar ist, dass wir sie uns nur schwer vorstellen können, diskutieren wir hin oder her und vergessen darüber zuweilen ihren fundamental befreienden, ihren rettenden Charakter. Die Frauen am Grab, die von Jesu Auferstehung erfuhren, waren so erschrocken, dass sie sprachlos blieben; so sprachlos wie wir zuweilen aus unseren Zweifeln heraus. Doch wir können von Mirjam aus unserer Schilfmeergeschichte lernen, dass ein jubelndes Gotteslob die angemessene Reaktion auf eine so wunderbare Rettungstat unsere Gottes gewesen wäre. Später haben die Jünger auch noch gejubelt (Luk 24,34).
III.
Gerne würde ich Ihnen die Schilfmeergeschichte im Einzelnen auslegen, sie ist so reich an Not- und Rettungserfahrungen. Aber dafür fehlt uns in diesem Kurzgottesdienst der Raum. Ich möchte Sie jedoch zumindest auf die überraschenden Parallelen aufmerksam machen, die zwischen Mose und Jesus bestehen. Als die Israeliten bemerken, dass sie von einem ägyptischen Streitwagentrupp verfolgt werden, geraten sie Panik. Sie klagen zu Gott um Hilfe, aber richten zugleich wüste Beschuldigungen gegen Mose, den Gott zu ihrer Befreiung beauftragt hatte. Sie unterstellen ihm finstere Machenschaften, er habe sie nur deswegen und gegen ihren Willen überredet, sich auf das Befreiungsunternehmen einzulassen, um sie in der Wüste alle umzubringen. In ihrer Todesangst haben sie die Leiden ihrer Fronarbeit vergessen und wünschen sich in die Unfreiheit zurück (Ex 14,11–12).
Doch Mose bleibt in diesem Tumult ganz ruhig und gefasst. Er verteidigt sich nicht, er stellt nicht richtig. Er nimmt den Undank und den Kleinglauben des Volkes schweigend hin. Stattdessen sucht er, seine Leute zu trösten: „Fürchtet euch nicht, ihr braucht keine Angst zu haben! Bleibt ruhig, rennt nicht panisch herum, denn ich bin gewiss, Gott wird in dieser fürchterlichen Bedrohung für euch eintreten, wird mit all seiner Macht für euch kämpfen“ (vgl. V. 13–14). Ob und wie Gott rettend eingreifen wird, weiß Mose zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Es ist allein sein Gottvertrauen, seine Hoffnung, dass Gott sein großes Befreiungswerk nicht auf diese desaströse Weise scheitern lassen wird, auf die Mose seine Gewissheit gründet. Er riskiert viel, er riskiert alles, um dem Volk seine panische Angst zu nehmen.
Als Gott dann wirklich eingriff und die Israeliten vor der nachstürmenden Heeresmacht am Schilfmeer rettete, da erwies er damit auch das mutige Gottvertrauen des Mose als richtig. Mose wurde von Gott nicht fallen gelassen, sondern als verlässlicher Mittler seines Befreiungswerks bestätigt. Darum heißt es am Ende der Geschichte, dass die geretteten Israeliten nicht nur ihren Glauben an den Herrn wieder fanden, sondern auch ihren Glauben auch auf Mose setzten, weil er sich in der schweren Krise als ein wahrer „Knecht Gottes“ erwiesen hatte (V. 31).
Wie Mose ließ sich auch Jesus von dem Befreiungswerk, zu dem ihn Gott beauftragt hatte, nicht abbringen, auch nicht von seinen Jüngern, die ihm wehren wollten und ihn treulos verließen, als es ernst wurde. Er ging entschlossen seinen Weg eines leidenden Messias, auch wenn er von einem seiner Jünger, der darüber bitter enttäuscht war, verraten wurde. Wie Mose war Jesus von großem Gottvertrauen getragen. Trotz aller Anfechtungen im Garten Gethsemane wich er dem Leidensweg, den Gott für ihn vorgesehen hatte, nicht aus. Als er am Kreuz zu Gott klagte „Mein, Gott, mein Gott, warum hast mich verlassen“ (Mt 27,26), beharrte er darauf, dass Gott ihn, den schmachvoll Hingerichteten, nicht fallen lassen würde.
Und wirklich, Gott griff ein! Er rettete Jesus durch den Tod hindurch. Er ließ ihn, den die Menschen voll Hohn und Spott hingerichtet hatten, von den Toten auferstehen und erwies ihn damit als seinen Sohn, den er mit der Befreiung aller Menschen aus der Macht des Todes und der Sünde beauftragt hatte. Wie bei Mose, ist es diese sichtbare Bestätigung durch Gott, die unseren Glauben an Jesus als den wahren Gottessohn begründet (1 Kor 15,1–11). Was für erstaunliche Parallelen in Gottes großer Heilsgeschichte, über die man lange nachdenken könnte!
