„Dialog der Barmherzigkeit”
Luft zum Atmen, neue Chance
Predigttext: Matthäus 18, 21 – 35 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
21 Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. 24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. 25 Da er's nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. 26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen. 27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch. 28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's bezahlen. 30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war. 31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. 32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; 33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? 34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.
Vorbemerkung
Da in Fellbach am 31.10. der Reformation gedacht wird, nimmt die Predigt auf das Reformationsfest keinen Bezug. Vergebung schenkt Leben. Dazu möchte die Predigt einladen. Nicht vergeben zu können macht hart und bitter, verfestigt Hass und Rachsucht. Dies zu durchbrechen lädt Jesus mit seinem programmatischen und kategorischen Wort von V 22 ein. Eine Spannung besteht allerdings zwischen diesem Vers und dem folgenden Gleichnis vom sogenannten „Schalksknecht“, dem nur einmal vergeben wird. Allerdings wird durch das Gleichnis das Wort Jesu von V 22 gleichsam alltagstauglicher.
Zitate zur Bedeutung des Wortes "Schalk":
Johann Christoph Adelung beschreibt den Schalk unter anderem als „eine Person, welche die Fertigkeit besitzet, andern bey einem unschuldig scheinenden Verhalten zu schaden; wo es von beyden Geschlechtern gebraucht wird, und ein so genanntes Mittelwort ist, welches so wohl einen groben arglistigen Betrieger bezeichnen kann, als auch eine Person, welche andere durch ein unschuldig scheinendes Betragen nur im Scherze zu hintergehen sucht.“ (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3, Leipzig 1798, S.1339-41)
Pierer's Universal-Lexikon von 1862 führt noch weiter aus: Ein Schalk ist „ein Mensch, welcher die Fertigkeit besitzt, unter dem Scheine eines unschuldigen Verhaltens Anderen zu schaden u., sei es aus Bosheit od. zum Scherz, mit Hülfe von heiterer Verstellung listige Streiche ausübt; daher in Zusammensetzungen u. veraltet so v.w. arglistig.“ (Bd. 15, Altenburg 1862, S. 80)
Lieder:
"All Morgen" (EG 440)
"Herr Jesu, Gnadensonne" (404, Wochenlied)
"Bewahre uns Gott" (171)
Gebet: Psalm 143
Lesung: Römer 7, 14 – 25a
(Lesung aus dem Predigttext: V.21-22)
Wie oft muss ich nachsichtig sein, wenn mich jemand anlügt? Wie oft muss ich vergeben, wenn jemand mir oder anderen Übles und Böses zufügt? Die Frage, die Petrus Jesus stellt, habe ich oft – Sie wahrscheinlich auch. Wie oft muss ich nachsichtig sein, wenn, um ein relativ harmloses Beispiel zu nennen, ein Schüler im Religionsunterricht immer wieder zu spät kommt und eine Schülerin drei Wochen nach Ferienbeginn noch kein Heft hat? Wie oft muss ich vergeben, wenn mein Lebenspartner mich anlügt und betrügt? Wie oft muss ich nachsichtig sein und vergeben, wenn ich mitbekomme, wie Menschen andere beleidigen, erniedrigen und töten? Wann und wie zieht man Grenzen? Nachsicht üben, vergeben hat nichts mit vergessen zu tun. Es heißt, jemanden seine Fehler, seine Schuld(en) nicht anrechnen, sondern erlassen. Aber sie nicht vergessen.
Die Antwort die Jesus Petrus gibt, ist stark. Petrus selbst nennt schon eine Zahl, ja ein gewisses Höchstmaß, wenn er fragt: Genügen siebenmal? „Sieben ist ja die traditionelle Zahl für Vollkommenheit“ (U.Luz, EKK 1/3, 1997, S.62). Jesus steigert das dann noch ins Unermessliche. Jesus antwortet für mich unbegreiflich. Er hätte doch einfach Petrus mit Ja antworten können: Ja, Petrus, siebenmal ist sehr gut. – Einfach unbegreiflich, was Jesus fordert. Ist aber Vergebung nicht unbegreiflich? Einfordern kann ich nämlich nicht, dass jemand, dem ich Übles zugefügt und dem ich geschadet habe, mir das vergibt. Es ist eine Sache des Betroffenen, ob er mir die Schuld erlässt und vergibt. Vergebung wird gewährt, wird geschenkt.
Dennoch frage ich mich bei solchen Sätzen von Jesus, und darum sind sie mir, wenn überhaupt, oft schwer zu begreifen: Jesus wo lebst du? Bist du von dieser Welt? Das ist doch übermenschlich, was du da von Petrus, von mir und von den anderen Hörern und Leserinnen deiner Worte verlangst. Das entspricht nicht meiner menschlichen Natur. Soviel vergeben und erlassen kann ich nicht. Eher neige ich dazu auf Ausgleich zu drängen oder auf Rache. Eher verhärte ich. Das ist eine Zumutung, da stecke ich ja immer ein und nehme Übles hin. Aber Jesus ist noch nicht zu Ende. Er spricht weiter. Jetzt wird es spannend. Ich empfinde nämlich eine große Spannung zwischen dem siebenmal siebzigmal, dieser unendlichen Vergebung und dem Gleichnis, der Geschichte, die Jesus jetzt erzählt. Er erzählt das Gleichnis vom sogenannten Schalksknecht. Ich möchte dies Gleichnis nun abschnittsweise mit Ihnen bedenken. Erste Szene:
(Lesung V.23-27)
Der Knecht hat eine riesige Schuld abzutragen, die er wahrscheinlich nie in seinem Leben begleichen kann. Sein Herr, der Gläubiger fordert die Schuld zunächst ein. Der Knecht fleht und bittet um Schuldenerlass. Da erbarmt sich der Herr, sein Herz wird weit, er wird großzügig und erlässt dem Knecht einfach die ganze Schuld. Er vergibt ihm. Der Knecht wird frei. Er hat wieder Luft zum Atmen. Er bekommt eine neue Chance, eine neue Lebensmöglichkeit.
