“Der Wind bläst, wo er will …”
Neue Sicht von Gott und Welt
Predigttext: Johannes 3,1-15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, daß ich dir gesagt habe: Ihr müßt von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann dies geschehen? 10 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du Israels Lehrer und weißt das nicht? 11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. 12 Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? 13 Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. 14 Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, 15 damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Anmerkung zur Übersetzung
Das Griechische kennt nur ein Wort für zeugen und gebären (V.3-8). Möglich wäre, dass Nikodemus von „gebären“ spricht, Jesus aber von „zeugen“. Damit entstehen zwei verschiedene Vorstellungen von dem, worum es im Text geht. Jesu Thema wäre dann nicht „Wiedergeburt“, sondern Herkunft.
Zugang zum Text
Der Text lädt zu vielen möglichen Erklärungen ein. M.E. ist dies aber nicht die Absicht des Textes. Verstehen wäre zu wenig. Darum wähle ich in der Predigt einen aktuellen Bezug. Wind bläst, wo er will ..."
Wie immer, wenn es um Macht geht, dazu noch um geistliche, sind die Kommunikationsstrukturen höchst kompliziert. Jesus kann was, das lässt sich nicht leugnen. Aber woher hat er, was er kann? Von Gott! Soweit sind die Machtverhältnisse geklärt. Aber die Macht, dieses festzustellen, die so genannte Definitionsmacht, ist strittig. Für Nikodemus liegt die Macht dazu fraglos bei Leuten wie ihm selbst: „Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen”. Jesus stellt dieses Urteilsvermögen grundsätzlich in Frage. „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der vom Geist gezeugt ist.“ Die Beurteilung der Herkunft geistlicher Gaben übersteigt den Zuständigkeitsbereich dessen, „was vom Fleisch gezeugt ist“. „Es sei denn, dass jemand gezeugt werde aus Wasser und Geist“, solange diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, kann es kein wirkliches Wissen geben.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.“ Solange sich Nikodemus darauf nicht einlassen kann, wird er nicht wirklich wissen können, er urteilt lediglich über etwas, das er selbst doch nicht versteht. Millionenfach finden solche Dialoge statt. Am Ende der Geschichte hat Jesus die Verhältnisse umgekehrt. „Du weißt nicht, wir wissen.“ Solange Nikodemus dies nicht begreift, ist sein Urteil: „Du bist ein Lehrer von Gott gekommen“ nicht ehrlich. Wäre es das, dann wäre auch das Zeugnis Jesu anzunehmen und verbindlich. Warum dann bei Nacht und Nebel kommen und nicht bei Tag im Lichte der Öffentlichkeit. Ein Lehrer „von Gott gekommen“, würde eine solche Aufmerksamkeit verdienen. Doch dann müsste die Machtfrage offen ausgetragen werden und am Ende geistliche Macht neu verteilt werde. Die auf den ersten Blick befremdlich klingende Auseinandersetzung zwischen Nikodemus und Jesus ist aktuell.
Johannes geht weiter: die Hauptperson seiner Geschichte ist so ein Neugeborener, aber seine Stimme findet kein Gehör bzw. findet nicht das Gehör, welches ihm angemessen wäre. Auch das wäre vermutlich heute nicht anders. Die Stimmen der Kriegsgegner z.B. waren laut, so gut zu hören, wie niemals zuvor. Doch der Krieg hat stattgefunden. Und wie jeder Krieg hat er das Leben vieler zerstört. Das Leben der Toten und das Leben Lebender. Unsere heutigen Probleme sind nicht mehr mit Verhaltensweisen von gestern zu lösen. Solange Machterwerb und Machterhalt die wichtigsten Eigenschaften eines Politikers sind, bleiben notwendige Lösungen brennender Probleme auf der Strecke. Darin sind sich immer mehr Menschen inzwischen einig. Aber so einfach ist das nicht. Das Alte ist hartnäckig. Es weicht nicht der besseren Einsicht, es möchte die bessere Einsicht, wenn sie schon sein muss, wenigstens kontrollieren. “Wir wissen“, wer du bist, sagt Nikodemus. Doch Jesus zerschneidet die Beziehung, die Nikodemus damit herstellt. „Du weißt nicht“, du kannst nicht wissen, es sei denn, du wärst von Wasser und Geist gezeugt. Bleiben wir bei diesem Bild.
