„Bleibt in mir und ich in euch“
Wege voller neuer gemeinsamer Erwartungen
Predigttext: Johannes 15,1-8 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
Exegetische Skizze zum Predigttext
Der Predigttext stammt aus den johanneischen Abschiedsreden Jesu. Deren eröffnender Satz – Joh 13, 1 – passt in seiner Diktion ebenso zu Karfreitag und Ostern wie zu Himmelfahrt. Die Abschiedsreden bereiten die Jünger ebenso auf einen vorösterlichen Abschied von Jesus nach dessen Tod am Kreuz vor wie auf den nachösterlichen Abschied von Himmelfahrt – seinem eigentlichen Weggang zum Vater.
Der Text ist durchzogen von einer dialektischen Spannung zwischen Zusage hier und Weisung dort. Indikativische Sprachform („Ihr seid schon rein“) wechselt mit imperativischer („Bleibt in mir“) oder konditionaler („Wenn ihr in mir bleibt“). Ebenso findet ein Wechsel statt zwischen Verheißungen („bittet, was ihr wollt“) und ernüchterndem Hinweis darauf, dass auch totes Holz eine Realität dieser Erde ist. In dieser dialektischen Spannung gilt jedoch vor allem: es verdankt sich schon dem Vermögen des gekreuzigten Auferstandenen, dass an ihm als dem wahren Weinstock überhaupt Frucht erbracht werden kann. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“. Die Bildseite ist insofern bereits nachösterlich eingefärbt, als die Jünger mit Jesus über dessen Worte verbunden sind (V. 3+7).
Das Bild vom Weinstock steht in der Bibel für Gottes Liebhaberei, vgl.: Jes 5,1ff; Jer 2, 21; Hos 10, 1ff; Ps 80, 9 u.a.. Bei der Frucht, die den Vater ehrt, geht es Joh 15, 9f, zufolge um wechselseitige Liebe.
Predigt
Ziemlich genau mitten zwischen Ostern und Himmelfahrt liegt der heutige Sonntag. Sein Name – Jubilate – weist auf die österliche Freude hin. Jesus Christus, der gekreuzigt worden war, ist durch seine Auferweckung von den Toten der Erstgeborene einer neuen Schöpfung geworden. Gott wird den ersten Himmel und die erste Erde wie aus einer Geiselhaft befreien, in die sie der Tod genommen hat. In solcher Geiselhaft des Todes erleben wir vor allem Angst, Schrecken und die bösartigen Spuren eines Gewaltpotenzials, dem selbst schlimmste Horrorphantasien immer nur hinterherhinken. Doch seit Ostern kann sie uns in einer Hinsicht hier und heute schon nichts mehr anhaben. Sie wird uns nicht mehr ohne weiteres den Kopf so verdrehen können, wie es tatsächlich vor einigen Jahren einmal bei Menschen beobachtet worden ist, die tagelang in der Gewalt von Geiselnehmern waren. In ihrer permanenten Angst hatten sie schließlich jegliches Unterscheidungsvermögen verloren, was ihnen wirklich zur Befreiung diente und worin sie nur wie ein Mittel zum Zweck vorkamen. Sie sympathisierten am Ende regelrecht mit ihren Geiselnehmern. Wer die österliche Freude nachspüren kann, dem kann der Tod auf solche Art den Kopf so leicht nicht mehr verdrehen.
Der Predigttext stammt aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu an seine Jünger im Johannesevangelium. Jesus bereitet sie auf einen Abschied vor, wie er ihnen zunächst durch seine Kreuzigung, später aber auch nach Ostern noch einmal bevorstand. „Er wusste, dass die Stunde gekommen war, in der er zum Vater hingehen würde.“ So beginnen die Abschiedsreden Jesu. Das klingt wie Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt zugleich. Mit dem Vater beginnen die Worte Jesu vom Weinstock und seinen Reben: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.“ Ebenso schließen sie mit dem Vater. „Darin wird mein Vater verherrlicht, indem ihr viel Frucht bringt.“ Wie ein Atemhauch weht durch sie hindurch, wie Jesus sich auf seinen Vater beruft.
Das Bild vom Weinstock und seinen Früchten zeigt in der Bibel immer wieder, wie Gott ganz in seiner Liebhaberei aufgeht. Der Prophet Jesaja hat einmal ein waschechtes Liebeslied angestimmt. Von einem seiner Freunde handelt es. Er hatte sich einen Weinberg angelegt. Gehegt und gepflegt hat er ihn. Stets blieb er bemüht, dass es dem Weinberg nur ja an nichts fehlt. Doch irgendwann stellt er fest: es war alles für die Katz, lauter verlorene Liebesmühe. Es ging zu wie verhext – so, als verwandelte der umhegte Weinstock sich immer wieder von selbst in eine verwahrloste Brachfläche. Wenn Sie eine Liebhaberei pflegen, wenn diese gar mit einem Garten oder Früchten zu tun hat, werden Sie sich mühelos vorstellen können, was für eine maßlose Enttäuschung da in dem Mann aufkam. Wer könnte sich in ihn nicht einfühlen? Am Ende von Jesajas Lied erfahren die verdutzten Zuhörer dann, dass es die ganze Zeit von Gott erzählt, von seiner Liebhaberei und von seinen Enttäuschungen.
„Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.“ Gott lässt es sich nun aber so leicht nicht nehmen, ganz in seiner Liebhaberei aufzugehen. Er hat sich einen Weinstock angelegt, der ihm unfehlbar Früchte einbringen wird, wie sie seiner Liebhaberei entsprechen. An denen wird er sich immerwährend freuen können. Jesus Christus, der Sohn, ist in eigener Person dieser Weinstock. Wir werden eingeladen, an dieser Liebhaberei Gottes auf unsere Weise teilzuhaben. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, bringt viel Frucht.“ Mit dem Weinstock verbunden können die Reben eigentlich gar nicht anders als Frucht zu bringen, wie es in ihnen angelegt ist. Denn der Lebenssaft des Weinstocks strömt durch sie hindurch. Einmal habe ich davon eine echte Anschauung erhalten. Jemand beschnitt einen Weinstock. Vielleicht geschah das schon etwas zu spät im Frühjahr – denn schon quoll der Saft an den Schnittstellen regelrecht aus dem Holz der Zweige. Seitdem kann ich mir gut vorstellen, wie es im Inneren des Stamms und des Geästs eines solchen Gewächses zugeht, wenn es Jahr für Jahr frisch auflebt. Wo es so zugeht, können Früchte kaum ausbleiben. Doch um welche Früchte geht es, wenn wir die Reben sind?
„Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt.“ Dass sie Gott verherrlichen, ist das Erkennungszeichen solcher Früchte, sozusagen ihre Form und Farbe. Wonach schmecken sie? Danach, dass wir Gottes Liebhaberei aneinander wahrnehmen und dass wir sie aneinander so zum Zuge bringen, dass Dritte sie umso klarer erkennen. Wo immer es so zugeht unter uns, da wird Gott verherrlicht und geehrt. Wir brauchen dafür eigentlich gar nicht mehr zu tun als uns so weit wie möglich für die Worte zu öffnen, in denen an uns die Hege und Pflege weitergegeben wird, wie sie Jesus, der Sohn durch den Vater erhält.
„Ihr seid“, sagt Jesus den Jüngern, „schon rein auf Grund des Wortes, das ich zu euch gesprochen habe.“ Denn so gehört es ja auch zu Gottes Liebhaberei. Er teilt mit dem Sohn alles, was zuinnerst in ihm ist. Der Sohn gibt es uns in seinen Worten eins zu eins weiter. Darum gilt auch: „Wenn ihr in mir bleibt, bittet, um was ihr wollt, und es wird euch geschehen“. Manchmal bitten wir so ähnlich, wie man Anträge einreicht. Dann hofft man, dass diese in unserem Sinne beschieden werden. Wenn man die erbetene Sache bekommt, macht man sie zum Teil des eigenen Lebens. Es steht einem frei, inwieweit man sie mit anderen teilen will oder nicht. Bei den Gaben, die zu den Früchten des Weinstocks passen, ist das anders. Keine Rebe kann den Lebenssaft des Weinstocks, der sie durchströmt, für sich allein behalten. Sie lässt ihn im gleichen Moment weiterströmen, in dem sie selber davon zehrt. Genauso verhält es sich auch mit den Gaben, mit denen uns die Worte von Jesus die Hege und Pflege weitergeben, wie er sie vom Vater erfährt.
Gott lässt uns wohl geschehen, worum wir bitten. Doch Gott gibt in einer Weise, in der man seine Gabe nicht für sich in Besitz nehmen und, wenn man möchte, vor Anderen unter Verschluss halten kann. Darum brauchen wir, um viel Frucht zu bringen, auch gar nichts weiter zu tun, als seine Gaben in uns wirken zu lassen – die Gaben, mit denen er uns in seiner Liebhaberei persönlich begabt hat. Es gilt einfach, solche Liebhaberei Gottes ihre Arbeit an uns und in uns verrichten zu lassen, so dass wir sie aneinander umso mehr zum Vorschein bringen. Doch was heißt da schon „einfach“? Oft fällt uns gerade das besonders schwer. Denn es kann sein, dass wir bisweilen etwas verabschieden müssen, was uns hindert, in solchem Sinne Frucht zu bringen. Dann geraten wir in innere Konflikte. Manchmal werden wir gebeten, mit jemandem unsere Zeit zu teilen. Dabei haben wir doch selber so viel zu tun und so viel anderes danach vor. Ein anderes Mal gilt es vielleicht, von irgendeinem hohen Ross herunter zu steigen, um mit jemandem in herzlichem Kontakt bleiben zu können; oder auf jemanden zuzugehen, obwohl man der Meinung ist, der andere wäre dran. Vielleicht schlägt es uns ein anderes Mal plötzlich ins Gewissen, dass wir materiell und wirtschaftlich begünstigt sind gegenüber vielen anderen, und dann entsteht der Konflikt: wieviel kann ich abgeben und teilen, wieviel spenden oder schenken?
