„Das Leben ist nicht fair“
Vom Sinn angesichts der Sinnlosigkeit
Predigttext: Hiob 2,1-13 (Übersetzung nach Matrtin Luther, Revision 2017)
1 Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den HERRN traten, dass auch der Satan mit ihnen kam und vor den HERRN trat. 2 Da sprach der HERR zu dem Satan: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: Ich habe die Erde hin und her durchzogen. 3 Der HERR sprach zu dem Satan: Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben. 4 Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: Haut für Haut! Und alles, was ein Mann hat, lässt er für sein Leben. 5 Aber strecke deine Hand aus und taste sein Gebein und Fleisch an: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen! 6 Der HERR sprach zu dem Satan: Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone sein Leben! 7 Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. 8 Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche. 9 Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! 10 Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.
11 Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. 12 Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt 13 und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.
Einführung
Dem gottesfürchtigen und rechtschaffenen Hiob widerfährt eine radikale Infragestellung alles bisherigen Lebensglücks – und doch hält er an seinem Gottvertrauen auch noch in dessen scheinbarer Widerlegung fest. Können wir krisenhaften Lebensereignissen, welche alle unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens durchkreuzen, einen spirituellen, religiösen oder theologischen Sinn abgewinnen? Dass Glück und Unglück gleichermaßen von der Macht Gottes umfangen sind, wie Hiob beinahe trotzig bekennt, bedeutet keineswegs, dass sie sich zu einem spannungsfreien Lebensganzen zusammenfügen ließen. Jenseits des unvermeidlichen Scheiterns umfassender Gelingenskonzepte lässt sich jedoch in elementaren Vollzügen von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit fragmentarische Lebensfülle entdecken, die unsere widersprüchliche Erfahrung transparent macht für ihre verheißene Vollendung und Erlösung durch Gottes Gnade.
Lieder
EG 325 Sollt ich meinem Gott nicht singen
EG 398 In dir ist Freude
EG 649 (RWL) Wer kann dich, Herr, verstehen
EG 673 (RWL) Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt
Quellen
Herbert Grönemeyer: Der Weg, Musik und Text: Herbert Grönemeyer, Produktion: Alex Silva / Herbert Grönemeyer, ℗ + © 2002 Grönland.
Lars Klinnert: Mehr als eine „Menschenrechtsprofession“ ... „Gelingendes Leben“ als ethische Grundkategorie Sozialer Arbeit, in: Bernd Beuscher / Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Spiritualität interdisziplinär. Entdeckungen im Kontext von Bildung, Sozialer Arbeit und Diakonie (Religionspädagogik 2), Berlin 2014, 211–236.
Lars Klinnert: Invokavit (1. Sonntag in der Passionszeit), 26. Februar 2023, Hiob 2,1–13. Vom Sinn jenseits des Sinns, in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 1 / 2023 (123), 57 f.
Barbara Schmitz: Was ist ein lebenswertes Leben? Philosophische und biographische Zugänge, Ditzingen 2022.
Gunda Schneider-Flume: Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 32008.
I.
„Das Leben ist nicht fair.“ – So beklagt Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Der Weg“ den frühen Tod seiner krebskranken Ehefrau, der Mutter seiner zwei damals noch recht kleinen Kinder. „Das Leben ist nicht fair.“ – So könnte auch Hiobs Klage lauten. Er hat nicht nur ein glückliches und erfolgreiches Leben geführt, sondern vor allem auch ein anständiges und frommes. „Das Leben ist nicht fair.“ – Sein bisheriges Lebensglück konnte Hiob vermutlich problemlos mit seiner vertrauensvollen Gottesbeziehung in Verbindung bringen. Wohlstand, Erfolg, Gesundheit, die Liebe der Familie, die Zuneigung der Freunde, die Wertschätzung der Kollegen – natürlich liegt es für einen gläubigen Menschen nahe, in alledem spürbare Zeichen der liebevollen Zuwendung Gottes zu erkennen. Nicht umsonst bringen wir in jedem Dank- und in jedem Bittgebet die stillschweigende Überzeugung zum Ausdruck, dass Gott in unserem Leben anwesend ist und darin Gutes zu bewirken vermag.
