„Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner“, diese Gedichtzeile Erich Kästners von 1930 ging mir durch den Kopf, als ich den Predigttext las. Denn die Worte des Paulus an und über die Gemeinde in Korinth könnten positiver gar nicht ausfallen. Sie erschienen mir wie diese Broschüren, in denen Firmen sich vorstellen, oder wie Hotelbeschreibungen für den Urlaub in Katalogen oder im Internet. Da ist auch immer alles schön, die Zimmer groß und komfortabel, das Personal freundlich, das Wasser blau und sauber. Oder es erinnerte mich an Zeugnisse – als Pastorin muss man ja manchmal für MitarbeiterInnen ein Zeugnis schreiben – wo auch nichts Negatives gesagt werden darf. Ich hatte immer Angst, aus Unkenntnis die falschen Phrasen zu benutzen und so dem Anderen zu schaden.
Positives muss man in diesem Briefanfang wirklich nicht suchen:
„ … dass ihr an allem reich gemacht worden seid in ihm, an aller Rede und aller Erkenntnis. Denn das Zeugnis von Christus ist in euch kräftig geworden, so dass ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gnadengabe, während ihr die Offenbarung unseres Herrn, Jesus Christus, erwartet. Der wird euch auch fest erhalten bis ans Ende, dass ihr untadelig seid“.
Reich an Rede und Erkenntnis – anscheinend wurde in Korinth viel und gut gepredigt und auch debattiert, und nicht nur irgendwie gestritten und gesprochen, sondern reich gemacht, von Gott beschenkt. Reden kann man ja viel, wenn es auch heißt, in einer Predigt nicht über 20 Minuten, aber man kann eben auch so reden, dass man dabei nichts sagt, oder so, dass man andere verletzt. Man kann reden, und es ist einfach nur dumm, was gesagt wird, in der Weltpolitik haben wirim Moment gute Beispiele dafür. Den Korinthern bescheinigt Paulus, dass das nicht so ist.
Das Zeugnis von Christus ist in euch kräftig geworden – sie haben nicht nur irgendwie geglaubt, vielleicht an den großen unbekannten Gott, sondern sie wissen um Christus, und sie bezeugen ihn. Sie glauben nicht nur still vor sich hin, sie bezeugen Christus, was damals nicht ganz ungefährlich war. – Ihr habt keinen Mangel an irgendeiner Gnadengabe. Es wird also nicht nur gut Christus bezeugt und verkündigt, auch die anderen Gnadengaben sind reichlich vorhanden. Es wird den Armen geholfen, es wird gutorganisiert, alles ist einfach gut. Sie sind untadelig, und so können sie getrost die Wiederkehr von Jesus Christus erwarten.
Es scheint sich um eine Traumgemeinde zu handeln, so eine Gemeinde, in der wir auch gerne leben, glauben und mitarbeiten würden, eine Gemeinde mit spannenden Predigten, einer mitreißenden Jugendarbeit, vielen Senioren, mit Chor, Musikgruppen, Besuchsdienstkreis und vielleicht noch mit einer Partnergemeinde in Afrika. Alle würden liebe- und respektvoll miteinander umgehen, keiner würde zurückgelassen. Das wäre dann so eine Gemeinde, wo Paulus sagen könnte: ich danke Gott allezeit euretwegen. Das Merkwürdige ist, dass die Realität damals in Korinth ganz anders aussah, so ähnlich wiein den Hotelprospekten oder einigen Berufszeugnissen. Teilweise waren die Gemeinde in Korinth und Paulus waren total zerstritten, das wird in den beiden Korintherbriefen immer wieder deutlich.
Schon im nächsten Vers warnt Paulus und ermahnt, denn offensichtlich ging es in Korinth nicht so harmonisch zu, wie es bisher den Anschein hatte. Es gibt Streit. Man redet eben nicht mit einer Stimme, sondern mit vielen. Es gab Parteien, so wie es auch bei uns Konservativem Fortschrittliche, Evangelikale, Spirituelle und viele andere Gruppierungen gibt. Sie hatten sogar Rechtsstreitigkeiten miteinander, führten also Prozesse gegeneinander. Man wolltedas Kreuz Jesu als peinlich nicht mehr so gerne erwähnen. Schließlich war die Kreuzigung die Todesstrafe für die unterste Schicht – für Sklaven. Heute ist es eher so, dass manchmal das Kreuz als Kampfansage gebraucht wird,jahrhundertelang – seit Konstantin wares auch ein Zeichen der Stärke.
Die Korinther nahmen es mit der christlichen Lebensweise nicht so genau. Selbst beim gemeinsamen Abendmahl – damals noch als richtige Mahlzeit – wurde nicht geteilt. Die Armen blieben hungrig, die Reichen schlugen sich den Bauch voll und betranken sich, von Nächstenliebe keine Spur. Das macht den Anfang des Briefes so erstaunlich. Wenn man nur den Predigttext hört, dann fragt man sich: Wo bleibt all das Negative?, nicht, wo denn das Positive bleibt.
Ich finde die Zustände erst einmal für uns – fast 2000 Jahre später – tröstlich. Wir leiden ja oft an unserer Kirche, an der großen, weltweiten Kirche, an unserer EKD, und auch an unseren Heimatgemeinden. Die Mißbrauchsskandale haben auch unsere evangelische Kirche erschüttert. Oder: Wie und wofür das Geld ausgegeben werden soll, ist ein endloses Thema. Manchmal entpuppen sich die besten Ideen im Nachhinein als Irrweg. Da ist eströstlich, dass Gott damals wie heute seine Kirche trotzdem nicht verlassen hat. Es ist gut, mit Paulus nicht nur auf das Negative zu sehen. „Wo bleibt das Positive?“ Wofür können wir danken, auch wenn es nicht ganz so vollkommen ist, wie wir es gerne hätten.
Dabei muss man sich die Welt janicht schönreden, wie es Hotelprospekte tun, aber man gibt damit alles, was einen belastet, an Gott zurück. Seine Gnade hat die Korinther reich gemacht, er hat sie berufen, er hält an ihnen fest, dafür ist Paulus dankbar, darauf verlässt er sich auch. Das ist positiv, über alle Probleme hinweg. Weil Gott uns hält, hat die Kirche 2000 Jahre überlebt, bewältigen auch wir unsere Krisen und Probleme. Wenn wir Gott danken, auch für Dinge, die uns belasten, dann sehen wir das, was auch gut ist an der Situation. Und wir geben Gott die Möglichkeit zu handeln, das Leben zum Guten zu verändern.