Das Geheimnis der Treue Gottes zu Israel
Das Gottesvolk - achtfach von Gott ausgezeichnet, ein für alle Mal
Predigttext | Römer 11,25-32, Themenpredigt zum Israelsonntag |
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Kirche / Ort: | Ev. Kirche / Schriesheim b. Heidelberg |
Datum: | 04.08.2024 |
Kirchenjahr: | 10. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Professor Pfarrer Dr. Klaus Müller |
Predigttext: Römer 11,25-32 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Ganz Israel wird gerettet werden 25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Das Plus vor der Klammer
„Ich will euch, liebe Schwestern und Brüder, ein Geheimnis eröffnen“ (Röm 11,25), sagt der Apostel Gemeinde in Rom, das Geheimnis des Weges Gottes mit seinem Volk Israel. Und wenn es um ein Geheimnis geht, dann ist eines sicher nicht am Platze: das prompte Urteil, die allzu schnelle Antwort, geboren aus eigener Klugheit und nicht aus der Einsicht in Gottes Gedanken.
Schnelle Antworten hatten sie parat, die jungen Christen in der alten Hauptstadt des Weltreiches: „Klar, nachdem es nun eine Kirche gibt, die an den Erlöser Jesus Christus glaubt, hat das alte Gottesvolk Israel ausgedient. Es gibt ja ein neues auserwähltes Volk; Gott hat Israel doch wohl verstoßen, man kann’s ja schließlich ablesen überall in der Geschichte.“
Die hochmütigen christlichen Worte aus Rom rufen Paulus zu einem der leidenschaftlichsten Abschnitte seiner Briefe, den er je geschrieben hat, den Kapiteln 9 bis 11 im Römerbrief. „Wie könnt ihr meinen, Gott habe sein Volk verstoßen? Das sei ferne, keineswegs! Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er sich zuvor ersehen hat!“ (11,1f) Gewiss ein langer Weg, den Gott da mit seinem Volk und den Völkern zurücklegt, mit vielen Aufs und Abs – doch bei alledem, was da „unterwegs“ passieren mag, steht das „Plus vor der Klammer“.
Vom Mysterium Israeltheologie
Und so nimmt der Apostel seine junge Gemeinde bei der Hand und mahnt sie zu einer Haltung, die ihm einzig angemessen zu sein scheint einem Geheimnis gegenüber: Demut: „Erhebt euch nicht über Israel, eure Meinung nicht und eure Fäuste auch nicht – denn Gott geht seinen Weg mit diesem Volk bis zum Ende der Zeiten.“ Die Diktion im Griechischen bereits ist tastend und im Deutschen noch zaghafter: Nicht „Ich verrate euch jetzt mal ein Geheimnis…“, sondern „Ich möchte euch nicht in Unkenntnis darüber lassen über dieses Geheimnis“ oder so ähnlich. Zweimal minus ergibt plus und doch springt Paulus nicht gleich und sofort zum freudigen Bekenntnis – er muss seine Römer langsam, behutsam aus dem Minus ihrer Nichterkenntnis herausführen. Man oder frau mag es Pädagogik nennen, Anagogik oder gar Mystagogik – jedenfalls duldet die Aufgabe weder Rute noch Brechstange.
Nun ist „Geheimnis“ schon in sich ein ehrwürdiges Wort, bei Paulus im Besonderen. Es steht im Korintherbrief für das „Geheimnis Gottes“ (2,1), das sich in Christus dem Gekreuzigten offenbart (2,2), den Mächtigen dieser Welt verborgen, denen aber eröffnet, die Gottes Geist empfangen haben (2,7ff). „Geheimnis“ hat mit göttlicher Offenbarung zu tun und atmet heilvolles Eschaton. Das Spannende ist nun, dass Paulus an besagter Stelle im reiferen Römerbrief diesen starken Begriff von Mysterium auf den Israelweg bezieht. Der Apostel will vom Christusgeheimnis nicht sprechen ohne das Geheimnis des Weges des Gottesvolkes Israel im Blick zu behalten. Dieser Spannung wird Paulus ein Verkündigerleben lang verpflichtet bleiben. Möglicherweise ein noch größeres „Geheimnis“ verbindet sich mit dem Weg, den das politische Israel geht: Leiden, Krieg, Blut und Tränen.