Aber ist es überhaupt zulässig, Gottes Hilfe für das Gelingen unseres Lebens in Anspruch nehmen? Wir alle wollen ja unser Leben so führen, dass wir es im Großen und Ganzen als glücklich, als gut, als sinnvoll beurteilen können. Allerdings wissen wir zugleich um die unweigerlichen Erfahrungen von Leid, Not, Unglück, Krankheit, Tod, Irrtum und Scheitern, die jede und jeden von uns überall und jederzeit bedrohen. Wir können uns bemühen, unser Leben so zu gestalten, dass es für uns selbst und für andere Menschen als gelungen erscheint. Wir können aufmerksam dafür sein, zur rechten Zeit das Gute und Richtige zu tun. Wir können gemeinsam mit anderen Menschen versuchen, das familiäre, berufliche oder gesellschaftliche Miteinander sinnhaft und erfüllend zu gestalten. Doch für den tatsächlichen Erfolg unserer Pläne gibt es keinerlei Garantie: nicht durch unsere eigenen Anstrengungen – aber eben auch nicht durch Gott. Vielmehr gilt: „Das Leben ist nicht fair.“ Das Schicksal ist unberechenbar und manchmal – wie es so schön heißt – ein richtiges Arschloch. Das Erdbeben in der Türkei oder der Krieg in der Ukraine halten uns als aktuelle Beispiele eindrücklich vor Augen, wie die alltäglichen Lebenspläne hunderttausender Menschen ohne deren Verschulden von jetzt auf gleich durchkreuzt werden können. Gerechtigkeit, Wohlwollen, Mitgefühl dürfen wir im besten Fall von unseren Mitmenschen erhoffen – vom Leben als solchem letztlich nicht.
Von manchen Theologen wird daher die dezidierte Auffassung vertreten, dass das eigene Lebensglück einerseits und die Gnade Gottes andererseits miteinander nichts zu tun hätten, Nach der reformatorischen Tradition ist der sündige Mensch in der sündigen Welt niemals in der Lage, in seiner Lebensführung dem Anspruch Gottes gerecht zu werden. Dass wir unser Leben in irgendeiner Weise zum Gelingen führen könnten, ist demzufolge nichts als eine trügerische Illusion, die uns mit der Planung und Gestaltung eines perfekten Lebensganzen belastet, das wir doch ohnehin niemals erreichen können. Die Theologin Gunda Schneider-Flume spricht von einer „Tyrannei des gelingenden Lebens“, die letztendlich „die Angst vor Versagen und Misslingen“ nur noch stärker befördere – und im schlimmsten Falle dazu führe, das eigene Leben oder gar das Leben anderer Menschen als sinnlos und unnütz zu bewerten. Dem lässt sich die biblische Zusage gegenüberstellen, dass genau dieses verletzliche, gefährdete und unvollkommene Leben für Gott und vor Gott einen unendlichen Wert hat – der nun aber gerade ganz und gar unabhängig ist vom Sinn, vom Glück und vom Erfolg, die wir mit unseren Bemühungen erreichen (oder eben nicht erreichen): Die bedingungslose Liebe Gottes gilt uns als sündigen Menschen – und damit auch und gerade dann, wenn unser Leben nach weltlichen Maßstäben misslingt.
II.
Hiob erlebt eine radikale Infragestellung des für ihn bislang so selbstverständlichen Lebensglücks. Alles Gute in seinem Leben kommt ihm durch schwere Schicksalsschläge nach und nach abhanden. Einen auch noch so verborgenen Sinn vermag er dem ihm geschehenen Unheil nicht abzugewinnen. Nach außen hin erscheint sein mustergültiger Lebensentwurf schlichtweg gescheitert. Gleichwohl hält er an seinem Gottvertrauen auch noch in dessen scheinbarer Widerlegung fest. Weil er weiß, dass alles Gute von Gott gegeben ist, will er auch alles Schlechte als von Gott gegeben annehmen.