(Lesung V.28-30)
Ja, dieser Knecht hat den Schalk im Nacken. Aber nicht im heiteren Sinn, als einer der Spaß macht. Er ist ein Schalk im ursprünglichen Sinn: einer, der arglistig täuscht, um sich Vorteile zu sichern und durchzusetzen. Der Knecht ist nicht nur ein Schuldiger (gewesen), er ist auch ein Gläubiger. Er begegnet seinem Schuldner. Und was tut er? Er müsste doch eigentlich zu seinem Schuldner, seinem Mitknecht sagen: „Du, ich hab soviel Gutes erlebt … Meine ganzen Schulden wurden mir erlassen, diese drückenden Altlasten, die mir die Luft raubten und mein Herz zerquetschten. Weg sind sie. Vergeben … das muss gefeiert werden. Und damit die Feier schöner wird, vergebe ich dir und erlass dir deine Schulden”.(Zit. aus Wikip., Art. Schalk, 27.10.2015) Stattdessen packt er seinen Schuldner brutal, würgt ihn – als der dann um Gnade winselt, bleibt er hart, ungerührt, unbarmherzig. Er macht den Schuldner fertig. Er raubt ihm Lebensmöglichkeit. Er wirft ihn ins Gefängnis. Der Mensch vergisst schnell, was ihm Gutes widerfahren ist. Der Mensch vergisst schnell, was ihm geschenkt wurde. Vergisst schnell, wo andere mit ihm nachsichtig waren. Er vergisst schnell, wo ihm Schulden erlassen wurden, wo ihm vergeben wurde und jemand sich seiner erbarmt hat. Er vergisst schnell, wo ihm neue Lebensmöglichkeiten eröffnet wurden. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Nachdem glücklichen Ende des ersten Teils, dem unglücklichen des zweiten Teils kommt nun die dritte Szene:
(Lesung V.31-34)
Der Herr erfährt von Zeugen, was sich zugetragen hat. Ihm wird zugetragen, wie sich sein ehemaliger Schuldner verhalten hat. Er hält sich nicht heraus, obgleich er nicht direkt betroffen ist. Er bleibt nicht in der Zuschauerposition. Er mischt sich ein. Er wird wütend und zornig: „Hättest du nicht dem anderen die Schuld erlassen können wie ich dir? Hättest du ihm nicht vergeben können, wie ich dir getan habe? Ich habe dir durch den Schuldenerlass, durch die Vergebung eine neue Lebensperspektive eröffnet. Und du? Du nimmst dem anderen seine Lebensmöglichkeit. Pfui Teufel!“ Folgerichtig zieht der Herr eine Grenze und bestraft den Schalksknecht. Nun kommt Jesus zum Schluss:
(Lesung V.35)
Jesus macht mir deutlich: Gott verlangt etwas von uns. Und Jesus traut uns zu, dass wir Vergebung leben können. Dass wir Schulden erlassen können, ohne zu meinen wir wären dann Verlierer. Jesus traut uns zu, das wir die Vaterunserbitte: „ Und vergib uns unsere Schulden wie auch wir vergeben unseren Schuldnern“ für unsere Lebensgestaltung ernstnehmen und umsetzen. Das wir sie leben. Dass wir gewähren und verschenken können. Dass wir grenzenlos vergeben und lieben können. Grenzenlose Barmherzigkeit, unbedingte Vergebung ist das Programm, zu dem Jesus ruft: „Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal”. Das sind programmatische Sätze, sie prägen meine Geisteshaltung, in der ich mein Leben gestalte.
Wo, wann und wie dem Bösen Grenzen zu setzen und Konsequenzen aus üblen, durch Wort und Tat erzeugten Handlungen zu ziehen sind, das ist mir, das ist uns Menschen aufgegeben – in unserem Alltag, auch bei den großen politischen Herausforderungen unserer Zeit. Aber brauchen wir nicht solch einen unbedingten Zuruf? Durch ein solches Programm kann ein „Dialog der Barmherzigkeit“, wie ihn Pater Jaques und Navid Kermani beschreiben, wirklich werden. Inmitten dieser Welt, in der so Viele und Vieles unversöhnlich einander gegenüber stehen, stärken solche Sätze von Jesus die Hoffnung, sie wehren der Verhärtung und Verbitterung. Von Wolf Biermann stammen die Worte:
“Du, laß dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.
Du, laß dich nicht verbittern in dieser bittren Zeit.
Du, laß dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit.
Wir wolln es nicht verschweigen. Das Grün bricht aus den Zweigen”.