Brot des Lebens
Hungersnot am Horn von Afrika, Hilfslieferungen, die aus formalistischen Gründen in Nairobi aufgehalten werden, Menschen in Pakistan, die Angst vor der nächsten Flutkatastrophe haben, die ihnen das Dach über dem Kopf und die wirtschaftliche Grundlage entzieht. Unbegreifliche Morde in Norwegen, wo Kinder, Jugendliche und Erwachsene niedergeschossen werden. Trauer um Tode mitten aus dem Leben ein Jahr nach dem Unglück während der Loveparade in Duisburg. So wenig Brot und so viel Tod! Dagegen diese Worte Jesu vom Brot des Himmels und Brot des Lebens. Sie rufen in mir schöne Bilder aus Kindertagen wach.
Unsere Familie wohnte damals in Herford in der direkten Nachbarschaft zu einer Bäckerei. Immer, wenn die Tür der Backstube im Hinterhof offen stand, stieg der Duft frischgebackenen Brotes hinauf und zog durch unser Küchenfenster. Es gab für uns damals nichts Schöneres, als den Auftrag unserer Mutter, ein frisches, viereckiges Graubrot zu kaufen. „Und schön scharf gebacken“, sagte sie. Nur selten erhielt sie dann von uns Kindern das gewünschte viereckige Graubrot, denn nichts war – zu ihrem Leidwesen – für uns Kinder schmackhafter, als die Ecken des noch warmen Brotes abzubrechen und anzuknabbern. So waren damals auch die Worte Jesu über sich selbst als „Brot vom Himmel” und „Brot des Lebens” leicht vorzustellen und zu glauben. Noch heute kann ich mich erinnern an jene kindliche Weltordnung:
Im Himmel ist Gott. Wenn ich Brot vom Himmel zu essen bekomme, dann ist dieses Brot von Gott. Gott sorgt für mich wie Vater und Mutter. Das geschieht ganz selbstverständlich. Ich brauche nicht zu bitten und zu betteln. Gott erhält mich am Leben, gibt mir Nahrung. Mit diesem Brot kann ich wachsen, kann ich erste, kann ich neue Schritte tun, kann ich leben und sterben. Mittlerweile sind jene ersten Schritte getan, und wir sind den Kinderschuhen entwachsen. Längst lassen wir uns nicht mehr so leicht und so einfach abspeisen und machen die Erfahrung, dass selbst der, der sich nur die Rosinen herauspickt, nicht zwangsläufig auch satt wird. Es braucht schon mehr, als das Brot allein. Kein Satz ist wahrer als eben dieser, den Jesus im Matthäusevangelium aus seiner jüdischen Glaubenstradition zitiert: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“
Brot des Todes
Vor vielen Jahren sprachen wir im Predigerseminar über den Predigttext für den heutigen Sonntag. Damals hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Brot des Todes”. Eigentlich liegt es nahe: Wo es Brot des Lebens gibt, muss es auch Brot des Todes geben. Dieser Gedanke ist die die konsequente Fortführung des Zitates Jesu: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, er stirbt sogar am Brot allein, wenn er nicht noch mehr hat als das Brot allein. Denn Brot allein macht nicht satt, erhält nicht am Leben. Zu einem erfüllten Leben, das einen im wahrsten Sinn „lebenssatt“ sein lässt, braucht es mehr als Brot allein. Wovon lebe ich? Allein vom Essen und Trinken, von meiner Arbeit und dem Geld, meiner Familie und meinen Freunden, von den Ideen und Träumen, die ich im Kopf und in meinem Herzen trage? Lebensnotwendig brauche ich geglückte Begegnungen und Beziehungen, die Erfahrung, gebraucht und geliebt zu werden. Für niemanden da zu sein und von niemandem gebraucht zu werden; nicht mehr lachen und nicht mehr weinen zu können, dies alles ist Brot des Todes, Tod am Brot allein. Dagegen bedarf es eines Geschenks des Himmels, da braucht es ein anderes Brot, damit sich der Geschmack am Leben (wieder) einstellt.
Brot für die Welt
Gott will, dass jeder und jede von uns seinen Lebenshunger stillen kann. Deshalb machte uns Gott das „Geschenk des Himmels”, deshalb wurde Gott in Jesus von Nazareth Mensch unter Menschen, wurde uns Brot zum Leben, um uns gegen alle Todeserfahrungen mitten im Leben und auch am Ende unseres Lebens zu stärken. „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten”, so sagt und verspricht es uns Jesus Christus. Das ewige, das himmlische Leben, hat in ihm auf unserer Erde Gestalt gewonnen. Jedes Mal, wenn wir gemeinsam das Abendmahl feiern, soll uns dies im wahrsten Sinne des Wortes be-greif-bar sein: Wir können es riechen, fühlen, schmecken, essen. Es macht uns widerstandsfähig, weil das Brot des Lebens die Kraft dazu gibt und den Geschmack am Leben. Wir sind nicht allein. Wenn ich durch das, was ich sehe oder erlebe, erschüttert werde und mir Zweifel kommen – der Tisch des Herrn bleibt für mich gedeckt.
Aber ist das schon alles? Gerade in diesen Tagen spüren wir, wie zynisch es wäre, wenn es allein darum ginge, dass der Einzelne genug Kraft für sein individuelles Leben bekommt, dass er oder sie aushalten kann, was nicht zu ändern ist, dass er oder sie getröstet und ermutigt wird, ausgerüstet für die anstehenden Aufgaben? Das Brot, das vom Himmel kommt, kann sich nur darin lebendig erweisen, dass es Brot für die Welt ist. Die Beziehung zu Gott ist nicht ohne die Beziehung zu den Menschen zu denken. Wenn wir das Brot nicht mit der Welt teilen, verteilen wir nur aufs Neue „Brot des Todes“. Geschieht so etwas vielleicht aus Nachlässigkeit, Bequemlichkeit, dem Gefühl der Ohnmacht oder aus mangelndem Vertrauen in die eigene Kraft und Stärke, die eigentlich Kraft und Stärke Gottes ist?
Jeder und jede von uns empfängt (heute) im Heiligen Abendmahl das Brot, das wir brauchen. Nicht nur hier sind wir mit Jesus Christus und miteinander verbunden, sondern weltweit mit unseren Schwestern und Brüdern. Jesus, der uns als der Gastgeber mit „Brot vom Himmel“ speist, ist das „Brot des Lebens“ in Person. Durch ihn haben wir die Kraft, unsere Hände zu öffnen, um zu empfangen und einander zu geben. Wir werden nicht müde, ihn, der das Brot des Lebens ist, zu bitten, dass er segnet, was wir von ihm empfangen und, durch ihn gestärkt, weitergeben. Wir dürfen sicher sein: Heute und morgen begleitet er uns, Jesus, unser Herr und Bruder.