(Predigt im Rahmen der Bezirksvisitation)
“HERR, die Erde ist voll deiner Güte” (Psalm 119,64) – nicht nur die Erde, sondern “Himmel und Erde erfüllt der HERR” (Jeremia 23,24). Als wäre das immer noch nicht genug, stellt sich Gott Mose mit den Worten vor: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel und die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des HERRN, deines Gottes“ (5.Mose 10,14). Bei Paulus schließlich wird die allumfassende Existenz Gottes mit den Worten umschrieben: Gott sei alles in allem (1.Kor 15,28). In einer solchen Welt ist für trennende Unterscheidungen kein Raum.
Kein Platz für Schubladendenken – hier die Guten, dort die Bösen. Gott – „alles in allem“, umfasst alle Menschen, Himmel und Erde, und aller Himmel Himmel. Trotzdem habe ich zumindest heimlich meine Freude an meinen Schublädchen. Meine Schubladen helfen mir, meine Erfahrungen zu sortieren: Das ist gut, das ist schlecht. Die Schublädchen helfen mir, mich in der Welt zurecht zu finden. Ich beobachte diesen Vorgang beim Größerwerden unseres dreijährigen Enkels: In die Steckdose greifen, ist gefährlich. Auf der Terrassenmauer balancieren, ist gefährlich. Wenn der Tag heiß ist, mehr zu trinken, ist wichtig. Und so weiter. So oder so ähnlich haben es viele von uns gelernt, uns in der Vielfalt der Erfahrungen unbeschädigt zu bewegen. Dagegen kann man nichts sagen. Problematisch wird das Hantieren mit solchen geistigen Schubladen, wenn Menschen darin untergebracht werden. Der Nachbar ist streitsüchtig. Die gepiercte Klassenkameradin ist doof, usw. Viele von uns haben ihre Lieblingsfeinde, in den entsprechenden Schublädchen abgelegt. Auch im heutigen Predigttext höre ich mehr oder weniger laut Schublädchen klappern.
(Lesung des Predigttextes)
Haben Sie die Schublädchen klappern gehört? In welche Schublade die Zöllner und Sünder gehören ist klar: untere Schublade. Der Evangelist Lukas inszeniert spürbar diese Rollenverteilung: Verdächtig sind sie, zu ihnen sollte man Distanz halten, sie handeln moralisch verwerflich – Prostitutierte, Ehebrecher, Zöllner. Distanz halten schon aus religiösen Gründen: im Kontakt mit ihnen werde ich selbst unrein, infiziere mich religiös durch eine Berührung mit ihnen wie bei einer ansteckenden Krankheit. Das wissen die Zeitgenossen Jesu. Und die Hörerinnen damals und heute werden in diese Denkweise eingebaut. Und dann die anderen: Die Pharisäer und Schriftgelehrten. Sie stellen sich selbst vor, suchen sich selbst ihre Schublade: Zu den Sündern halten sie Abstand. Über Jesus murren sie. Nörgeln, meckern, kleinlich herummaulen, Dibbelschisser halt. An Jesus nörgeln sie herum, weil er mit den Zöllner und Sündern ist, keine Distanz hält, sondern Gemeinschaft mit ihnen lebt, sucht.
Die untere Schublade, die obere Schublade – Jesus geht in diese Situation und erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom gütigen Vater. Hauptpersonen in diesem Gleichnis: Der Vater, der jüngere Sohn und der ältere Sohn. Welcher Sohn in welche Schublade gehört, ist – zumindest auf den ersten Blick – klar: Der jüngere Sohn fordert sein Erbe, zieht los, verprasst sein Vermögen mit Huren, wie im der ältere Bruder vorwirft: So viel Leichtsinn und Leichtfertigkeit, Zügellosigkeit gehört in die untere Schublade. Der ältere Sohn – pflichtbewusst, loyal, fleißig, korrekt – ein Fall für die obere Schublade; aber glücklich ist er auf seinem Weg auch nicht geworden. Auch in der oberen Schublade nicht glücklich? Das Schubladendenken gerät zum ersten Mal in eine Krise.
