Der R-Wert des Heiligen Geistes

Tröstendes zu sagen wissen ...

Predigttext: Apostelgeschichte 2,1-21 (36) (mit Vorbemerkung)
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 30.05.2020
Kirchenjahr: Pfingstsonntag
Autor/in: PD Pfarrer Dr. theol. Wolfgang Vögele

Predigttext: Apostelgeschichte 2,1-21 (36), (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßem Wein. Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe der große Tag der Offenbarung des Herrn kommt. Und es soll geschehen: wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.« So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.

 

zurück zum Textanfang

Vorbemerkung

Neben dem Bibeltext ist für diese Predigt eine Website der New York Times wichtig, die Sie unter diesem Link finden (https://www.nytimes.com/interactive/2020/05/24/us/us-coronavirus-deaths-100000.html). Da sie ihr Anliegen vor allem optisch weitergeben will, ist auch ohne große Englischkenntnisse zu verstehen, worauf die Seite abzielt. Weil die Seite der New York Times graphisch so eindrucksvoll ist, könnte man daran denken, eine Seite herauszunehmen und für die Gottesdienstbesucher zu kopieren. In diesem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen finden Sie weitere Erläuterungen auf Deutsch: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/new-york-times-den-toten-eine-stimme-16785771.html.

Predigt

In diesem Jahr findet das Pfingstwunder unter denkbar schlechten Voraussetzungen statt. Sie sitzen alle mit zwei Metern Abstand zu Ihrer Vorderfrau und Ihrem Nebenmann. Sie tragen Schutzmasken, aber immerhin sind manche von ihnen bunt und schön anzusehen. Die Masken verdecken das Gesicht, mit guten medizinischen Gründen. Aber Masken machen es schwerer, daß die Menschen verstehen, was sie sich gegenseitig sagen wollen. Die Masken erschweren Gespräch und Kontakt. Wir singen nicht gemeinsam. Die Masken erschweren das Pfingstwunder. Oder doch nicht?

I.

Vor ein paar Tagen habe ich auf der Webseite der wichtigsten amerikanischen Tageszeitung, der New York Times, eine riesige Graphik gesehen, die mich zu Tränen gerührt hat. Sie zeigt ganz klein die Silhouetten von Menschen, insgesamt hunderttausend, angeordnet vom Beginn der Epidemie Ende März bis heute, Ende Mai. An die hunderttausend Menschen sind in den Vereinigten Staaten an den Folgen des Corona-Virus gestorben. Irgendwo in der Mitte auf dieser Seite steht, im Original in Englisch: Zahlen sind ein schlechtes Format, um es auf den Menschen anzuwenden.

Und deswegen wollten die Redakteure des Blattes zeigen, daß sich hinter der schrecklichen Zahl von Toten genauso viele Einzelschicksale verbergen. Deswegen sind bei einzelnen dieser Silhouetten Name, Alter und ein Satz aus der Todesanzeige angegeben. Dazu muß man wissen, daß in den USA Todesanzeigen, wie sie in Deutschland geschaltet werden, nicht üblich sind. Statt dessen veröffentlichen die trauernden Angehörigen Nachrufe mit einem kurzen Lebenslauf. Diese Traueranzeigen hat ein Team von Redakteuren durchgeforstet und jeweils nur ein einziges Detail daraus ausgewählt. Ich gebe einige Beispiele wieder:

– Verbrachte ihr Leben damit, sich um Kinder und Enkel zu kümmern – Diana G. DeVito Swist, 80, Norwalk, Connecticut.
– Netter und mutiger Mann, der nie vergaß, wo er herkam – James Ventrillo, 77, Methuen, Massachusetts.
– Verbrachte zahllose Stunden damit, seinen Freunden das Wasserskifahren beizubringen – Harrison Solliday, 85, Des Moines, Iowa.
– Seine Familie war die größte Leistung in seinem Leben – Edward A. Masterson, 56, Yonkers, New York.
– Mutter, deren Neugeborenes überlebte – Wogene Debele, 43, Baltimore.
– Ehefrau, die ihren Ehemann nur um zwei Tage überlebte – Judy Therrian, 80, Ellenton, Florida.

Die Redakteure dieser Seite schrieben dazu, daß sie einen virtuellen Platz des Gedenkens schaffen wollten, denn für die meisten Menschen, die auf dieser Seite genannt werden, konnte kein öffentliches Begräbnis und kein Trauergottesdienst stattfinden. Die meisten Toten wurden aus Gründen des Infektionsschutzes in Anwesenheit der allerengsten Angehörigen bestattet. Die virtuelle Gedenkseite macht das Ausmaß des Verlustes deutlich.

Die kleinen Details aus den Lebensläufen lassen die Leser ahnen, welcher reiche Schatz an Zuneigung, Erfahrung, Wissen und Liebe mit diesen Menschen verloren gegangen ist. Ein Toter ist eben mehr als nur eine Zahl in einer Statistik, die täglich anwächst.

II.

