Ein Brief – falsch zugestellt?
Sie kennen das auch: Im Briefkasten ist ein falscher Brief gelandet. Beim schnellen Austeilen wurde die Hausnummer verwechselt, die Straße. Sie merken’s sofort an der Adresse, spätestens beim Inhalt. Die Manager-Zeitschrift gehört mir nicht, auch nicht die Mitteilungen der Bienenzüchter oder die Postkarte mit den Herzchen aus Venedig.
Bei mails hat man schon ganz dramatische Geschichten über dergleichen gehört: die Chefin liest die Frotzeleien über sie selbst, die eigentlich nur die Kollegen sehen sollten, eine Beschwerde erreicht nicht nur den Betroffenen, sondern denunzierend die halbe Welt. Die sms für den Herzallerliebsten lesen Menschen, die davon nicht wissen dürfen. Gute Gründe, warum man fremde Briefe nicht lesen darf. Aber schon wer Geschichtsforschung betreibt, tut genau dies. Briefe und Urkunden lesen und verstehen, die eigentlich an andere gerichtet sind, die fremd sind, manchmal auch nicht leicht zu entschlüsseln. Und doch wichtig werden können für unser Bild von der Welt.
Sie haben den Abschnitt gehört, der heute Grundlage für die Predigt ist. Ein Stück aus dem Brief an die Hebräer. Und es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen, dass der Brief eigentlich bei uns an der falschen Adresse ist. Wir sind keine Hebräer, keine Israeliten, keine Juden. Aber es geht um Jesus, sollten wir dann nicht doch einen Blick drauf werfen können? Könnten wir in den Brief an die Hebräer mit hinein linsen, ohne selbst solche zu sein wie es die Apostel, die Jünger waren? Da ist aber von Jesus als Hohem Priester die Rede. Dabei gibt es bei uns in der evangelischen Kirche noch nicht mal einfache Priester. Dann tauchen auch noch die Namen Aaron und Melchisedek auf – Aaron kennt vielleicht noch jemand als Bruder von Mose. Kaum jemand hat schon mal von Melchisedek gehört. Unser Brief? Oder doch nicht? Es zeigt Ihr Vertrauen in den festgelegten Kanon, in die Schrift, wie wir sie heute haben, dass Sie den Brief nicht geradewegs wieder zurücksenden: Adressat unbekannt. Es zeigt ihre hohe Bereitschaft, sich mit allem, was Jesus angeht, zu beschäftigen, selbst wenn es befremdlich ist. Das Sie bereit sind, einzutauchen in eine fremde Glaubenswelt, um die eigene vielleicht dann besser zu verstehen, besser ausdrücken zu können. Und durch die ersten Adressaten vielleicht auch mehr über Jesus zu erfahren.
Ein Hoher Priester jenseits der Katastrophe
Die ersten Adressaten: jüdische Menschen, die sich an Jesus halten. An Jesus als den Hohen Priester. Heute gibt es keinen Hohen Priester mehr. Keiner wird mehr berufen, nicht durch das Volk, nicht durch eine Regierung. Keiner wird mehr gesalbt. Schließlich ist der Tempel in Jerusalem, wo Priester und Leviten tätig waren, seit dem Jahr 70 unserer Zeitrechnung zerstört. Selbst wenn uns Menschen mit Namen Levi oder Cohen oder Kahn oder Kuhn als Nachfahren der am Tempel Tätigen heute noch begegnen. Eine Aufgabe im ursprünglichen Sinn haben sie nicht mehr. Das ist auch unseren Briefadressaten gegenwärtig. Ja, die Auswirkung der Katastrophe: der Tempel in Trümmern, die steht ihnen ja sogar vor Augen. Und wirkt sich aus und lässt nach Hilfe, nach einer Lösung Ausschau halten. Welche Hoffnung dann also zu entdecken: Jesus, ein Gesalbter. Jesus: ein Hoher Priester für uns.
Wenn eine christliche Gemeinde heute mit einem Hohen Priester mal etwas zu tun hatte, dann am ehesten mit dem, der sein Wort beim Prozess Jesu in die Wagschale wirft: „Besser, es stirbt einer für das Volk, als dass alle verderben“, sagt Kaiphas im Evangelium nach Johannes (11,48). Besser, die Römer kriegen ihr Drachenfutter und dann ist es gut. Besser ein Kollateralschaden und der Lehrer und Gottesmann aus Galliläa kommt um, als dass wegen seiner Predigten und Zeichen ein Aufruhr ausbricht und dann die halbe Stadt abgemetzelt wird. Kaiphas ist ein Politiker, der sich in schwieriger Lage für das kleinere Übel entscheidet. Einer, der Bauernopfer kennt und tätigt. Die Menschen, an die unser Hebräerbrief geht, sollen einen anderen Hohen Priester vor Augen haben. Einen, der sich ganz hinein gibt in sein Amt. Der bis zum letzten Blutstropfen einsteht für seinen Auftrag. Mit allen Sinnen aufgeht in dem, was er zu tun hat. Der als der, der Gott am nächsten tritt, weiß, dass er stellvertretend da steht und handelt für das ganze Volk und Gottes Erbarmen erfleht. Gottes Kraft, alle Sünde aufzuheben, alle Verwerfung, allen Abgrund. Der gar unter Brot und Wein wie Melchisedek, Salems König, Segen schenkt seit Urzeiten.