Ich halte inne und schaue auf das, was vor der großen israeltheologischen Klammer der Kapitel 9 – 11 steht: Auch dort Geheimnisvolles. Denn wem sollte auf Anhieb einleuchten, wie der große heilsgeschichtliche „Schmerz“ des Apostels zusammengehen kann mit dem Lobpreis der Gnadengaben Gottes an sein Volk. Da braucht es Verstehenshilfen für ein erneuertes Verhältnis zum Volk Israel aus Einsicht in das Geheimnis der Liebe Gottes zu seinen Erwählten. Das große Plus vor der Klammer – es wird seine Bestätigung und Bekräftigung erfahren im Spitzensatz V29: Unumstößlich ist das charismatische Plus des Gottesvolkes.
Mit Paulus dem Geheimnis auf der Spur
Die Predigt am Israelsonntag mag Paulus darin folgen, wie er den Römern die Augen öffnet für das Geheimnis der Treue Gottes zu Israel; mag zusehen, (1.) was er über den Anfang des Weges Israels sagt, (2.) was er über das Ziel dieses Weges sagt und (3.) was unterwegs geschieht zum Heil der Völker der Welt.
Vom Anfang des Weges
Die Beschreibung des Anfangs, der schon über das Ganze bestimmt – in einem Satz vom Ende her gefasst: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (11,29). Das ist der Wegbeginn des Gottesvolkes: Gottes Gaben, Charismen, „Geistesgaben“ an Israel, die Berufung auf den Weg der Nachfolge. Wohlgemerkt: Noch lange vor der Kirche, weit mehr als ein Jahrtausend bevor es Gemeinde Jesu Christi gibt, gibt es Berufung und Gaben durch den Geist Gottes! Was sind das für Charismen, für Geistesgaben an Israel? Paulus hat da sehr konkret gesprochen. In Röm 9 am Anfang nennt er mit der Zahl überfließender Vollkommenheit acht Gottesgaben an Israel, acht Merkmale der Existenz des Gottesvolkes der Juden als Gemeinschaft der vollkommen Beschenkten:
Erstens die Kindschaft. Die Gabe der Gotteskindschaft. Das Vorrecht zu Gott Vater sagen zu dürfen, das dann wir Christen durch den Bruder Jesus auch bekommen. „Abba“ – bis heute das hebräisch-aramäische Wort für Vater. Die Gabe der Gotteskindschaft steht vorne an. In ihr ist alles andere beschlossen; und wenn wir Christen hier verstehen, dann haben wir alles verstanden über das Volk Israel. Die Juden sind Gotteskinder, es geht nicht mehr deutlicher, sie sind Gotteskinder noch bevor der eine Gottessohn den Völkern der nichtjüdischen Welt die Gotteskindschaft eröffnet.
Mit der Herausführung aus Ägypten erweist sich Gott als der liebende Vater, der die Kinder in die Freiheit ruft: „Ich rief meinen Sohn aus der Wüste“, sagt der Prophet Hosea (11,1) und beschreibt damit eben diese Kindschaft Israels zum himmlischen Vater. Und es bleibt dabei: Gottes Gaben und Berufung können und werden ihn nicht gereuen.
Zweitens: die Herrlichkeit. Israel wird teilhaftig der Herrlichkeit Gottes. Gegenwart Gottes: „Da bedeckte die Wolke die Stiftshütte, das Zelt der Begegnung mit Gott und die Herrlichkeit Gottes des Herrn erfüllte die Wohnung“ (2.Mose 40,34). So erzählt die Bibel die Begegnung Gottes mit seinem Volk in jener Herrlichkeit und Klarheit, die später die Hirten auf den Feldern von Bethlehem wieder umstrahlen wird. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen!
Drittens: der Bund oder die Bundesschlüsse. Dass sich Gott verbindet und verbündet mit Israel – davon lebt dieses Volk, davon, dass Gott ausspricht, was so oft wiederkehrt in der Bibel: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein“. Angefangen mit Noah, Abraham und dann mit Israel durch alle Zeiten hindurch. Zum Bund gehört die Bundestreue beider Partner: Gottes Gaben und Berufung können und werden ihn nicht gereuen. Er ist treu.
