Dialog
Worauf es ankommt in einem Leben mit Gott
Predigttext | Markus 12,28-34 |
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Kirche / Ort: | Schriesheim b. Heidelberg |
Datum: | 24.08.2025 |
Kirchenjahr: | 10. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Pfarrer Professor Dr. Klaus Müller |
Predigttext: Markus 12,28-34
Und es trat zu ihm (Jesus) einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Jesus antwortete ihm: „Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel, der EWIGE, unser Gott, ist Einer; du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). Größer als diese ist kein anderes Gebot.“ Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: „Meister, du hast wahrhaft recht geredet. Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften und seinen Nächsten wie sich selbst, das ist mehr als Brandopfer und Schlachtopfer.“ Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Und niemand wagte mehr ihn zu fragen.
Ein interreligiöses Gespräch ist es zunächst einmal nicht, das hier stattfindet, auch kein christlich-jüdischer Dialog. Es ist ein Gespräch zwischen Juden, ein innerjüdischer Dialog um das Wesentliche der eigenen Religion. Vielleicht ist das schon eine erste Erkenntnis: Sollte also das christlich-jüdische Gespräch sachgemäß damit anfangen, auf das Gespräch zu hören, in dem Juden unter sich ringen um das, was das Wesentliche im Gotteswort sei. Dialog beginnt mit dem Hören, das scheint mir ein bleibend wichtiger Ausgangspunkt zu sein für ein gelingendes Gespräch.
I
Hier wird nicht lange drum herum geredet, hier geht es sofort ums Ganze. Um die Mitte. Um das „Höchste“ eben. Nicht um das „Höchste der Gefühle“, sondern um das Höchste in Sachen Tun, Ethik, Lebenspraxis. Um das, was zählt im Leben. Worauf es ankommt in einem Leben mit Gott. Um die Quintessenz der Erwartungen Gottes an mein Leben. Was ist die Hauptsache? Bitte, sag’s kurz und bündig, vielleicht sogar so knapp, solange ich auf einem Bein stehen kann! Die Antwort: Liebe Gott den EINEN und deinen Nächsten wie dich selbst. Größer als dies ist nichts Anderes im Gotteswort. Hört, hört: Diese Kernbotschaft erzielt Einvernehmen zwischen dem Nazarener und dem in pharisäischer Toragelehrsamkeit Geschulten.
Das ist das Fundament, das ist die Hauptsache. „Was ist das Größte im Gotteswort?“ Die Antwort, ausgesprochen im Munde Jesu an die Adresse des fragenden Menschen: „Höre, Israel, der EWIGE ist unser Gott, der EWIGE ist einer“ meint zunächst, wen es anspricht: Israel. „Höre, Israel!“, In hebräischer Sprache: „Schma’ Israel, Adonai elohenu, Adonai ächad!“
Wie an vielen Stellen der Heiligen Schrift ist der erste Adressat des Gotteswortes das Volk Israel. Nicht im übertragenen Sinne, nein, real Israel ist gemeint. Jenes Israel, das seit 3000 Jahren nicht aus den Schlagzeilen kommt, nicht aus den positiven und nicht aus den kritischen, jenes Israel aus Fleisch und Blut und aus Gottes Gnaden. Die Grundhaltung der Christenmenschen ist und kann immer wieder nur diese sein: Mithören und Mitlauschen, wo es für Israel etwas zu hören gibt, um Anteil zu gewinnen an der überfließenden Gnade Gottes, die über die Grenzen seines Volkes hinausgreift. Dieses Mithören ist motiviert darin, dass Jesus uns teilhaben lässt an dem, was er jüdisch gelebt hat.
Mitzuhören gibt es nun nicht etwas Marginales nur, sondern eben die Hauptsache: den Zentraltext der jüdischen Religion. Das Glaubensbekenntnis des Judentums in – nichtjüdischen – Ohren: das „Höre, Israel“ als Spitzensatz einer kirchlichen Predigtperikope. Ein solches Verhältnis ist einmalig zwischen den Religionen. Das christliche Bekenntnis zum einen Gott und der Ruf zur Liebe – Doppelsäule der biblischen Überlieferung – sind orientiert an den Basistexten der jüdischen Mutterreligion.
II
Das Christentum hat sich vom Eingottglauben niemals verabschiedet. Die christlichen Väter und Mütter des Glaubens haben bei aller Rede von der Dreieinigkeit Gottes immer den einen Gott gemeint, nicht drei Götter. Der eine Gott, der mit Abraham, Isaak und Jakob, Sara und Hagar, Rebekka, Lea und Rachel Geschichte gemacht hat und in der Person Jesu von Nazareth sein ewiges Wort hat Mensch werden lassen und der in der Kraft des Heiligen Geistes Leben wirkt und schafft. Es ist der eine Gott, von dem Israel zu hören bekommt und der den Völkern der Welt durch die Stimme des Nazareners vernehmbar geworden ist.
