Die Spur der leisen Gnade
Gottes Gnade gewinnt dort ihre weihnachtliche Gestalt, wo Befreiung geschieht, sich etwas löst und neu in Bewegung setzt
Predigttext: Titus 2,11-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.
Weiße Buchstaben schreien den Leser an und drängen sich auf. Ihre schiere Größe sprengt das Gesichtsfeld des Lesers. Der Hintergrund aus Druckerschwärze wirkt genauso bedrohlich wie die weiße Farbe der Buchstaben. Vor drei Wochen, am 3.Dezember 2015 erschien die amerikanische Boulevardzeitung New York Daily News mit einer Überschrift, die über die ganze Titelseite reichte. „God isn’t fixing this!“ Das heißt übersetzt: „Gott wird das nicht in Ordnung bringen!“ Diese herausgeschriene Klage war zu lesen am 3.Dezember, am Tag nach der Schießerei in einer Behinderteneinrichtung in San Bernadino in Kalifornien. Vierzehn Menschen kamen dabei ums Leben. Die Polizei verfolgte die Täter und stellte sie nach einem weiteren Schusswechsel.
Gott wird das nicht in Ordnung bringen! Gott kann den Schusswechsel nicht rückgängig machen. Die Zeitung meinte etwas anderes: Sie störte sich daran, daß die Kongreßabgeordneten auf Twitter zu Gebeten aufforderten, aber eine schärfere Waffengesetzgebung seit langem strikt ablehnten. Nur ein solches Gesetz aber könnte in den USA die große Menge von Amokläufen und Schießereien mit tödlichem Ausgangs verringern. Gegen manche Verbrechen helfen bessere, wirksame Gesetze. Die Zeitung sagte: Die Politiker reden sich nur auf Gebete heraus, weil sie selbst nichts tun wollen.
Gott wird das nicht in Ordnung bringen! Diese Überschrift könnte über diesem ganzen Jahr 2015 stehen. Es gab so schrecklich viele Anlässe zu beten, zu klagen und zu trauern, Gefühle der Ohnmacht, der Trauer und der Wut, die sich gar nicht mehr in Gebete verwandeln wollten.
7.Januar: In Paris dringen zwei Schwerbewaffnete Attentäter in die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ein und töten insgesamt elf Personen.
24.März: Ein psychisch kranker Ko-Pilot steuert ein Flugzeug in den französischen Alpen offensichtlich bewußt in den Sinkflug. 150 nichtsahnende Passagiere sterben mit ihm.
13.November: Eine Anzahl von Terroristen verübt mehrere Anschläge in Paris; sie töten dabei 130 unbeteiligte Menschen, die im Restaurant gegessen oder einem Rockkonzert zugehört haben.
2.Dezember: Zwei Terroristen feuern ihre Gewehrsalven in einer Behinderteneinrichtung in Kalifornien ab.
Diese Schlagzeilen stehen nur stellvertretend für weitere zahllose Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Willkürtaten, Schießereien, eine endlose und in diesem Jahr besonders schlimme Reihe, täglich in der Tagesschau zu sehen und auf den Titelseiten zu lesen. Vieles ist schon wieder in den Hintergrund des Bewußtseins gerutscht. Gott wird das nicht in Ordnung bringen! Gott kann das nicht rückgängig machen. Dem Terror und der Angst sind die Menschen hilflos ausgeliefert. Diesem Satz unserer Gegenwart steht gegenüber der genauso starke Satz aus dem Titusbrief: Denn es ist erschienen. Nachrichten berichten nicht über Erscheinungen. Nachrichten berichten, was passiert, immer das Wichtigste, Grausamste, Schlimmste zuerst. Attentate passieren. Anschläge passieren. Gott aber erscheint. Was ist der Unterschied zwischen Erscheinen und Passieren?
Das Passieren ist vom Zufall bestimmt. Menschen bestimmen das Passieren. Der kühl berechnete Plan für ein Attentat bedeutet einen grausamen Zufall für das Opfer, das dabei ums Leben kommt. Das Medium sind die Nachrichten, die ihren Zuschauern alles, was passiert, in Häppchen von fünf Minuten oder einer halben Stunde aufbereiten. Eine gewonnene Abstimmung. Flüchtlinge stehen vor einer geschlossenen Grenze. Ein Vertrag. Ein Attentat. Steigende Börsenkurse. Fallende Zinsen. Ein Staatsbesuch. Noch mehr Flüchtlinge überqueren die Grenze. Die nächste Abstimmung. Eine Krise. Noch eine Krise. Eine Epidemie. Ein Attentat. Eine verlorene Abstimmung. Außenminister sitzen immer im Flugzeug. Regierungschefs kommen zu Krisengipfeln zusammen.