Viertens: das Gesetz als gute Lebensordnung. Die Gebote Gottes sagen dem Volk, wie es seinerseits treu dem Bundesschluss mit Gott leben kann und soll. Ein geistliches Vorrecht Israels, Gottes gute Lebensordnungen kennen gelernt zu haben am Sinai! Ein Schatz, die Tora, mitten darin die heilsame Einrichtung des Sabbat und das Gebot der Liebe zu Gott und dem Mitmenschen.
Fünftens: der Gottesdienst. Israel ist das Volk des Gottesdienstes, der besonderen Möglichkeit Gott zu begegnen. Im Gebet das Gespräch mit ihm zu suchen; im Lesen und Auslegen der heiligen Schriften sich der Zusagen Gottes zu vergewissern; im Singen ihn zu loben und zu preisen.
Sechstens: die Verheißungen. Am Anfang des Weges Israels stehen Gottes Verheißungen: „Ich werde dich zum großen Volk machen“, „ich werde dich ins gelobte Land führen“, so spricht Gott, „nicht weil du so vollkommen, so untadelig bist, sondern weil ich dich liebe“ (5. Mose 7). Die Verheißungen Gottes begleiten dieses Volk, immer und durch alle Täler hindurch. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die im Dunklen wohnen, wird es hell scheinen“ – wir Christen dürfen diese Verheißungen mithören, aber wir sollten sie nicht übertönen mit christlichem Erfüllungsenthusiasmus. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
Siebtens: die Väter und Mütter des Glaubens, die im Judentum in so gut wie jedem Lobspruch benannt und erinnert werden: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rachel, die auch für die neutestamentliche Gemeinde nach Aussagen des Hebräerbriefes unbedingt mit hinein gehören in die „Wolke der Zeugen“, die uns vorausgeht und die uns umgibt.
Achtens: Christus dem Fleische nach. Noch ein letzter großer Grund Israel zu preisen: das jüdische Volk entlässt aus sich heraus den Christus, den Retter und Gesalbten für die Völkerwelt. Nota bene: aus ihnen kommt der Christus, er gehört ihnen nicht einfach, wie er auch von der Christengemeinde schlichtweg nicht rundweg in Besitz zu nehmen ist. Christus seiner irdischen Herkunft nach, so weiß auch Paulus, ist Jude. Das Heil kommt von den Juden, darum geht es auch bei jenem Gespräch zwischen Jesus und der syrischen Frau am Brunnen.
So beschreibt der Apostel Paulus das Gottesvolk. Achtfach von Gott ausgezeichnet, ein für alle Mal. Das ist der rechte biblisch begründete Ausgangspunkt von Israel zu reden. Gott hat Israel beschenkt und berufen zum Volk der Erwählung und: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen!
Apropos „achtfach“, also sieben plus eins: Sollte da etwas aufscheinen vom Geheimnis der Kirche als Gemeinde der „Acht“, die aus der siebenfach gesegneten Gottesgemeinschaft hervorgeht als das Additum, meinetwegen das superbonum additum, jedenfalls aber als Additum zum Ganzen, in sich schon Vollgültigen!? Ja, Jesus aus Israel geboren, wird am achten Tag den Schritt zur Völkerwelt tun und damit Heil für die Vielen erwirken und die Gerechtigkeit der Sieben erweisen.