Dieser eine Gott ruft auf Seiten des Menschen nach nichts Anderem als nach Liebe. Schafft menschlicherseits eine Atmosphäre der Liebe. Nicht der Rechthaberei. Nicht des Besserwissens im Namen einer noch tieferen Erleuchtung als sie der andere empfangen hat. Nicht des Fanatismus. Nicht des Triumphalismus. Unser Bekenntnis heute heißt nicht: „Gott mit uns!“ – eingraviert auf den Koppelschlössern der nationalen und internationalen Soldateska. Auch nicht das zum Schlachtruf pervertierte: „Allah hu akbar!“
Die Liebe scheut jede Gewalt und jede Vergewaltigung. Das Harakiri der religiösen Eiferer entspringt nicht dem Gebot Gottes, der einzig ist und einzig und allein auf Liebe aus ist und auf Respekt vor dem Leben. Wenn es so etwas wie ein Selbstbekenntnis Gottes gibt, dann ist es in den Worten Marlene Dietrichs formuliert: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Insofern ist Gott gar nicht kompliziert, gar nicht vieldeutig und vielfältig, sondern ganz und gar einfach, eindeutig und einfältig.
Dieser eine unzweideutige Gott ruft bei den Menschen nach einer Haltung, die ebenso einfach und unzweideutig ist: Liebe. „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Das ist nicht noch ein Gebot aus der Reihe der vielen, sondern das ist die Grundhaltung überhaupt, des Menschen zu Gott. Der Kirchenvater Augustin hat sein Wichtigstes hinterlassen, als er formulierte: An Gott zu glauben, Gott zu lieben – das heißt Gott zu genießen und ihn nicht zu gebrauchen. Frui deo non uti deo. Liebe genießt, freut sich am Geliebten, sie benutzt nicht. „Habe deine Lust am Herrn“, so sagt Psalm 37, genieße ihn, „und er wird dir geben, was dein Herz wünscht.“
„Höre, Israel, der EWIGE unser Gott ist einer, einzig“, das ist erster Ausdruck der Gottesliebe. Es ist ganz unsentimental: Gott zu lieben bedeutet zuerst: anzuerkennen, dass ER einzig ist, wie die intensivste Liebeserklärung heißt: Du bist einzig für mich! Das ist paradiesisch wie bei Adam und Eva im Paradies: Eva fragt den Adam wieder und wieder: Liebst du mich? Und Adam antwortet trocken: Liebling, natürlich; wen denn sonst?
Gott zu lieben bedeutet anzuerkennen, dass ER allein Gott ist und nicht der Mammon, dass wir uns IHM verdanken und nicht den seelenlosen Bewegungen des Universums. ER ist Herr allein, IHM schenke dein Herz! Martin Luther hat es gewusst: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. ER ist, der sich uns vorstellt: „ICH bin der Herr, dein Gott, der ich dich befreie aus dem Sklavenhause; ICH bin für dich da, der ewig dich liebende Gott“.
Aus dieser Wurzel strömen uns dann die Nährstoffe zu, und die Frucht wird nicht ausbleiben. Die Liebe zum Nächsten. Dann geht es wieder ganz unsentimental zu: Die Liebe zum Nächsten ist unspektakulärer als es scheint. Aber sie gehört zur Hauptsache. Es sind – wie damals beim Samaritaner zwischen Jerusalem und Jericho – die naheliegenden Schritte notdürftiger aber eben auch notwendiger Versorgung. Öl, Wein zur Wundbehandlung, Verband und Transport, bis hin zur Begleichung des „Pflegesatzes“ in der Herberge.
Schon immer ist es die große Kunst gewesen, über der Verantwortung für die Welt die kleine Dimension nicht zu vergessen, das Naheliegende, den nahe liegenden Menschen, der uns buchstäblich vor die Füße gelegt ist. Unspektakulär ist die Liebe wie ein Krankenbesuch, wie ein aufhelfendes Wort für den, der gefallen ist. „Wohl dem, der gerne leiht“, sagt ein ganz unscheinbares Wort in den Psalmen. Das zinslose Darlehen, sagen die rabbinischen Ausleger, als Hilfe zur Selbsthilfe, als Hilfe zum wieder Auf-die-Beine-Kommen ist eine Tat, die das Prädikat Nächstenliebe verdient.
III
Das doppelte Liebesgebot, Kern der biblischen Botschaft, Fokus sowohl jesuanischer als auch frührabbinischer Toratreue. An dieser Stelle nun ein kurzer geographisch-historischer Ausflug ins Heilige Land. Gottesliebe und Nächstenliebe: In Jerusalem lässt sich das historisch-geographisch geradezu aufsuchen – bis heute.