Alle Leserinnen und Leser wissen, daß diese Mischung aus Trauer und Entsetzen nicht nur für die Corona-Toten in den USA gilt, sondern für alle Verstorbenen auf dem Globus. Ihre anonyme Zahl nehmen Fernsehzuschauer und Zeitungsleser in den Nachrichten gleichgültig zur Kenntnis. Die Graphik auf der Webseite wäre also zu ergänzen durch Namen und Details von Verstorbenen in Rom und Bologna, in Straßburg und in Nancy, in Madrid und Rio den Janeiro, und nicht zuletzt auch in diesem Land, in Stuttgart, Karlsruhe, Hanau und Wernigerode.

Es erscheint geradezu unheimlich, wie schnell sich das Virus über die ganze Welt verbreitet und überall eine Spur von Krankheit, Sterben und Tod hinterlassen hat. Das Virus hat genau das Gegenteil dessen bewirkt, was Christen sich vom Heiligen Geist erhoffen: Distanzierung statt Gemeinschaft, Abstand statt Umarmung, mißtrauische Blicke auf Masken statt Offenheit und Mehrsprachigkeit, Isolation und Quarantäne statt fröhliche Feste und Gottesdienste.

Und trotzdem,
ich wünsche mir und bete, daß der Heilige Geist sich genauso schnell und effizient ausbreitet wie das Corona-Virus.
Ich wünsche mir und bete, daß alle Geistlichen, nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer, auch Imame, Rabbiner, Geistliche anderer Religionen den Trauernden, die einen lieben Menschen verloren haben, Tröstendes zu sagen wissen.
Ich wünsche mir und bete, daß der Heilige Geist besonders in den Ländern tröstend und barmherzig wirkt, wo sich das Virus besonders schnell und schädlich verbreitet hat, weit über Kappadozien, Mesopotamien, Ägypten, Phrygien und Pamphylien hinaus.
Ich wünsche mir und bete, daß der Heilige Geist, der dort „weht, wo er will“ (Joh 3,8), die gelegentlich durchaus engen Grenzen der Landeskirche und des Bekenntnisses nicht beachtet. Ich bete für einen Heiligen Geist, der seine trinitarische Unabhängigkeit über nationales und religiöses Schubladendenken stellt.

III.

Schon die Beobachter in Jerusalem haben am Anfang der Pfingstgeschichte das Wirken des Geistes als blamable Krankheit mißverstanden. Sie diagnostizierten aus der Ferne Alkoholfahnen schon am frühen Morgen. Das erwies sich als vorschnelle Unterstellung.

Pfingsten ist das Fest geistlicher Globalisierung. Wo sich Handelswege, Umweltzerstörung, Überfischung, Militarisierung ausbreiten, wo Länder und Meere mit Straßen, Eisenbahnschienen, Stromleitungen und Digitalkabeln überzogen werden, da ist die geistliche Globalisierung leider längst in den Hintergrund gerückt.

Kühn und wagemutig blickte der Apostel Paulus in seiner Vision der Ökumene bis an die Enden der Erde, die er irgendwo im Westen von Spanien verortete. Er wollte das Christentum überall, global verbreiten. Es ist aber für Pfingsten ganz entscheidend, daß der Mission, dem Handeln der Christen die Gegenwart des Heiligen Geistes vorangeht. Eine Gemeinde kann nur missionieren, wenn sie fest darauf vertraut, daß der Geist immer schon da ist, im Nächsten, dem ich begegne. Nur deshalb kann der christliche Glaube alle Sprachgrenzen voller Geistvertrauen überwinden. Und nur deshalb gelingt das auch.

Die schnelle Ausbreitung des Corona-Virus hat uns alle erschreckt, und das Virus hat weltweit den Alltag der Menschen verändert, vom Home Office über Schlangen an den Supermärkten bis zum regelmäßigen Händewaschen. Darüber sind die anderen Kräfte und Entwicklungen der Globalisierung in den Hintergrund der Aufmerksamkeit geraten: Wassermangel, Mangel an Nahrungsmitteln, die immer weitere Aufrüstung mit Waffen, ausgreifende Wertschöpfungs-ketten der Industriekonzerne, welche die Menschen in den sich entwickelnden Ländern benachteiligen. Es stellt sich die schlichte Frage: Was vermag die Kraft des Heiligen Geistes in einer globalisierten Welt, in der vermeintlich viel mächtigere ökonomische und ökologische Kräfte die Lebenswelt der Menschen bestimmen oder sie sogar verzerren und aus dem Gleichgewicht bringen?

Aus der nüchternen Perspektive der öffentlichen Aufmerksamkeit bleibt die Kraft des Geistes oft unbemerkt. Wer es gewohnt ist, auf Sensationen zu blicken und stets auf die lautesten Marktschreier zu hören, dem fällt es oft schwer, die geistlichen Wirkungen von Pfingsten überhaupt wahrzunehmen. Aus der Perspektive des Glaubens, der im Vertrauen auf Gott Zweifel überwindet, sieht das anders aus. Von dort aus gesehen, erscheint der Heilige Geist nicht mehr als eine kleine, schwache und unscheinbare Kraft, die niemand beachtet. Aber für den Glauben wirkt diese Kraft stetig, nachhaltig und unbeirrbar.