Vom Ziel des Weges
Dem Anfang des Weges steht sein Ziel gegenüber, das Ziel der Wege Gottes mit Israel: „Ganz Israel wird gerettet werden.“ Punktum. Nicht mehr und nicht weniger. Das ganze Geheimnis steckt ja schon in jener Spitzenaussage: Seine Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Daraus ergibt sich die Zielbeschreibung sozusagen logisch: „Ganz Israel wird gerettet werden“ (11,26). Nicht allzu viele Sentenzen stehen im jüdischen wie im christlichen Schrifttum zueinander in solch direkter Entsprechung. Dieser Geheimnissatz des Paulus gehört dazu. In der rabbinischen Version in Mischna Sanhedrin 10,1: „Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt.“ Bei den Rabbinen biblisch begründet mit Jes 60,21: „Dein Volk, sie alle sind Gerechte; auf immer sollen sie das Land besitzen, Spross meiner Pflanzung, Werk meiner Hände, mich zu verherrlichen.“ Auch Paulus schöpft seine Gewissheit aus der Schrift. Nestle „am Rande“ weist für die Verse 26b.27 geradezu auf eine kleine Kompilation biblischer Passagen hin. Jes 59,20f; Jes 27,9; Jer 31,33 beschreiben im Verbund mit Ps 14,7 was gemeint ist: Gott kommt zur Rettung seines Bundesvolkes Israel. Gott das Subjekt der Erlösung Israels! Ich belasse es bei der schlichten Beobachtung am Text, dass die Diktion des Paulus an dieser Stelle keinen Anlass gibt, im Blick auf die Erlösung Israels von einem anderen Subjekt zu sprechen als von Gott selbst. Der Apostel der Christusbotschaft von Mutterleibe an wirft die Hoffnung auf das Heil Israels ganz und gar auf Gott selbst – das lehrt ihn seine Bibel. Die Zielbeschreibung des geheimnisvollen Weges mit Israel lautet mithin Gottes Barmherzigkeit, Erbarmen und nichts als Erbarmen (V 32), wenngleich zuvor auch reichlich von Ungehorsam die Rede sein muss. Zwischen diesem Anfang und diesem Ziel verläuft Israels Weg. Zwischen seiner achtfachen Auszeichnung und der Zusage endgültigen Heils. Das große Plus gilt über diesem Weg. Alles was zwischenzeitlich an Unverständlichem, negativ Anmutendem geschieht, geschieht innerhalb dieser Klammer, unter dem positiven Vorzeichen des göttlichen Signums.
Was unterwegs geschieht zum Heil der Völker der Welt
Was sich unterwegs nun in der Tat ereignet, hat etwas höchst Geheimnisvolles an sich, das Paulus seiner Gemeinde zu erklären versucht: Jesus Christus, geboren aus dem Judentum, tritt auf in Israel – und sie bleiben Juden. Sehen keinen Anlass etwas anderes zu sein als jüdisch. Israel verhält sich „spröde“ zur Christusbotschaft. Pórosis ist das griechische Wort, das Paulus wählt, in dem etwas „Hartes“ mitschwingt, etwas „Unnachgiebiges“ – schwer zu sagen, jedenfalls nicht jene steinharte Verstockung (für die „Verstockung“ des Pharao benutzt Paulus in 9,17f das sklerýnein) und schon gar nicht die Verwerfung oder was sonst hier gerne assoziiert werden mag. Diese „Porosis“ ist kein festgezurrter Endzustand, sondern so etwas wie ein zwischenzeitliches Befinden. So ist es „geworden“ (gégonen), sagt Paulus mit auffallend wenig Emphase, kaum auszumachen, wer bei diesem Geschehen in welcher Weise aktiv gewesen ist. Aber es ist eben doch etwas, das jenen Schmerz verursacht, von dem Paulus in 9,2 spricht.
Da schickt sich also die junge Gemeinde an, das Volk der Juden zu verurteilen und zu sagen: „Seht ihr, die Ungläubigen, jetzt hat sie Gott verstoßen; sie glauben nicht an das Evangelium!“ Und genau hier setzt Paulus ein und warnt so energisch er kann: „Halt, ihr überheblichen Christen, versteht ihr denn nicht? Die Juden bleiben Volk Gottes, daran gibt es nichts zu rütteln. Ja, sie „mussten“ in gewisser Weise dem Evangelium widersprechen, damit die Botschaft ihren Weg nehmen konnte über das Judentum hinaus zu den Weltvölkern.“ „Versteht ihr das?!“, sagt Paulus. „Israel musste sich abwenden, bis die Fülle der Heiden nun ihrerseits eingegangen ist in die Gotteskindschaft. Das dürft ihr Israel nicht zum Vorwurf machen; und das Wichtige: Sie bleiben bei all ihrer Gegnerschaft dem Evangelium gegenüber Geliebte bei Gott, in der unauflöslichen Glaubensbeziehung mit Gott, ohne dass sie den Glauben der Christen an Jesus den Heiland mit vollziehen – das ist zugegebenermaßen ein Mysterium!“ Vielleicht hat es auch Paulus selbst auf seinem Weg vom „Schmerz“ in Kap 9 bis hierher in Kap 11 noch besser verstanden. Der Christusverkündiger an die Weltvölker, der nichts anderes weiß als Christus den auferstandenen Gekreuzigten, der das Licht des Evangeliums unter die Völker bringt – er ist derjenige, der Israels eigene Gottesbeziehung respektiert und hochachtet.