Folgen Sie mir: Wir betreten durch das westliche Stadttor, das Jaffa-Tor, die Altstadt von Jerusalem, tauchen ein in die Gassen des Bazars, vorbei an den Ständen der Gewürzhändler, die Safran, Pfeffer, Zimt und Satar feilbieten, weiter den Auslagen der Keramikverkäufer entlang. Dann kommt eine Wegkreuzung: Geradeaus zum Felsendom und El-Akza-Moschee, dort ertönt das Bekenntnis zu dem einen Gott im Wortlaut der 1. Sure im Kor’an: „Lā ilāha illā ʾllāhu: „Es gibt keinen Gott außer Gott“. Rechts an dieser Wegkreuzung geht es zur Klagemauer, an der mindestens zweimal täglich das Schma Israel laut wird.
Aber nun weder geradeaus noch rechts, sondern nach links in die Muristan-Gasse. Da halten wir inne, auf dem Muristan. Der Muristan, ein Steinwurf entfernt von der Heiligen Anastasis, der Auferstehungskirche, Grabeskirche, erbaut im 4. Jahrhundert über dem offenen Grab Jesu. Der Ort schlechthin, an dem sich die Gottesliebe offenbart hat und an dem die Gläubigen die Liebe zu Gott in Anbetung und Lobpreis leben. Täglich, über die Jahrhunderte hinweg, bis heute.
Dort einen Steinwurf gegenüber dem Ort, an dem Jesus sein Leben aushauchte mit Worten aus den Psalmen auf den Lippen und wohl auch wie jeder gläubige Jude mit dem Schma Israel – dort gegenüber am Muristan gründen vor 1000 Jahren abendländische Pilger ein Krankenhospiz, ein Spital, unter dem Patronat Johannes des Täufers. Der Grundstein des Johanniterordens ist gelegt – noch vor der unseligen Kreuzzugsbewegung.
Am Fuße der Kirche des Heiligen Grabes Christi das Spital für die Ärmsten und Schwächsten. Das ist Programm. Wie im Heiligen Land die Geographie und die Auseinandersetzung um Geographie immer auch Programm ist. Gottesliebe und Nächstenliebe in unauflöslicher Nachbarschaft ist urbiblische Programmatik. Jüdische und christliche. Glauben und Leben. Kontemplation und Kampf. Spiritualität und Solidarität.
Gott und der Nächste. Darüber reden die Beiden in jenem innerjüdischen Dialog. So steht es im Zentrum der biblischen Botschaft. So steht es in der Selbstverpflichtung der Johanniter. So ist es geblieben durch die Jahrhunderte, bis zu uns heute, bis zu dir und mir – so dass Jesus mit Fug und Recht sprechen kann. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“
Aufregend, heute an einem Tag, an dem einmal mehr der interreligiöse Dialog im Mittelpunkt steht. Aufregend, wie Jesus dem rabbinischen Meister der Schriftgelehrsamkeit zuspricht: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“ Das heißt nicht: „Ein bisschen fehlt dir noch …“ „Das Gottesreich ist nahe herbei gekommen“, hat Jesus ausgerufen.
Der die Nähe des Gottesreiches angesagt hat, der weiß, wovon er spricht, kann beurteilen, kann es zusprechen ohne Wenn und Aber: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes, du, jüdischer Gottesgläubiger, der du dem Wort von der doppelt tiefen Liebe anhängst, du bist dem Himmel nahe!“ Das nenne ich „gelingenden Dialog“, wenn die Dialogpartner einander zugestehen können: „Du bist nicht ferne vom Reich Gottes“.
In diesen so bedrückenden Tagen braucht es den Dialog dringender als je zuvor, das Gespräch, das Aufeinander-Zugehen der Verfeindeten, an Leib und Seele Verwundeten.
Es ist Zeit für Frieden in Israel und Palästina. Es ist Zeit für ein Nein ohne jedes Ja zu allen Gewalttaten und Rechtsbeugungen auf allen Seiten des Konfliktes. Es ist Zeit für israelische wie für palästinensische Selbstkritik. Es ist Zeit, im jeweils Anderen den in seiner Existenz real bedrohten, geängstigten Menschen zu entdecken, der seine eigene Verlust- und Hoffnungsgeschichte mit sich trägt. Es ist Zeit, dem Menschen „auf der anderen Seite“ die Hand zu reichen, bevor es zu spät ist.
Im Namen des einen Gottes, der auf nichts Anderes aus ist als auf Liebe, Gerechtigkeit und Frieden.