Katastrophe
Mirjam läuft durch das zerstörte Jerusalem. Häuser, Stadtmauer, der Tempel selbst liegen in Schutt und Asche. Mit ihren schweren Waffen sind römische Soldaten angerückt, haben die Stadtmauern zum Einsturz gebracht. Bewaffnet mit Schwertern und Lanzen sind sie unter Geschrei in die Stadt eingefallen. Die wenigsten Bewohnerinnen und Bewohner von Jerusalem konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Manch einem, dem es gelang, sich in einer Mauerritze oder an einer schwer zugänglichen Stelle zu verbergen, wurde gefunden, aus seinem Versteck gezerrt und erstochen. Die Soldaten mordeten, filzten verborgene Ecken in den Häusern. Die Leichen von Männern, Frauen und Kindern lagen zerstreut in den Straßen. Verletzte riefen verzweifelt um Hilfe. Die römischen Soldaten hatten selbst Tiere nicht verschont: Esel, Katzen und Hunde lagen massakriert am Boden.
Es ist kein Ort für kleine Mädchen, durch das von Leichen übersäte und verbrannte Jerusalem zu irren. Die marodierenden Soldaten sind weg, wüten weiter auf dem Tempelberg. Mirjam hat sich aus ihrem Versteck herausgewagt, sucht nach ihrer Mutter, von sie im Getöse getrennt worden ist. Wo ist ihre Mutter? Der Vater ist tot. Sie ist dabei gewesen, als er starb. Herabfallende Steine aus der Stadtmauer haben sein Leben erloschen. Die hochgebaute Stadt Jerusalem, die ihr Abbild im Himmel hat, liegt verwüstet in Trümmern. Mirjam weint. Mit angsterfüllten Augen hält sie Ausschau nach ihrer Mutter. Nach unermüdlichen verzweifelten Suchen findet sie sie. Mutter und Tochter liegen sich erleichtert in Armen. Es kommt beiden wie ein Wunder vor, dass sie sich unversehrt wiedergefunden haben. Rundherum um sie Tod und Zerstörung. Die hochgebaute Stadt Jerusalem, die ihr Abbild im Himmel hat, lag verwüstet in Trümmern.
„Wenn ihr aber sehen werdet, dass Jerusalem von einem Heer belagert wird, dann erkennt, dass seine Verwüstung nahe ist“, kündigt Jesus wenige Zeilen vor unserem Predigttext das Ende der Heiligen Stadt an (Lk 21,20ff). Wer in Juda ist, der fliehe ins Gebirge und wer in der Stadt ist, gehe hinaus und wer auf dem Lande ist, komme nicht in die Stadt. Jerusalem wird fallen durch die Schärfe des Schwertes und zertreten werden.
Erneuerung
Als Lukas diese Worte in der sogenannten Endzeitrede Jesu überliefert, ist Jerusalem bereits zerstört. Lukas schreibt rückwirkend. Die Stadt ist gefallen, der Alltag wird zum Überlebenskampf, die Welt ist aus den Fugen geraten, jegliche Sicherheiten haben sich aufgelöst, Angst ist das beherrschende Gefühl. Der gesamte Kosmos ist ins Wanken geraten.
„Es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen“, spricht Jesus, „den Völkern wird bange, sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres. Die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde, denn die Kräfte des Himmels kommen ins Wanken.“ Die Menschen, die um 70 n. Chr. in Jerusalem wohnen, haben diese Dinge, die Jesus ankündigt, am eigenen Leib erlebt. Im Jahr 70 sind Tempel und Stadt von den Römern zerstört worden. Lukas schreibt ungefähr 20 Jahre später die Lebensgeschichte von Jesus und seine Botschaft auf.
Jesus belässt es nicht bei den furchtbaren Ereignissen. Am Ende obsiegen nicht Schrecken und Tod, am Ende ist Erlösung. Jesus kündigt an, dass er wiederkommen wird in einer Wolke mit großer Kraft und Macht. Dann bricht das Reich Gottes an. Darum brauchen die zerstörten Seelen fortan nicht mehr ihren Blick senken, sie dürfen aufsehen und erhobenen Hauptes aufrecht gehen. Wer den Blick senkt, kann die Sonne nicht sehen, wer den Blick senkt, sieht seinen Nachbarn nicht, wer den Blick senkt, ist isoliert von der Gesellschaft und Gemeinschaft. Seht auf, erhebet eure Häupter. Ein zaghafter erster Hoffnungsschimmer breitet sich aus. Erlösung ist nahe, verheißt Jesus. Wie die Erlösung konkret aussieht, verrät er uns nicht. Das ist vielleicht auch nicht so wichtig, wichtig ist, dass Erlösung kommt.
