Der Jesus, der uns heute begegnet, brüskiert! Ist das der „Jesus lebt“? Oder der Heiland der Seelen? Oder der „Ewigvater und Friedefürst“? Wohl kaum! Man ist versucht, an einen Jesus zu denken, der stört, irritiert, sich in den Weg stellt. Können wir da noch fröhlich singen (mit EG 384): „Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach“ und in der 2. Strophe: „werden gleich“? Das werden wir uns seit heute ordentlich überlegen! Nachfolge war bislang scheinbar leicht, aber was bedeutet sie heute? Wir werden neu überschlagen und rechnen, was uns die Nachfolge Jesu bringt und ob es sich lohnt, für IHN „in der Welt der Welt (zu) entfliehen“. Unser Text bietet uns für das „Berechnen“ das lateinische Wort computare an, Computer, und lädt ein, sich sehr klar über diesen Jesus zu werden. So lasst uns noch einmal den Predigttext hören, den ich jetzt in einer eigenen Übersetzung vorlese (V.25-33):
Es zogen aber mit ihm sehr viele Leute, und plötzlich drehte er sich zu ihnen um und sagte zu ihnen: Kommt einer zu mir und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, ja auch das eigene Leben, kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz erträgt und geht hinter mir her, kann nicht mein Jünger sein. Da will einer von euch einen Turm bauen – setzt er sich nicht zuallererst hin und berechnet (lat. computare) die Kosten, ob er die Fertigstellung schafft?! Damit nicht irgendwann – er hat das Fundament gelegt und hat dann nicht mehr die Kraft zur Vollendung – alle Zuschauer anfangen, über ihn zu lachen: Dieser Kerl hat angefangen zu bauen und kann es nicht mal fertig stellen! Oder welcher König zieht los in den Krieg, um einen anderen König zu bekämpfen und setzt sich zuallererst hin und überlegt, ob er überhaupt dem Anderen mit 10.000 begegnen kann, der mit 20.000 gegen ihn antritt? Andernfalls wird er, solange dieser noch weit weg ist, umgehend eine Gesandtschaft schicken und um Friedensverhandlungen bitten. Also: Jeder von euch, der sich nicht von seinem gesamten Vermögen trennt, kann nicht mein Jünger sein.
Die Szene können wir uns gut vorstellen: Jesus, der in Windeseile bekannt gewordene Prediger und Heiler, zieht durch die Lande, „begleitet“ von einer Riesenmenge von staunenden und ergriffenen Menschen. Es muss so gewesen sein wie bei einem Papstbesuch, oder wenn sich die Menschen beim diesjährigen Kirchentag in Hamburg drängeln, um noch in den Saal zu kommen, wo die ehemalige Bischöfin Margot Käsmann sprechen oder Eckard von Hirschhausen eine Bibelarbeit halten wird. Prominent ist er, der Jesus. Vielleicht wollten einige auch nur im Dunstkreis dieses Besonderen sein, seinen Rocksaum ahnen, in seinem Schatten stehen oder auch sogar berühren. Einmal nur seine Hand drücken! Oder ein Autogramm kriegen! Oder von IHM angelächelt werden!“ Das können wir doch verstehen? Ich kann! Dann plötzlich – wie aus dem Off – eine Wendung, ein Stop. Nur langsam bleibt die Menge stehen. Sie droht Jesus zu überrollen. Aber ER hat einen klaren und festen Stand. Viele waren das nicht gewöhnt. Es war so schön, mit ihm mitzuziehen: „Lasset uns mit Jesus ziehen …“ Dieser Welt mit ihren Zwängen, ihrer Not, ihrer Ausweglosigkeit, ihrem Streit um Arbeit, ihrer Sorge um genügend Energie, ihrer Angst vor der Vermüllung entfliehen. Jetzt plötzlich ein Stop. Mitten im Leben. Alles lief doch so gut: die Ehe, die Gesundheit, der Beruf. Es hätte nicht besser laufen können. Mehr noch: So hätte es bleiben können.
