Briefe in Bedrängnis
Trost und Antijudaismus im Brief an die Gemeinde von Smyrna
Predigttext | Offenbarung (Apokalypse) 2,8-11 |
---|---|
Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 18.11.2018 |
Kirchenjahr: | Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres |
Autor: | Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Offenbarung (Apokalypse) 2,8-11 (Übersetzung nach Martin Luther)
Und dem Engel der Gemeinde in Smyrnaschreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich – und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern sind die Versammlung des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tode.
Antijudaismus
Dieser Brief an die Gemeinde von Smyrna verstört durch seine heftige Kritik. Auf der Anklagebank sitzt die jüdische Gemeinde am Ort. Johannes von Patmos nennt sie nach der Lutherübersetzung die Versammlung des Satans. Früher hieß es: die Synagoge des Satans. Das griechische Wort Synagoge heißt nichts anderes als Versammlung. Polemik gegen die jüdische Gemeinde paßt nicht damit zusammen, daß wir in diesem November der verbrannten und zerstörten Synagogen, der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten gedenken. In die schamvolle Erinnerung paßt die alte überschäumende Kritik nicht mehr hinein. Der Brief erreicht sein Ziel nicht mehr und schießt daran vorbei. Die brausende Dosis Antijudaismus kann heute kein Christ nachvollziehen.
Der auf der Insel Patmos gefangene Prophet Johannes setzte an den Anfang seines Offenbarungsbuches eine Reihe von Briefen. Einen dieser Briefe richtete er an den Engel der christlichen Gemeinde von Smyrna. Ich habe den Brief als Predigttext vorgelesen, und er enthält neben den Vorwürfen an die jüdische Gemeinde eine Reihe von tröstenden Worten für die verfolgten Christen vor Ort.
Menachem und Fred
Ich will darum die Predigt mit einer anderen Geschichte von Briefen beginnen. Wir bewegen uns vom antiken Smyrna, das heute Izmir heißt und in der Westtürkei an der Ägäis liegt, nach Nordwesten, nach Hoffenheim, das Sie alle als das Dorf mit Bundesligaverein und Stadion an der Autobahn kennen. Dort beginnt und endet eine andere Geschichte. Briefe sind in ihr wichtig, und der Gang der Erzählung führt in die Pyrenäen, nach Israel und in die Vereinigten Staaten und zuletzt in das kleine Hoffenheim zurück.
Die beiden Brüder, die im Hoffenheim der dreißiger Jahre zur Schule gehen, heißen Manfred und Heinz. Nach der sogenannten „Reichspogromnacht“ wird die kleine jüdische Gemeinde des Orts, darunter auch die gesamte Familie von Heinz und Manfred, verhaftet. Wie die meisten anderen jüdischen Mitbürger in Baden bringt man sie ins Internierungslager Gurs in den Pyrenäen. Die Eltern und die beiden Söhne werden bald getrennt. Aus Sicherheitsgründen leben die Söhne unerkannt in einem Waisenhaus im südfranzösischen Ort Aspet. Die Eltern müssen im Lager bleiben und schreiben den Kindern Briefe, so lange, bis sie im Zug nach Polen deportiert und dann in Auschwitz ermordet werden. Im Waisenhaus haben die beiden Söhne ihre Eltern nicht wiedergesehen. Von ihrem Schicksal wissen sie nichts Genaues. Unter den katastrophalen Bedingungen des Kriegsendes und der Nachkriegszeit gelingt es beiden trotzdem zu überleben.
Die Brüder verlieren sich aus den Augen. Aus Heinz wird Menachem. Er emigriert nach Israel, studiert dort, arbeitet in einem Kibbuz und später im Erziehungsministerium. Er lebt streng nach den Regeln des orthodoxen Judentums. Und aus Manfred wird Fred. Er emigriert in die USA, studiert und arbeitet lange Jahre als Ingenieur in der Luft- und Raumfahrtindustrie. Ohne voneinander zu wissen, bauen sich die Brüder eine Existenz auf, beide gründen Familien.
