Bilder voller Leben
Wider den Sog des Todes – aller Resignation zum Trotz
Predigttext: Jesaja 65,17-25 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.
Dialogpredigt
Dialogpartnerin/-partner I
„Alles mache ich jetzt neu … niemand wird mehr weinen und klagen …“ – Bilder voller Leben und Licht zaubert Jesaja, der Profet, vor mein inneres Auge. Sie faszinieren mich. Sie verleihen meinem Glauben Flügel. Sie tragen mich über dunkle Erfahrungen hinaus. Ich bin Jesaja für seine Seh-Schule dankbar. Sie hilft mir, wenn ich an Gräbern stehe und mit den Trauernden weinen möchte. Sie bewahrt mich vor dem Sog von Verzweiflung, Ohnmacht und Ratlosigkeit, der von den Bildern ausgeht, die mir Zeitung und Nachrichten jeden Tag frei Haus liefern. Bei aller Faszination spüre ich ein großes Unbehagen. Widerspruch regt sich in mir: „Niemand wir mitten aus dem Leben gerissen“: Drei schreckliche Unfälle innerhalb weniger Wochen sprechen ein andere Sprache. Der Tod des 39jährigen Familienvaters hinterlässt eine Lücke, die sich niemals schließen wird.
„Alt wie Bäume sollen sie werden, die Menschen in meinem Volk“: Der medizinische Fortschritt lässt uns immer älter werden. Die Lebensgrenze, die der Psalmbeter gezogen hat, haben wir längst verschoben: Unser Leben währet 70 Jahre, wenn`s hoch kommt, so sind es 80 Jahre! Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, der/die ein gesegnetes Alter erreicht hat, ist der Schmerz dennoch groß. Wir erleben den Tod als Einbruch in unsere geordnete Welt. „Die Frauen gebären ihre Kinder nicht mehr für eine Zukunft voller Schrecken“: Zynisch müssen Mütter im Gazastreifen, in Syrien, an vielen Orten dieser Erde empfinden, was Jesaja als Zukunft entwirft. Sie erfahren: Der Schrecken des Krieges hinterlässt unheilbare körperliche und seelische Wunden in unsern Kindern. Jeden Tag stehen sie vor der Frage: Woher kommen Wasser und Brot? „Sie werden sich Häuser bauen und auch darin wohnen können“: Wer sein Haus verlassen muss, um in einem Zelt zu hausen, um sich irgendwo ein neues Zuhause zu suchen, wird kaum Trost finden in Jesajas Entwurf einer neuen Erde.
„Die Menschen in meinem Volk sollen den Lohn ihrer Arbeit selbst genießen“: Habe ich, die ich niemals von Arbeitslosigkeit bedroht sein kann, das Recht, so vollmundig zu reden? In unserm Land zerbrechen Frauen und Männer daran, dass sie den Lohn ihrer Arbeit nicht genießen können, weil er nicht reicht. „Alles mache ich jetzt neu … niemand wird mehr weinen und klagen …“ Ich bin Jesaja für seine Seh-Schule dankbar. Doch ich sehe, ich höre etwas ganz anderes.
Dialogpartner/ -partnerin II
Dir erscheint, was uns hier vorgeführt wird, als eine Ansammlung von Illusionen. Aber glaubst du, die Zuhörer damals hätten sich täuschen lassen von Bildern, die alles überstiegen, was realistisch und vorstellbar war? Mach dir bewusst, als die nach Babylon Verschleppten zurückkehrten, machte sich unter ihnen Frustration breit: Wo sie früher gewohnt hatten, wohnten jetzt andere, die Stadt zeigte noch immer die deutlichen Zeichen der Zerstörung, der Wiederaufbau ging nur schleppend voran. Und andere Volksstämme in der Umgebung Judas verhinderten ihrerseits den Wiederaufbau und Neuanfang. Was hätten ihnen Illusionen genützt, die sie in Wirklichkeit täuschten! Nein, Profeten wollen die Augen öffnen, wollen zeigen, was – aller Resignation zum Trotz – möglich ist. Aber sie zeigen es in Bildern, denn wie die Zukunft wirklich sein wird, weiß ja noch niemand. Erinnere dich, schon in der frühen Zeit, bei Mose, verbanden die Israeliten mit Gott die Vorstellung von jemandem, der – ihnen voraus – mit ihnen unterwegs ist. Da öffnet sich der Horizont, da erscheint von Gott her ein begehbarer Weg.