Viele Jahrhunderte später wird ein protestantischer Theologe den Neuaufbruch in der Christologie daran festmachen, dass wir christlicherseits „mit dem jüdischen Nein zu Jesus Christus etwas Positives anzufangen“ lernen. Friedrich-Wilhelm Marquardt - und mit ihm ist in den siebziger Jahren schon fast (!) so etwas wie ein theologisch-kirchlicher Konsens unserer Tage formuliert. Es steht so oder ähnlich in nahezu allen kirchlichen Grundlagentexten und das ist gut so: Die Kirche hat, was sie ist, Israel zu verdanken. Wir leben von dem Heiland, der aus ihren Reihen kommt; wir leben aus den Verheißungen, die ihnen gegeben sind und dann auch alle Völker mit umgreifen; wir leben von ihren Psalmen und Gebeten; wir leben auch von ihren Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe, die wir lernen aus der Bibel der Juden, unserem „alten“ Testament, aus dem auch wir schöpfen. So ist unser Verhältnis nicht das von Erben zu Verstorbenen, sondern das einer lebendigen wechselseitigen Partnerschaft im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott Saras, Rebekkas, Leas und Rachels, den Vater Jesu Christi und unser aller Vater im Himmel. Vor diesem Hintergrund verbietet sich vollends jede Form von Judenfeindschaft. Der Israelsonntag ist willkommener Anlass an all das biblisch begründet zu erinnern.
Israelsonntag – Zeichen christlich-jüdischer Verbundenheit
Verbundenheit ist das Stichwort, religiös gewiss, auf die Glaubenszeugnisse bezogen, aber doch irgendwie auch sehr irdisch-weltpolitisch. Weil Judentum aus Menschen besteht, die in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen agieren, gar sich als Volk Israel verstehen – nicht nur als synagogale Kultgemeinschaft. Nach Verbundenheit ruft auch dieses international so heftig hinterfragte politische Israel, das sich wieder und wieder verstrickt und verstrickt wird im Geflecht aus Aggression und Angst.
Das Verhältnis der Kirche zu Israel übergreift die Dimension des Geistlich-Religiösen und meint eine ganze, ungeteilte Partnerschaft zwischen Menschen in all ihren Bezügen. Dabei ist gelebte Solidarität nie ohne das kritische, zurechtweisende Wort. Nötig auch in diesen Tagen. Hier gibt es keine einfachen Formeln. Auch nicht im so unendlich leidvollen Konfliktgeschehen im heiligen umkämpften Land. Fraglos leidet auch der Israelsonntag mit am Schmerz, den sich Israelis und Palästinenser so lange Zeit schon zufügen. Partnerschaft sucht miteinander Lebensperspektiven für alle Beteiligten – sie ist immer eine Kooperation um des Lebens willen. Partnerschaft wäre dort aufgekündigt, wo einseitige Schuldzuweisung und Diffamierung Platz greifen, wo sich jüdische Menschen in unserem Land wieder ausgegrenzt, verfolgt und physisch bedroht erfahren. Partnerschaft ist angesagt, auch im Sündersein und im Angewiesensein auf das göttliche Erbarmen. Paulus sagt es so: „Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme“ (11,32). Wer sich gemeinsam als Sünder vor Gott erkennen kann, hat den Einstieg gefunden für eine neue fruchtbare Gemeinschaft, die aus dem Erbarmen Gottes lebt – auch zwischen Juden und Christen.