Die Bibel ist ein Buch, in dem Gott dem Menschen in den Weg tritt. Alle Möglichkeiten menschlichen Tuns und Verhaltens werden durchbuchstabiert. Gott tritt ihm entgegen. Plötzlich, unerwartet, unberechenbar. Da will ein junger Mann zu Gott, will das „ewige Leben“ haben. „Was muss ich tun?“ Was würden wir sagen? Gottesdienste besuchen, Menschen helfen, sich engagieren, Menschen besuchen, um die sich sonst niemand kümmert, Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Und es gibt junge Leute, die all dies machen – und die spüren, dass noch etwas fehlt. „Was soll ich denn noch machen?“ Jesus, der auch so eine Geschichte erzählt hat, stellt sich ihm in den Weg … (Lkparr 18,18ff) und findet seinen wunden Punkt: seinen Besitz, an den er sein Herz gehängt hat. Gott stört, wie es in einem schönen neuen Kirchenlied heißt, „die frommen Kreise“. Er tritt uns in den Weg. Gott stört uns. Jesus hat das in seinem Leben auch getan. Wir ahnen, dass er der ist, der Gottes eigentliches Werk tut, nämlich weder in Frommsein noch in Arbeit zu ersticken und erstarren – und damit auch Andere zu ersticken und zu erfrieren. Merken wir die Bedeutung jenes Gebotes: „Du brauchst dir kein Bildnis von Gott – und auch nicht von Jesus zu machen!“?
All dies wird den Menschen erst später bewusst, als sie aus ihrer Schockstarre erwachen. Damals, als sie mit Jesus gezogen sind und dachten, sie würden mit ihm im Paradies landen. Später haben wir uns daran erinnert, was Jesus wirklich gemeint hat – und dass er nur unser Bestes wollte und will. Wir können und dürfen und brauchen uns nicht einzurichten in dieser Welt. Wir sind unterwegs, ein wanderndes Gottesvolk, mit dem in der Hand, was wir heute zum Leben brauchen. Wie damals Israel in der Wüste, als es von Manna und Wachteln gelebt hat (Ex 16), sozusagen von der Hand in den Mund. Erinnern wir uns an das Thema des Kirchentags „Soviel du brauchst“, und an das Nachdenken darüber, was wir eigentlich und wirklich brauchen. Erst jetzt wird uns klar, dass Jesus uns damals nicht zu einem Dschihad aufgerufen hat, zu einem Selbstmordattentat, sondern dass er wollte, dass wir leben, richtig leben, einfach leben – und nicht nur überleben. Darum seine harten Worte über „Nachfolge“. Was haben wir getan, als sich Gott uns in den Weg gestellt hat? Wenn ich auf mein Leben sehe: Wann gab es einmal einen Ruck in meinem Leben, ein Stop!, ein plötzliches Halt! Und wie habe ich reagiert? Wie jener „reiche Jüngling“, der alles richtig gemacht hat mit seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten und seiner Fürsorge für Menschen? Lukas erzählt, dass er damals traurig wurde und Matthäus wie auch Markus berichten, dass er traurig weggegangen sei. Woran hängt unser Herz? Was wollen wir auf keinen Fall auf- und hingeben? Was ist uns heilig? Was stützt und hält uns in unserem Leben? (Vielleicht können wir uns hier und jetzt ein wenig Zeit nehmen. Und uns selber klar werden, was für mich unaufgebbar ist, was meine Schmerzgrenze erreicht, wenn ich das aufgebe und loslasse.)
Martin Luther: “Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott”. Und genau hier stellt ER sich mir in den Weg. Plötzlich, unerwartet, unberechenbar. Kein PC kann das Gelingen von Leben berechnen. Kein Rechner kann Sicherheit bieten – im Zweifelsfall stürzt er ab: Gott stellt sich in den Weg. Zu unserm Wohl. Für unser Leben. Gott sei Dank.