Priesterliches Handeln – von Gott ermöglicht
Judika heißt der Sonntag heute: Herr, schaffe mir Recht, verschaff mir Recht, eröffne mir den Weg zum Recht, lass mir Gerechtigkeit widerfahren. Judika: der Sonntag erinnert an Gottes Wirken an uns. Durch Gott haben wir Zugang zum Recht gegenüber dem Unrecht, was uns begegnet. Durch Gott widerfährt uns aufbauende, hilfreiche Gerechtigkeit, selbst wenn wir gegen Gott Unrecht tun. Eben darauf vertraut auch der Hebräerbrief mit dem Hinweis auf das priesterliche Amt seit Aaron, dem Mosebruder, ja, sogar seit Melchisedek, dem König von Salem, der dem Abraham Brot und Wein darbot und ihm Gottes Segen zusprach. Dass es den Hohen Priester gab und gibt, dass es den Tempel gab, dass Opfer möglich waren, dass es Sühne und Aussöhnung gibt, das alles ist nach dem Verständnis des Hebräerbriefs, ist nach dem Verständnis des ganzen Judentums, Gott zu verdanken. Gott ermöglicht die Brücke. Gott ermöglicht neuen Zugang. Opfer sind Gottes Opfer. Nicht nur in dem Sinne, dass Opfer Gott gehören. Sondern dass Gott selbst sie qualifiziert, sie ausgezeichnet hat und zur Verfügung stellt. Die Opfer im Tempel sind Geschenke Gottes, einen Weg zu ihm zu finden. Vor Gott zu kommen, Kontakt aufzunehmen, Sühne zu leisten, Dank auszudrücken, eigenes Elend und Fürbitte für andere vorzutragen.
Jesus, unser Bindeglied zu Gott, unser Bindeglied zum Heil
Das Gleiche bekennt der Hebräerbriefschreiber nun auch von Jesus. Einerseits kommt Jesus aus der Mitte seines Volkes. Ein Repräsentant, ein Stellvertreter. Andererseits ist er berufen von Gott wie einst Aaron. Er ist ein Christus, ein Gesalbter, ein Messias – und der Hebräerbrief schlägt den Bogen nicht zur biblischen Königssalbung. Schließlich gibt es neben dem König noch einen, der gesalbt wird: eben der Hohe Priester. Aus dem Volk und zugleich von Gott her gerufen und beauftragt: so kann er der rechte Priester im Tempel die Brücke schlagen zwischen Gott und den Menschen, zwischen den Menschen und Gott. So ist alles an Abstand und Brüchen, alles an Entfernung und Verwerfung, alles an Sünde überbrückt. Und so tut es Jesus. Ein wahrer, rechter, gesalbter, berufener Hoher Priester. Er überbrückt alle Distanz. Wird selbst zum Bindeglied zwischen Gott und Mensch, Mensch und Gott. Der Messias, der Christus Jesus: ist ganz bei den Menschen, ist ganz bei Gott. Bringt das Leid vor Gott und empfängt bei ihm Leben für alle. Bringt Tod vor Gott und nimmt von ihm die Erhöhung, Würdigung, Annahme. Bringt das Unheil vor Gott und empfängt Gottes Heil in Ewigkeit zugunsten der Vielen. Er bringt sein Leben und Leiden vor Gott, stellvertretend. Und Gott nimmt es zu sich, hebt es auf, verwandelt, macht davon los, erlöst. Damit Frieden einkehre, Vollendung, Schalom.
Wir haben den Hebräerbrief gelesen, der gar nicht an uns gerichtet ist. Und können wahrnehmen: Nicht nur ist von uns auch die Rede. Wir sind sogar Nutznießer, haben teil dran. Der Segen und Frieden und das Leben Gottes ergreift auch uns. Kommt uns zugute. Ist umfassend und machtvoll. Wir lesen gute Nachricht auf offener Karte, hören die frohe Botschaft von dem, der Brücken schlägt. Zwischen Gott und den Menschen. Zwischen Christen und Juden. Zwischen Menschen und Gott. Die Katastrophe Karfreitag liegt hinter uns. Wir gehen mit den Katastrophen dieser Welt immer neu auf Karfreitag zu. Der Hebräerbrief erzählt uns: Jesus, der Hohe Priester, eröffnet uns jenseits der Katastrophe Gottes Gegenwart, Gottes Heil und Leben.