Eine allzu fatalistische Interpretation könnte aus Hiobs Haltung vielleicht den gutgemeinten Ratschlag ableiten, jedes nur denkbare Ungemach demütig als gottgewollt hinzunehmen – und allenfalls auf ein transzendentes Heil, auf eine jenseitige Wiedergutmachung zu hoffen. Mit erscheint es allerdings als beinahe trostlose Zumutung, an einen Gott zu glauben, dessen guter und barmherziger Wille für mich sich auf mein tatsächliches Erleben in dieser Welt gar nicht auswirkt. Dann legt sich die Frage nahe, ob und wie sich tiefgreifendste Erfahrungen von Heil- und Sinnlosigkeit aus dem Glauben heraus so interpretieren und gestalten lassen, dass sich mit ihnen hier und jetzt einigermaßen gut leben (oder zumindest weiterleben) lässt.
Die Philosophin Barbara Schmitz hat im vergangenen Jahr ein kleines Buch veröffentlicht: „Was ist ein lebenswertes Leben?“ – so der Titel. Darin versammelt sie eindrucksvolle Lebensgeschichten von ganz unterschiedlichen Menschen, teilweise aus ihrem persönlichen Umfeld, die durch Behinderung, Krankheit oder Verlust einen radikalen Abbruch ihrer bisherigen Lebensmöglichkeiten erlebt haben. Wohl jeder hat sich schon einmal die Frage gestellt, wie lebenswert ihm sein eigenes Leben noch erschiene, wenn es in seinen gewohnten Vollzügen auf fundamentale Weise bedroht, eingeschränkt, zerstört wäre. Die Autorin hat beispielsweise Menschen interviewt, die am Locked-in-Syndrom erkrankt sind oder waren. Bei dieser umfassenden Lähmung ist jegliche Bewegung verunmöglicht, sodass die betroffenen Personen in allen Lebensvollzügen auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Vor allem aber sind ihre Möglichkeiten erheblich reduziert, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Obwohl bei vollem Bewusstsein, können sie sich häufig nur noch sehr mühevoll über Augenbewegungen verständlich machen. Erstaunlicherweise wurde in einer wissenschaftlichen Studie festgestellt, dass vom Locked-in-Syndrom betroffene Personen nach einer gewissen Erkrankungsdauer im Durchschnitt eine genauso hohe Lebenszufriedenheit aufwiesen wie die nicht-behinderte Kontrollgruppe. Eine Patientin äußert sich dazu folgendermaßen:
„Ich werde häufig gefragt, ob ich mein Leben mit dem Locked-in-Syndrom für lebenswert halte oder nicht. Ich weiß nie, was ich antworten könnte, denn für mich stellt sich diese Frage nicht mehr. Jeder gesunde Mensch fragt sich ja auch nicht jeden Tag, ob er sein Leben für lebenswert hält. Manchmal stört mich die Frage sogar, weil sie indirekt beinhaltet, dass ich mein Leben, so wie es ist, hinterfragen müsste, ob das überhaupt in Ordnung ist.“
Offenkundig verfügen Menschen über die erstaunliche Fähigkeit, infolge krisenhafter Lebensereignisse das eigene Selbstverständnis so an die veränderte Situation anzupassen, dass sich ihnen darin neuer und unerwarteter Lebenssinn erschließt. Was ein lebenswertes Leben ausmacht, lässt sich also gar nicht anhand eines allgemeinen und umfassenden Gelingensmaßstabs definieren, sondern ergibt sich gewissermaßen flexibel und situativ aus den jeweils tatsächlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Es geht bei einem „lebenswerten Leben“ weniger um die bestmögliche Erfüllung eines perfektionistischen Anspruch an Glück, Sinn oder Erfolg, als vielmehr darum – so formuliert es die Autorin – „ein Zu-Hause-Sein im eigenen Leben zu schaffen“. Mich zu Hause fühlen im eigenen Leben, dass kann mir gelingen, wenn ich es irgendwie schaffe, sowohl Glück als auch Unglück als zu meinem Leben gehörig anzunehmen – und mit dieser Ambivalenz in kreativer Aktivität statt in resignativer Passivität umzugehen.