IV.
Wenn aus der Perspektive der Schilfmeererzählung die Auferstehung Jesu eine spektakuläre Rettungstat Gottes ist, die Rettungstat, mit der er nicht nur Israel sein Überleben, sondern allen Menschen ein neues Leben eröffnen will, dann stellt sich abschließend die Frage, worin der rettende Charakter der Auferstehung Jesu genauer besteht. Man könnte ja vielleicht meinen: Eigentlich hätte Gott doch gleich den Tod, der uns Menschen ängstigt, den Sinn unseres Lebens in Frage stellt, der uns oft erhebliche Schmerzen bereitet und vielen große Geduld im Leiden abfordert, gänzlich abschaffen können. Ein ewiges Leben, ein Leben das 500 Jahre und länger währt, das wäre doch die wahre Befreiung, die Erfüllung eines Menschheitstraums, dem heute wieder viele angesichts der neuesten medizinischen und technischen Möglichkeiten nachhängen! (vgl. Y.N. Harari, Homo Deus). Aber ein solcher Wunsch ist und bleibt illusorisch:
Der Tod bildet eine Grundlage des irdischen Lebens, wie wir es kennen. Unter den Bedingungen eines begrenzten Lebensraums muss die ältere Generation abtreten, damit die Nachgeborenen Platz haben und leben können. Ohne Tod liefen wir als Menschheit in wenigen Jahren in eine Überbevölkerungs- und Hungerkatastrophe hinein. Ohne den Wechsel der Generationen gäbe es keine Menschheitsgeschichte und die Möglichkeit zu einer dynamischen kulturellen und technischen Entwicklung. Ohne den Tod gäbe es sogar keine menschliche Individualität, die Unverwechselbarkeit jedes Einzelnen, denn wenn wir alle 500 Jahre und mehr lebten, würde wir irgendwann alle das Gleiche erlebt haben.
Gott konnte den Tod gar nicht abschaffen, solange er seine Schöpfung nicht vollständig umkrempeln wollte, aber er hat dem Tod durch die Auferstehung Jesu seine scheinbare Allmacht und Endgültigkeit genommen. Mit der Auferstehung Jesu, die wir heute feiern, verliert der Tod für uns seinen von Gott trennenden Charakter. Der Tod kann uns nicht mehr trennen von der Liebe Gottes! Mit der Auferstehung erhält jede und jeder von uns in der individuellen Begrenztheit seines Lebens, wie auch immer es im einzelnen verlaufen sein mag, eine liebende und schonende Wertschätzung von Gott. Unser durch Geburt und Tod begrenztes Leben erhält vor Gott und bei Gott Dauer, wird zu einem „ewigen Leben“, ohne dass die Erde in totaler Überbevölkerung versinken müsste. Das ist die große Weisheit des Rettungswerks, das Gott mit der Auferstehung Jesu in Gang gesetzt hat.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Abschlussbemerkung: Vielleicht wissen Sie, dass der heutige Ostersonntag auch der letzte Tag des Passahfestes ist, das seit vorletztem Freitag von den jüdischen Gemeinden gefeiert wird. Beim Passahfest wird traditionell der Befreiung Israels aus dem ägyptischen Sklavenhaus gedacht. Diese zeitliche Koinzidenz ist nicht zufällig. Schon Jesu Leiden, Sterben und Auferstehung vollzog sich im Umfeld des Passahfestes. Drei der Evangelisten meinen sogar, Jesu Abschiedsmahl mit seinen Jüngern sei ein Passahmahl gewesen. Dann hätte sogar Jesus selber vor seinem Leiden und Tod aus der Geschichte von der Befreiung Israels aus Ägypten, seinen Trost und Hoffnung bezogen (vgl. Luk 22,15). Aber wie dem auch sei, mich erfüllt es mit großer Freude, dass gestern am Sabbat in der jüdischen Gemeinde der gleiche Text verlesen wurde, den wir heute erstmals seit langer Zeit in unserem Ostergottesdienst gehört haben. Nichts kann deutlicher machen als dieser Zusammenklang, dass wir mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern in der Erinnerung an Gottes große Rettungstaten und in der Hoffnung auf sein erneutes rettendes Eingreifen in der Zukunft vereint sind. Trotz aller Unterschiede, es ist der Jubel über den befreienden Gott, der uns eint!