IV.

Wie der Philosoph Hegel von der List der Vernunft sprach, die sich in der Geschichte durchsetzen würde, so könnten die Glaubenden von der List des Geistes sprechen. Im schwer auszurechnenden Spiel der Kräfte von Wirtschaft, Politik und Macht erhält er sich dauerhaft und hilft immer wieder Barmherzigkeit und Trost zu ihrem bitter nötigen Recht. Mit den Sprach- und Verständigungsgrenzen fängt es an, und am Ende stehen die Zeichen von Gottes Gegenwart, die der zitierte Prophet Joel so wortmächtig beschwört. Das sind keine Wunder, welche die Naturgesetze sprengen. In den Blick genommen werden eher die einfachen und oft vergessenen Erfahrungen von Solidari-tät, von plötzlicher Barmherzigkeit, von Verständigung und Versöhnung, die Erfahrungen von allem, was Leid lindert und Trost stiftet.

Das Corona-Virus und der Heilige Geist haben gemeinsam, daß sie auf Atem, Luft und Lungen bezogen sind. Das Virus wird über die berüchtigten Aerosole übertragen, die uns alle zu Trägern von Schutzmasken gemacht haben. Es greift im schlimmen Fall besonders die Lungenflügel an. Das hebräische Wort für Geist lautet „ruach“ und bedeutet ebenso Geist wie Atem. Glauben braucht den Geist zum Leben wie er das Atmen braucht, um nicht zu ersticken. Geist ist eine dynamische, nicht sichtbare Kraft, die unabhängig von frommer Erfahrung ist. Sie kann nicht herbeizitiert oder hervor-gezaubert werden. Geist und Atem sind die Medien, durch die überhaupt erst Sprache entsteht, und zwar unabhängig von ihren Vokabeln und ihrer Grammatik.

Wir brauchen Atem, Sprache und Heiligen Geist, um Gottes tröstende und barmherzi-ge Worte, seine Verheißungen zu hören und weiterzugeben. Jeder Glaubende braucht sie, die gute Botschaft des Geistes, um sich selbst trösten zu lassen und um Trost anderen zuzusprechen. Geist ist dort, wo sich Tröstung ereignet. Geist ist dort, wo noch so kleine Hoffnungsfunken entstehen. Geist ist dort, wo Mißverständnisse, Mißtöne und Sprachschwierigkeiten in Liebe überwunden werden.

Und so paradox das klingen mag: Dieser Heilige Geist der Verständigung im Glauben wirkt ansteckend. Die Reproduktionszahl, der R-Wert, ist so hoch, daß ich hoffe, er wird Sie in diesem Gottesdienst nun alle anstecken. Der springt über auf andere. Er wirkt weiter. Man muß nur aufhören, sich ihm in den Weg zu stellen.

Wir können leider den Ansteckungstest des Choralsingens nicht durchführen. „Nun bitten wir den Heiligen Geist/ um den rechten Glauben allermeist,/ daß er uns behüte an unserm Ende,/ wenn wir heimfahrn aus diesem Elende …“ (EG 124,1). Trotzdem gilt, daß die anderen Kräfte, von denen ich am Punkt der Globalisierung sprach, sehr mächtig sind und manchmal gerade zu erdrückend wirken. Aber das Bild wäre nicht vollständig, wenn man die Freude, die Nachhaltigkeit, die unaufdringliche Wirksam-keit des Heiligen Geistes vergessen würde. Lassen wir uns davon anstecken.

 

 

zurück zum Textanfang

Ein Kommentar zu “Der R-Wert des Heiligen Geistes

  1. Pastor i.R.Heinz Rußmann

    Ganz aktuell und gewagt vergleicht PD Pfarrer Dr. Vögele die Ausbreitungsmacht der Corona-Seuche mit der positiven Ausbreitung des Heiligen Geistes weltweit seit Pfingsten. Er weist zu Beginn auf die Todesfälle hin,aber auch auf die besonders gütigen Nachrufe. Die Website einer amerikanischen Tageszeitung zeigt bildlich die Ausbreitung und das Sterben der hunderttausend Toten in den USA, aber auch besonders liebeolle Nachrufe. Das Thema und der Gebetswunsch vom Pfarrer ist die Globalisierung des Heiligen Geistes. Das ist die Aufgabe der Kirche heute. Sie ergibt eine Ökumene auf dem Erdball. Die Kraft des heilenden und tröstenden Heiligen Geistes hilft gegen Corona. Wir brauchen Atem und Gottes Geist. Die Macht von Corona ist noch groß, aber die Freude und Liebe des Heiligen Geistes ist schon heute wirksam. Noch nie waren die Menschen so hilfsbereit im Sinne Jesu wie jetzt. Lassen wir uns davon anstecken. Eine sehr aktuelle und hoffnungsvolle Predigt.

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.