Jahrzehnte später erscheinen die Briefe der ermordeten Eltern an die Kinder als Buch. Die beiden Söhne lesen das Buch und kommen erst darüber wieder in Kontakt miteinander. Sie tauschen Briefe aus, zwischen den USA und Israel. Schließlich treffen sie sich mit ihren Familien in Deutschland, in Hoffenheim. Dabei hilft Dietmar Hopp, der Fußballmäzen, weil sein Vater an der Deportation der Familie nach Gurs beteiligt war. Menachem und Fred lernen sich neu kennen, der eine ein frommer Jude, der andere ein Agnostiker. Gemeinsam reisen sie von Hoffenheim nach Gurs und dann nach Auschwitz, um der ermordeten Eltern zu gedenken und die Erinnerung an die gemeinsame Lebensgeschichte wieder aufzunehmen. Das große Wort der Versöhnung ist hier angebracht: Sie versöhnen sich nicht nur miteinander, sondern auch mit den Nachkommen ihrer deutschen Peiniger. Der Film, der die Geschichte von Menachem und Fred erzählt, endet mit fröhlichen Bildern von einem großen Fest, mit Liedern, Freude und gemeinsamem Essen.
Briefe als Beziehungsarbeit
Die Briefe der Eltern, die nach Jahrzehnten Verspätung angekommen sind, haben den Kontakt wieder hergestellt. Briefe vertiefen das Verhältnis zwischen Absender und Empfänger; sie stellen Beziehungen her. Johannes von Patmos spricht im Brief an die Gemeinde von Smyrna von Bedrängnissen. Menachem und Fred werden zu Opfern einer Geschichte, in der sie mit dem Naziterror, Internierung, Ermordung der Eltern und Familientrennung viel zu viele Bedrängnisse erleiden müssen. Eigentlich können Menschen das gar nicht ertragen. Erst die Briefe stellen über die Kontinente hinweg eine neue Gemeinsamkeit her. Die Brüder und ihre Familien lernen sich neu kennen, und es kommt auch ein Gespräch mit den Angehörigen der Täter zustande. Dass es sich gerade um eine anrührende jüdische Treuegeschichte handelt, ist ein bitter notwendiger Kontrast zu den antijudaistischen Bemerkungen des apokalyptischen Briefschreibers. Man kann den antijudaistischen Furor aus diesem kurzen Brief nicht einfach herausschneiden. Er braucht Gegengeschichten, Gedenken und Erinnerungsarbeit, gerade im späten November, wo sich die Gedenktage häufen.
Briefe leisten Beziehungsarbeit, sie vermitteln nicht dogmatische Richtigkeiten, sondern halten Beziehungen zwischen Menschen aufrecht. Im Fall von Menachem und Fred haben die Briefe zunächst den Kontakt zu den entfernt inhaftierten Eltern aufrechterhalten, und Jahrzehnte später haben sie, obwohl beide damit nie gerechnet hatten, für die Wiederbegegnung zwischen den Brüdern und ihren Familien gesorgt. Johannes von Patmos will eine Beziehung zu den Christen in Smyrna herstellen. Er weiß, daß die Gemeinde verfolgt wird, und er will Trost zusprechen. Er versucht, sich in die Lage der verfolgten Christen von Smyrna einzufühlen.
Wer verfolgt wird, der benötigt Durchhaltevermögen und Geduld. Wer trösten und zum Vertrauen im Glauben auffordern will, der muss die Menschen kennen, an die er sich wendet. Läßt man die antijudaistischen Bemerkungen einmal beiseite, so ergibt sich das Bild einer bedrängten und verfolgten Gemeinde, die des Trostes bedarf. Im ersten Jahrhundert nach Christus war das nicht nur in Smyrna so. Das entstehende Christentum hatte mächtige Feinde, die die neue Glaubensbewegung aktiv bekämpften. Der Brief gilt darum auch anderen Gemeinden, Johannes nennt Ephesus, Thyatira, Sardes, Philadelphia. Der Brief gibt eine Antwort auf eine sehr aktuelle Frage: Wie läßt sich Bedrängnis in der Gegenwart aushalten?