Kriegsfolgen
Jerusalem ist verwüstet. Krieg löscht Seelen aus. Bis auf den heutigen Tag werden Kriege geführt. Kinder suchen nach ihren verlorenen Müttern, Mütter nach ihren verlorenen Kindern. Menschen irren ziellos umher, laufen durch verbrannte Städte. Krieg macht Menschen heimatlos und arm, zwingt sie zur Flucht. Die Autorin Sabine Bode hat Menschen befragt, die im 2. Weltkrieg Kinder waren. „Die vergessene Generation“ lautet der Titel des Buches. Die Schriftstellerin erzählt in diesem Buch von Kindern, die ohne Erwachsene, mutterseelenallein auf sich selbst gestellt, auf der Flucht waren. Sie vergaßen ihre Namen, weil sie niemand mehr mit ihrem Namen ansprach.
Krieg hat Langzeitwirkung. Die Menschen z.Zt. des Evangelisten Lukas haben die Zerstörung Jerusalems nicht persönlich mitgemacht, sie sind aber Kinder von Eltern, die durch die schrecklichen Erlebnisse traumatisiert worden sind. Was eine Kriegsgeneration erlebt, hat Nachwirkung auf die nächste Generation. Die Autorin Sabine Bode hat in einem zweiten Buch Kinder der Kriegsgeneration interviewt. Auffällig ist, so die Schriftstellerin, dass in den meisten Familien nicht über Kriegsereignisse gesprochen wurde, obwohl alle Väter als Soldaten im Krieg waren und die Mütter zuhause den Krieg miterlebten. Wenn die Väter etwas erzählten, dann sprachen sie davon, wie sie in einer Situation Glück hatten oder wie ihnen geholfen wurde.
Da ist einer aus einem blutigen Gefecht heil davon gekommen. Einem anderen ist im kalten Winter in Sibirien heimlich ein warmer Mantel zugeschoben worden, ein Dritter hat bei einem Arbeitseinsatz Essen zugesteckt bekommen, als er im Gefangenenlager hungerte. Über die brutalsten Erfahrungen kam kein Wort über ihre Lippen. Darüber haben sie geschwiegen. Es gibt Erfahrungen, die sind so schlimm, dass man nicht über sie reden kann. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes unaussprechlich. Das zerstörte Jerusalem ist wieder aufgebaut worden, aber es hat lange gedauert, bis die Trümmer geräumt waren. Nach dem 2. Weltkrieg gab es in Deutschland die Trümmerfrauen, die den Schutt weggeräumt haben. Noch zu Ende der fünfziger oder gar zu Anfang der sechziger Jahre haben Kinder in der Stadt in Trümmern gespielt.
Auf Christus sehen
„Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Wie soll ein Mensch, der Schlimmes erlebt hat, Vertrauen fassen? Wie neu anfangen, wenn das eigene Leben in Schutt und Asche liegt? Seelische Trümmer müssen ebenso aufgeräumt werden wie Trümmer zerstörter Gebäude. Gebäude sind bald wieder aufgerichtet. Seelische Trümmer wirken manchmal ein Leben lang und generationsübergreifend. Wie soll Leben funktionieren, wenn ich keine Hoffnung habe? Wer resigniert und sich aufgibt, stirbt. „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Diese Botschaft ist das Evangelium im Advent. Sie macht Hoffnung.
Die bloße Aussicht auf Zukunft gibt Hoffnung für die Gegenwart. Damit die Menschen damals und wir das heute glauben können, verstärkt Lukas die Botschaft durch das Gleichnis vom Feigenbaum. Wenn der Feigenbaum ausschlägt und Blüten treibt, so wisst ihr, dass der Sommer kommt (vgl. V 30). In Israel ist der Feigenbaum der einzige Baum, der im Winter seine Blätter verliert und wie tot aussieht. Man könnte glauben, dass kein Leben mehr in ihm steckt. Aber dem ist nicht so, der Feigenbaum, der aussieht, als ob er tot wäre, wird blühen und Frucht bringen. „So ist das auch mit der Erlösung, wenn Gottes Reich bricht an“, sagt Jesus.