III.
Diese Fähigkeit, die in der psychologischen Forschung mit Begriffen wie „Salutogenese“ oder „Resilienz“ bezeichnet wird, ist natürlich nicht einfach so vorhanden. Vielmehr lässt sich nach Einflussfaktoren fragen, aufgrund derer eine solche Kompetenz bei dem einen stärker, bei dem anderen schwächer ausgeprägt ist. Für Hiobs Resilienz scheint die fast schon trotzige Gewissheit entscheidend zu sein, dass sein ganzes Leben mit Gutem wie Bösem in Gottes Hand liegt – und dort gut aufgehoben ist. Die mythologische Himmelsszene, durch die die eigentliche Erzählung eingeleitet wird, bestätigt seine Überzeugung, dass er auch in den schlimmsten und widrigsten Erfahrungen seines Lebens nicht von Gott verlassen ist. Die unbegreiflichen Schicksalsschläge werden als von der Macht Gottes umgriffen gedeutet – und damit zwar nicht begreiflich, aber erträglich gemacht. Damit ist nicht gesagt, dass sie in ein überzeugenden und spannungsfreien Lebenssinn eingeordnet werden könnten und müssten. Denn selbst wenn Hiob den wahren Grund für sein Leiden wüsste – eine letztlich ziemlich kindische Wette zwischen Gott und Satan –, würde er darin wohl kaum einen Sinn für sich erkennen können.
Hiobs Freunde tun deshalb gut daran, dass sie weder mit scharfsinnigen Erklärungen noch mit aufmunternden Ratschlägen zu trösten versuchen. Ihre Hilfe besteht vielmehr darin, Hiobs Verzweiflung in gemeinsamer Klage und Trauer mit ihm solidarisch und geduldig auszuhalten. Der Sinn, der hier von anderen Menschen geschenkt, ja gewissermaßen leihweise zur Verfügung gestellt wird, ist gerade kein umfassender Sinn in Gestalt eines biografischen, moralischen oder religiösen Lebenskonzeptes. Es ist vielmehr ein absichtsloser, tastender, unvollkommener Sinn, wie er durch elementare Vollzüge von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit – Liebe, Zärtlichkeit, Mitleid, Trost, Hoffnung, Vergebung, Freude, Humor – erfahren und vermittelt wird. In einem freundlichen Lächeln, in einer liebevollen Berührung, in einem treffenden Wort vermag uns ja bisweilen die ganze Fülle unseres Lebens blitzartig aufzuscheinen …
Christinnen und Christen dürfen im Zeichen von Kreuz und Auferstehung glauben, dass die glückhaften wie weniger glückhaften Wechselfälle ihres Lebens nicht nur von Gottes Macht, sondern insbesondere auch von Gottes Gnade umfasst sind. Vor dem geglaubten Horizont einer durch die Geschichte Jesu Christi mit der Geschichte Gottes verwobenen Lebensgeschichte lässt sich daher auch noch dort, wo alle eigenen Möglichkeiten zur Herstellung und Sicherung einer gesunden, glücklichen und sinnvollen Identität erschöpft scheinen, ein bei Gott aufgehobener und von Gott verheißener Sinn erahnen. „Das Leben ist nicht fair“ – aber es ist durch fragmentarische Sinnerfahrungen, wie sie uns nicht zuletzt in der Begegnung mit anderen Menschen zuteilwerden können, transparent für die Liebe und Güte Gottes.