Gegenwart der Bedrängnis
Es sind in diesem Brief Spuren zu entdecken, die in die Gegenwart reichen: nicht physische Verfolgung, aber ein verbreitetes Gefühl von Ratlosigkeit und Verunsicherung. Das Gefühl breitet sich aus, nicht mehr richtig zu wissen, was wahr und verläßlich ist. Viele Menschen werden mißtrauisch gegenüber Medien, vermuten fake news und lassen sich von Unzufriedenheit und Wut bestimmen. Unsicherheit und Zukunftsangst breiten sich aus. Politik, Wissenschaft und Kultur tun sich immer schwerer damit, für die vielfältigen Krisen von der Globalisierung über Klima und Ökologie bis zu Renten und Gesundheit gangbare Lösungswege, überzeugende Zukunftsprogramme und visionäre Projekte zu entwickeln. Die Folge ist: Die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien, Misstrauen gegenüber Wirtschaft und Managern sowie die Skepsis gegenüber den Wissenschaften hat sich vergrößert. All das bündelt sich zu einem Gefühl der Verunsicherung, welches viele Menschen in ihrem Innern spüren. Dies ist die Bedrängnis, die angesichts der komplexen Probleme der Gegenwart viele Menschen artikulieren. Skepsis und Verunsicherung drohen in lebensbehindernde Verzweiflung oder in schlichte Vereinfachungen umzuschlagen.
Diese Krise läßt sich auf den ersten Blick nicht auf religiöse Ursachen zurückführen, aber sie betrifft auch Religion und Glauben. Trost im Sinne des Smyrnabriefes bedeutet aber mehr als die simplen Appelle der Politiker welcher Partei auch immer. Sie reden ins Mikrophon: Haltet durch! Verzweifelt nicht! Verliert nicht die Hoffnung! Es gibt Zeiten, da lassen sich verzweifelte Menschen auch dieses gerne sagen. Von hier aus führt ein Weg zur Diskussion von politischen Programmen, Handlungsalternativen und Visionen. Das ist Sache der Politiker, ich will mich auf die Dimension des Glaubens konzentrieren, die Johannes in den Vordergrund rückt, wenn er an die Gemeinde von Smyrna schreibt.
„Es wird regiert!“
Johannes ermuntert die Gemeindeglieder von Smyrna zur Geduld. Er sagt: Harrt aus! Bleibt standhaft! Wenn ihr verzweifelt, dann lähmt ihr euch selbst. Und Verzweiflung lähmt nicht nur das Denken und das Handeln, sondern auch den Glauben. Es kann sein, daß ihr euch ohnmächtig fühlt, aber ihr könnt eine Gewißheit entwickeln, die der große Schweizer Theologe Karl Barth mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht hat: „Es wird regiert!“ Die Politiker, die sich groß und mächtig geben, sie kommen und gehen. Trotz aller Machtkapriolen steht die Zusage fest, daß diese Welt der Verfolgung, des Leidens und des Elends dauerhaft in der Hand Gottes bleibt. Geduld lebt von der Verheißung, daß Gott sich die Herrschaft der Welt nicht aus der Hand nehmen läßt. Manchmal – wie bei den Brüdern Menachem und Fred – mahlen die Mühlen der Zeit sehr, sehr langsam. Aber dann entsteht plötzlich ein Funke der Versöhnung, der die Gegenwart erhellt und Trost spendet.
Dazu kommt ein zweiter Glaubensgedanke. Johannes von Patmos gibt der Gemeinde in Smyrna mit, daß jede Art von Leid begrenzt ist. Jede Bedrängnis, so sehr sie Not und Leid verursachen mag, hört irgendwann auf. Kein Leid dehnt sich ins Unendliche. Jeder Schmerz bleibt begrenzt, begrenzt durch die Zusage Gottes, das Leid der Menschen auf sich zu nehmen und zu überwinden. In Jesus Christus hat Gott selbst gelitten. Deswegen lockt die Krone des Lebens, inmitten aller Anfechtungen. – Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, in Smyrna und Hoffenheim, in Jerusalem und Washington, in unserer und allen anderen Gemeinden.
Nachbemerkung: Die Erzählung über das Brüderpaar Menachem und Fred geht zurück auf einen Film von Ofra Tevet und Ronit Kertsner, Menachem und Fred, 2009. Weitere Informationen unter http://www.wolfgangvoegele.wordpress.com/2010/10/24/menachem-und-fred.