Menschen, die verzweifelt sind und keinen Sinn sehen, möchten jetzt erlöst werden. Sie brauchen jetzt einen neuen Anfang und neue Hoffnung und nicht erst, wenn das Reich Gottes irgendwann in ferner Zukunft anbricht. Die Menschen zu Jesu Zeiten waren allerdings davon überzeugt, dass der Anbruch sich noch in ihrem Leben ereignen würde. Aber als die Wiederkunft Christi auf sich warten ließ und Menschen starben, wurde der Ruf zur Wachsamkeit laut. „Seid wachsam und betet, dass ihr bereit seid, vor dem Menschensohn zu stehen“, fordert Lukas die Gemeinde auf. Dass das Reich Gottes aber doch in absehbarer Zeit kommen würde, daran zweifelten die Menschen damals nicht. Das ist heute anders. Wir stellen uns die Wiederkunft Christi, wenn wir überhaupt daran glauben können, höchstens in ferner Zukunft vor.
Was hilft zerstörten Seelen heute? Was richtet auf, wenn wir vor den Trümmern unseres Lebens stehen? Was gibt Trost und Stärke? Was gibt Kraft, neu anzufangen? „Seht auf und erhebt eure Häupter“. Diese Adventsbotschaft kann auch heute verschreckte Menschen helfen und heilen. Wenn der Blick nach oben gerichtet ist, richtet sich automatisch der ganze Körper auf. Den Blick nach oben gerichtet, kann ich den Himmel sehen. Den Blick nach vorn gerichtet und nicht zum Erdboden gesenkt, nehme ich andere Menschen und die Natur wahr. Wenn ich erhobenen Hauptes durch die Straßen gehe, gibt mir das ein besseres Gefühl als wenn ich meinen Blick am Boden hefte.
“Seht auf und erhebt eure Häupter.” Sieh auf Christus. Wo du keinen Schritt mehr gehen kannst, nimmt er dich an die Hand und führt dich. Wo du nur Dunkelheit siehst, zeigt er dir die Sonne. Viele Menschen fühlen sich allein und einsam. Das betrifft nicht nur alte Menschen, deren Ehepartnerin oder Ehepartner gestorben ist. Zunehmend vereinsamen junge Menschen. Sie kapseln sich ab, kommunizieren nur über den Computer. Ein junger Mann wurde in einer Fernsehsendung, in der es um Einsamkeit ging, gefragt, warum er nur noch über den Computer und dem Smartphone kommuniziert hat. „Da muss ich nicht sein, der ich bin“, hat er geantwortet, „im Internet kann ich mir meine eigene Welt bauen“. Die aber hat mit der realen Welt nichts zu tun. Ausschließlicher Kontakt über die Medien führt weg vom realen Leben, hin in die Einsamkeit. „Ich musste lernen, den Blick von dem Computer zu wenden und Menschen wieder wahrnehmen“, erzählt der junge Mann.
Erlösung
Was hilft, was heilt? Sieh auf, erhebe dein Haupt! Guck dich um. Ist jemand da? Geht jemand neben dir? Sagt dir jemand guten Tag, reicht dir jemand die Hand, möchte jemand Kontakt zu dir und du lässt es nicht zu? Erlösung naht, auch heute. Christus begegnet dir in jedem Menschen, der dich sieht, in jedem Menschen, der dir zuhört, in jedem Menschen, der sich dir freundlich zuwendet.
Es ist Advent, jedes Jahr gehen wir 24 Tage im Dezember Tag für Tag auf Weihnachten zu. Die Kinder öffnen jeden Tag ein Türchen am Adventskalender. Das ist eine gute Tradition, die nicht nur Kinder pflegen sollten. Wir zünden vier Lichter am Adventskranz an, schmücken die Wohnung mit Tannengrün. Wenn wir den Advent zelebrieren, erhöht sich die Vorfreude auf das Fest. Weihnachten kommt Christus in die erlösungsbedürftige Welt. Der kleine Advent steht sinnbildlich für den großen Advent. Der große Advent kommt nach dieser Zeit, wenn Christus ein zweites Mal erscheint und das Reich Gottes anbricht. „Seht auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung naht.“ Mirjam ist durch die Straßen des zertrümmerten Jerusalems gelaufen. Verzweifelt hat sie nach ihrer Mutter gesucht. Sie hat ihre Mutter gefunden, sie ist erlöst.