Vermutlich ist die Hörerschaft Jesu auch nicht willig in ein solches Schubladendenken eingestiegen. Der jüngere Sohn war in ihren Augen nicht unbedingt der leichtfertige Hallodri, der es nur auf Abenteuer und Spass abgesehen hatte. Israel war damals ein typisches Auswandererland. Zu viele Menschen in einem zu kleinen Land. Die Zweit- und Spätergeborenen hatten die Wahl, ein Leben lang Knecht des älteren, des Hoferben zu sein – oder eine Existenzgründung – oft in einem anderen Land – zu versuchen. Insofern erleben wir den jüngeren Sohn auch in einer tragischen Rolle: Er ist ein gescheiterter Existenzgründer. Vielleicht war er auch unklug in seinen Geschäften. Aber er hat etwas versucht, gewagt – bis er schließlich ganz unten angekommen ist. Als Hirte von Schweinen, den unreinen Tieren. Hungrig, gierig auf das Schweinefutter, das beschädigt die Selbstachtung eines Menschen. Scheitern hat ja nicht nur eine äußere Seite. In mir drin führt es zu Verzweiflung, Trauer, Ratlosigkeit. Nur gut, dass er in sich gegangen ist und nicht in dieser depressiven Stimmung hängen geblieben ist. Beim Blick in die obere Schublade sehen wir den älteren Sohn. Als Erbe des Hofes hätte er glücklich und zufrieden sein können. Meinen wir. Aber im Streit mit dem Vater kommt seine tiefe Lebensunzufriedenheit zum Ausdruck. Im Zorn sagt er dem Familienoberhaupt: „Immer bin ich fleißig gewesen, immer anständig, nie gefeiert und fröhlich gewesen“.
Der Vater steht zwischen den beiden Söhnen. Aber als Hörer des Gleichnisses habe ich nicht den Eindruck, dass er zwischen den Parteien zerrieben wird. Im Gegenteil: Er gestaltet in großer Souveränität die Situation. Seine Hauptaktivität dabei ist, den beiden Söhnen ohne irgendwelches Schubladendenken zu begegnen: Dem gescheiterten Existenzgründer läuft er entgegen, umarmt und küsst ihn, stattet ihn mit Schuhen, Kleidern und Ring ein, setzt ihn also wieder in die vollen Sohnesrechte ein – eine bewegende Situation. Den älteren Sohn fordert er auf, fröhlich zu sein und guten Mutes. Als könne man gute Laune und Freude anordnen. Der Vater versucht es. Er hat einen guten Grund: „Der Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden – also freu Dich, tanze und singe mit den anderen.“
Bespricht man mit Schülerinnen und Schüler dieses Gleichnis, bleibt das Handeln des Vaters umstritten. Einerseits freuen sie sich für den jüngeren Sohn, dass er wieder aufgenommen wird. Andererseits haben sie auch Verständnis für den älteren Bruder. Den jüngeren Bruder als Knecht wieder aufzunehmen, ja, das wäre denkbar. Aber ihn wieder in die vollen Sohnesrechte einzusetzen, das finden sie ungerecht vom Vater, da haben sie Verständnis für den älteren. Die Großzügigkeit Gottes irritiert nicht nur in diesem Gleichnis! Die Großzügigkeit Gottes, seine Liebe und seine Barmherzigkeit – das ist der Skandal des Evangeliums! Gott, dessen Güte Himmel und Erde und aller Himmel Himmel erfüllt, der alles in allem ist, umfasst alle Menschen. Seine Kraft der Liebe umfasst auch alle Seiten meines, unseres vielfältigen Lebens. Unser Gelingen, unser Scheitern, unsere Freude und unsere Trauer. Gottes Liebe ist wie ein weites Zelt, in dem es Platz und Willkommensein für alle gibt.
Aus diesem Gottvertrauen heraus, aus dieser Einheit mit Gott als dem Ursprung von allem, erzählt Jesus – vor erwähnten Hörerschaft – dieses Gleichnis. Im Licht der Liebe Gottes sind die Zöllner und Sünder nicht länger in der unteren Schublade, weil es vor Gott überhaupt keine Schubladen mehr gibt. Sie sind diejenigen, auf die die Liebe Gottes in schnellen Schritten zugeht, sie umarmt und küsst. Nicht um ihr Fehlverhalten zu bagatellisieren, sondern um sie wieder heil zu machen. Ihr Beschädigung zu heilen, sie aus ihrer Ratlosigkeit, Verzweiflung und Trauer heraus zu leiten. Das Licht der Liebe Gottes fällt auch auf die Pharisäer und Schriftgelehrten. Aus der Sicht Jesu ähneln sie dem älteren Bruder: Korrekt, pflichtbewusst – ja, aber auch selbstgerecht und überheblich. Mir so nah und Gottes Liebe so fern. Gut, dass es den Vater gibt. Gut, dass Gottes Liebe in großer Souveränität über meinen, unseren Schublädchen steht. In meinem Scheitern, meiner Ratlosigkeit, meiner Trauer macht Gott es mir leicht, mich auf den Weg zu machen, denn er kommt mir entgegen. In meinem Murren über andere, in meiner lebensfeindlichen Überheblichkeit und Besserwisserei weist er mich auf die andere Seite des Lebens: Wir hören das Singen und Tanzen derer, die sich freuen über das neu gewonnene Leben. Das Wort des Wort gewinnt neu an Gewicht: sei „fröhlich und guten Mutes“ – um Jesu Christi willen.