Auch zwischen Nikodemus und Jesus liegt ein unüberbrückbarer Graben. Es ist Nikodemus nicht möglich zu sehen, was Jesus sieht, es sei denn, „er wäre von Wasser und Geist gezeugt“. Nikodemus gibt sich redlich Mühe, dies zu verstehen, aber er hat keine Chance. Wer kann begreifen, was Jesus meint mit Wasser und Geist, anstelle von Fleisch und Blut. Dazu gibt es inzwischen natürlich eine Menge von Erklärungen. Generationen von Theologen haben Kommentare zur Bibelstelle verfasst, und ich könnte heute Morgen einfach auf einen solchen zurückgreifen. Doch ein solches Vorgehen schließt der Text selbst aus. Nikodemus sagt nichts Falsches und kann trotzdem nicht erfassen, wovon er spricht. So geht es uns, wenn wir Menschen begegnen, deren Geschichte wir hören können, doch deren Leid wir nicht wirklich erfassen können. Und sind wir selbst die Leidtragenden, reichen unsere Worte nicht wirklich aus, mitzuteilen, was anders ist als zuvor. „Es ist als ob kaltes Wasser (und nicht länger Blut) durch meine Adern flösse“, sagt die Frau, die das Liebste, was sie auf Erde hatte, verlor. Von nun an wird sie nichts mehr im Leben wirklich schrecken können. Alles wird sich von nun an anders anfühlen. Ich glaube, dass wir auf diese Weise Jesus näher kommen können, als durch irgendwelche Erklärungen. Am Anfang des neuen Lebens, von dem er spricht, steht ein Erleben. Z.B. das Erleben, um der Dinge willen, die er sagt und tut, abgelehnt zu werden, so gründlich abgelehnt zu werden, dass sein Gott und der Gott, von dem die anderen reden, eigentlich nicht mehr derselbe sein kann.
„Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?“ (Vers 12) Und die himmlischen Dinge, von denen Jesus spricht, sind äußerst irdisch. Das ist sein gewaltsamer Tod, dem er himmlische Bedeutung gibt. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16) Da gibt es in der Tat kein Verstehen. Um Leiden in seiner Bedeutung für andere zu verstehen, brauchen wir insgesamt einen neuen Blick auf die Welt und auf das, was sie zusammenhält. Es ist nicht unsere menschlich Macht. Wer sie hat, ist kaum in der Lage, die dringendsten Probleme unserer Zeit zu lösen. Es sind nicht die Mächtigen, eher richten sie Unheil an mit ihrer begrenzten Sicht der Welt. Haben sie das Gefühl für den Sinn von Macht verloren?
Wir feiern heute Trinitatis, den Tag der heiligen Dreifaltigkeit. Das ist ein Feiertag, für den es keine Geschichte in der Bibel gibt. Trinitatis – das ist eher eine Form, sich Gott zu denken. Und zwar sich Gott so zu denken, dass wir zugleich darin mitgedacht werden können. In gewisser Weise ist es ein Bild von Gott oder auch ein Bild von Jesus oder auch ein Bild vom heiligen Geist. Das eine geht jeweils nicht ohne das andere. Der Sinn dieses Bildes erschließt sich uns über unsere eigenen Bilder. Kommen wir noch einmal auf die Geschichte von Nikodemus und Jesus zurück. Es geht um mehr als um die Anerkennung von einigen wunderbaren Zeichen, die Jesus getan hat. Es geht um eine neue Sicht von Gott und der Welt. Jesus nimmt die Sicht eines Opfers ein und in dieser erscheint alles, aber auch alles, in einem anderen Licht. Wo immer das möglich ist oder möglich wird, weht der Wind woanders her. Da genügt schon ein wenig, oft, manchmal, ist es mit einer einfachen Entschuldigung getan oder einem fairen Prozess. Bleibt dies unter uns aus, vergiftet sich die Atmosphäre schnell. Kann Unrecht zur Sprache kommen, dann erleben sich die Beteiligten wie neugeboren. Daran führt kein Weg vorbei.
Jesus macht es Nikodemus nicht leicht. An keiner Stelle kommt er ihm entgegen. Doch damit wäre nichts gewonnen. Gewinnen kann Nikodemus nur dann etwas, wenn er bereit ist, den Blickwinkel Jesu mit zu vollziehen. Das gilt in gleicher Weise heute. Die Opfer müssen zu Wort kommen können. Ihr Blickwinkel muss zum Blickwinkel der Mächtigen werden, wenn sich auf Dauer etwas zum Besseren wenden soll. Es ist ein anderer Geist, der uns aus seiner Geschichte entgegenweht, wir nennen ihn nicht umsonst einen heiligen Geist, und wir sagen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Jesus spricht offen von seinem Schicksal, auch in unserer Geschichte wieder gegenüber Nikodemus. Daher weht der Wind und nicht von großen Wundertaten. So ist Gottes Sohn. Und so ist Gott. Dahinter zu fragen, verbietet die Geschichte bzw. das Bild, das Jesus selbst gebraucht: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren / gezeugt ist”.