Es gibt ein Wort von Jesus, das ebenfalls von einer Frucht handelt, von einer anderen freilich als der des Weinstocks. Dieses Wort kann uns in solchen Konflikten helfen, unseren Weg zu finden. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ Manche Frucht, die wir bringen können, wird sich erst entfalten, wenn wir es schon gar nicht mehr erleben können. Eine Frau erzählte mir einmal, erst einige Zeit nach dem Tod ihres Bruders sei ihr richtig aufgegangen, wie hilfreich eine bestimmte Äußerung von ihm für sie geworden sei. Manchmal bedankt sich jemand bei uns. Es hat ihm etwas gutgetan, wozu wir beigetragen haben. Ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen, dass Sie selber ganz verblüfft waren, an welche Begebenheit Sie dann erinnert wurden? Man hatte selber gar nichts Besonderes mit ihr verbunden. Sie war einem womöglich sogar schon längst entfallen. Wo es aber tatsächlich um Leben oder Tod geht, wo von uns Abschiede verlangt werden, wie sie der Tod von uns fordert, können wir uns umso mehr an Jesus als das Weizenkorn halten, das vor uns in die Erde gefallen ist. Er hat darüber eine Frucht erbracht, die wir unsererseits nie hätten erbringen können, nämlich, dass auch der Tod Gott nicht daran hindern konnte, ganz in seiner Liebhaberei aufzugehen und so überwunden wurde. Gewiss, was uns die Botschaft von der Auferweckung des gekreuzigten Jesus Christus zusagt, ist viel zu wunderbar, als dass wir es jetzt und hier auch nur annähernd begreifen könnten. Doch dass dem Tod das Heft aus der Hand genommen wurde, über uns ein letztes Sagen zu haben und Gott seine Liebhaberei zu verderben, darauf dürfen wir fest vertrauen.
Auch jeder nachösterliche Abschied weist uns dann auf einen Weg voller neuer gemeinsamer Erwartung. Es ist als erwarteten wir mit ihm, dem Auferstandenen zusammen darauf, dass er wiederkommt und Gott Himmel und Erde neu schaffen wird zu einem Leben, in dem der gekreuzigte Auferstandene bereits wie ein Erstgeborener lebt. Für unseren Weg bis dahin gibt er uns eine Erinnerung mit, die wir uns immer wieder neu vergegenwärtigen können: „Bleibt in mir und ich in euch“. Das sind ebenso sehr abschiedliche wie österliche Worte. Es sind Worte der Stärkung ebenso wie Worte einer Sendung.
Liedvorschlag: EG 406
In seinem Johannes-Kommentar macht Eugen Drewermann aktuell darauf aufmerksam, dass das bekannte gepredigte Bild vom Weinstock, an dem wir hängen, für heutige Menschen unangenehm unfrei und abhängig klingt. Es sei aber in Wahrheit ein Bild von gegenseitiger Verliebtheit. Pfarrer Funke gelingt, es mit anderen Worten genau das zu verkündigen. Er beginnt sehr interessant, dass Menschen in Geiselhaft nach einiger Zeit dazu dazu neigen, mit ihren Gefängniswärtern zu sympathisieren. So leben heute viele unter der Macht des Todes und finden es ganz in Ordnung, dass ihr Leben mal beendet wird. Jesus beendet diese Geiselhaft des Todes, indem er hier indirekt von Ostern und Himmelfahrt und dem ewigen Leben spricht. Gott ist ein Weingärtner, der liebevoll für uns, seine Weinstöcke sorgt und wir sind mit Jesus so liebevoll verbunden, wie ein Weinstock mit den Reben. Wir sollen viel Frucht bringen. Wir gehören zur Liebhaberei Gottes. Schon Jesaja hat ein waschechtes Liebeslied von Gott als Liebhaber angestimmt. Es endet damit, dass Gott dabei damals mal enttäuscht wurde. Im Predigttext nimmt Gott durch Jesus die Liebhaberei Gottes wieder auf. Durch Jesus können wir gottwohlgefällige Früchte bringen, weil Jesu Lebens-Saft und -Kraft durch uns hindurchströmt. Mit einigen heutigen Beispielen zeigt Pfarrer Funke, wie das konkret aussehen kann. Auch der Tod kann Gott als Weingärtner nicht von seiner Liebhaberei abbringen, dass wir als seine Weinstocke Frucht bringen. Mit dem eindringlichen Jesus-Wort von Glaubens – Stärkung und Sendung endet die schöne Predigt. Sehr gut gelingt es dem Prediger, den Text im Sinne Drewermanns von einer unfreien Auslegung zu befreien und die liebevolle Freiheit durch Jesus froh und ermutigend zu verkündigen.