Wir kennen das doch und die Menschen in Jerusalem damals kannten das auch: Ängste lähmen uns und nehmen uns den Mut weiter zu gehen. Wo sich Hoffnungslosigkeit breit macht, hören das Volk Gottes und auch Kirche und Gemeinde auf, mit ihrem Gott unterwegs zu sein. Schlimm, wo jemand seine Depression als seine Frömmigkeit ausgibt. Auch die Gleichgültigkeit: ‚Es ist doch alles egal, wir können nichts machen’, gehört zu diesen lähmenden Kräften. Was aussieht wie Illusionen, sind Bilder; mit denen regt der Profet im Namen Gottes die Fantasie an: Weder die damals noch wir sollen stehen bleiben im Vertrauten, im Gewohnten, in unserer Trauer, in unseren Zukunftsängsten. Von Gott her gibt es neue Möglichkeiten.
Dialogpartnerin/-partner I
Von Gott her gibt es neue Möglichkeiten. Darauf vertraue ich – wie der Profet. Doch wie gehe ich mit dem Einwand um, den kritische Zeitgenossen formulieren: Ihr Christen vertröstet auf ein besseres Jenseits? Was antworte ich Trauernden, die in ihrem Schmerz fragen: Was soll ich mit Bildern voller Leben anfangen, wo mir der Tod genommen hat, was mein Leben lebenswert macht? Ich spüre in mir die Macht der Erfahrungen, die die Vision eines neuen Himmels, einer neuen Erde wie eine Illusion erscheinen lassen. Ich möchte mich den kritischen Einwänden stellen. Nach Möglichkeiten suchen, wie die neue Erde jetzt schon Gestalt gewinnen kann: Für Mütter, die sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Für Flüchtlinge, die ein Zuhause suchen. Ich möchte mich an die Seite von Trauernden stellen. Ihre Klagen, ihre Fragen hören. Trösten so gut es geht. Ich möchte dem Sog des Todes die Kraft des Lebens entgegensetzen. Erinnern: uns geht nicht verloren, was wir mit dem Partner/der Partnerin, dem Vater, der Mutter, dem Freund … geteilt haben. Die Kraft, die dazu nötig ist, liegt nicht in mir – das spüre ich bei jeder Trauerfeier. Sie wächst mir zu aus dem Vertrauen: Mein Leben steht im weiten Horizont des Gottes, der meine engen Grenzen sprengen, meine kurze Sicht in Weite wandeln kann. So kann ich über mich hinaus wachsen und Spuren hinterlassen, die den neuen Himmel und die neue Erde jetzt schon ankündigen.
Dialogpartner/-partnerin II
Du zeigst genau die Spannung, in der wir hier stehen: Auf der einen Seite müssen wir als Trauernde den Tod, den Verlust annehmen, das können wir nicht überspielen. Jeder Abschied braucht Zeit, Kraft, Geduld. Zugleich bietet die Trauer die Chance, das Leben, das eigene Leben und das der anderen, neu zu entdecken. Sogar die Person, um die wir trauern, wird dann – natürlich in anderer Weise als zu Lebzeiten – lebendig. Dazu lädt uns unser Glaube ein: neu leben lernen, aus dem Tod und der Todeserfahrung neu zum Leben finden. Vermutlich kann nur dort, wo etwas gestorben ist, neues Leben entstehen. Das wird uns doch an Jesus vorgeführt: Als der Gekreuzigte wurde er für die Seinen neu lebendig, anders als vorher, aber, wie ich denke, mit noch mehr Möglichkeiten als vorher. Ich hoffe und wünsche mir, Trauernde entdecken nach einer Zeit des Loslassens und Trauerns nicht nur, was ihnen wieder Freude macht, wie früher, sondern ich hoffe, sie entdecken sogar Neues, eine neue Sicht der Welt und für sich neue Möglichkeiten.
Das gilt für das einzelne Leben wie für unser Zusammenleben weltweit. Wenn der Bürgerkrieg in Syrien und das Kämpfen zwischen Israel und Gaza hoffentlich bald zu Ende ist, wird, das wünsche ich, nicht ein alter Zustand wieder hergestellt; hoffentlich wächst aus dem Wahnsinn, der hier geschieht, etwas Neues, eine überzeugendere Form des Miteinanders und Zusammenlebens. Das ist die Chance dieser profetischen Bilder: Verstehen wir sie als Beschreibung, wie die Welt morgen aussieht, können wir nur den Kopf schütteln. Aber zu einer wunderbaren Kraftquelle werden sie, wo wir entdecken: Gott ist mit seiner Welt noch nicht zu Ende, in der Zukunft liegen noch Möglichkeiten, über die wir nur staunen können und die weit das übersteigen, was wir kennen und erleben.
Ich vermisse in der geschliffeen und geistvollen Predigt etwas von der christlichen Hoffnung am Ewigkeits/Totensonntag.