Das Band mit den Schlagzeilen läuft unablässig. Die schreienden Großbuchstaben werden immer öfter gebraucht. Das Ergebnis ist eine Geschichte von grausamen Zufällen aus Attentaten, Katastrophen und gescheiterten Anstrengungen, Gutes zu tun.
Auf das Erscheinen dagegen haben die Menschen keinen Einfluß; es wird nicht von ihnen gemacht. Gott bestimmt die Erscheinungen, die Menschen können sie nur wahrnehmen. Im Titusbrief steht: Denn es ist erschienen. Das ist sanft und unaufdringlich, eher Kerzenlicht als Suchscheinwerfer. Für die großen, schreienden Buchstaben würde das gar nicht passen. Denn es ist erschienen. Das heißt: Es sollte so sein. Gott wollte es so. Gott wollte den Menschen gnädig sein. Gnade ist geschehen, und es war kein Zufall.
Gottes Willen übertrumpft die Geschichte der Menschen, in der das Böse sich breitmacht. Übrigens: Erscheinungen sind nicht ohne weiteres sichtbar. Es gibt Menschen, die wollen sie gar nicht sehen. Und manchmal bemerkt sie keiner. Die dreitausendfünfhundert Gramm des Jesusbabies im verlassenen Bethlehem in der abgelegenen Provinz hätten Weltgeschichte und Nachrichtenagenturen auch beinahe übersehen. Aber dieses Baby ist geboren worden – es ist erschienen, weil Gott es so wollte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis es nach den Hirten auch die anderen Menschen bemerkt haben.
Der Titusbrief hält sich nicht lange mit dem kleinen Baby auf. Aus der Erscheinung wird eine ganz eigene Geschichte der Gnade, wie eine Blüte, die sich langsam entfaltet und zum Sonnenlicht hinstreckt. Die Spur der leisen Gnade verbreitert sich unaufhörlich. Das schutzbedürftige kleine Kind in der Krippe wird größer und erwachsener. Der junge Mann fängt an zu predigen und zu heilen, er gewinnt Anhänger, die ihn nicht immer verstehen. Die Gnade Gottes, die in Jesus kommt, bewirkt viel Gutes, sie heilt, sie ist barmherzig, aber sie bringt die Menschen auch nachhaltig in Verwirrung.
Gottes Gnade paßt nicht richtig in die Welt hinein, diese Mischung aus Heilung und Weisheit ist zu viel für die Menschen, die sie nicht einordnen können in die gewohnten Kategorien ihres Denkens und Fühlens. Diese Gnade paßt im Grunde nicht in die Welt. Deswegen führt sie im Leben Jesu geradewegs an das Kreuz, dem christlichen Zeichen für die tiefe Zweideutigkeit dieser Welt. Schon das Baby ist alles zugleich, das Kind in der Krippe ist der spätere Prediger und Wunderheiler, aber eben auch der Gekreuzigte und der Auferstandene, der Mensch, der wie kein anderer die Nähe Gottes verkörperte, das lebendige Zeichen der Gnade.
Gottes Gnade in der Gestalt des Jesus von Nazareth, sei es als Baby oder als Prediger oder als Auferstandener, sprengt jede Bilanz und jede Lebensplanung. Wer in seinem Leben berechnen und sich in Sicherheit einmauern will, der kommt mit der Gnade Gottes nicht zurecht. Gnade Gottes, Weihnachten – das verbindet sich mit Überraschung und Enthusiasmus, das ist unfaßbar, undenkbar und umstürzlerisch. Gottes Gnade ist neuer Sauerstoff für die Lebens- und Glaubenskräfte, die sich im Normalen verschlissen haben. Gottes Gnade gewinnt dort ihre weihnachtliche Gestalt, wo Befreiung geschieht, wo sich etwas löst und neu in Bewegung setzt.
Um offen zu sein für das Neue und Überraschende der Gnade, gibt der Titusbrief vier Empfehlungen: Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Warten. Die ersten drei Empfehlungen zielen auf eine Haltung der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Haltet eure Augen offen für die gegenwärtigen Zeichen der Gnade, für alle Schritte in Richtung Gerechtigkeit. Es genügt, nüchtern und wach zu sein. Es genügt, die Augen nicht zu verschließen, auch wenn wir trotz aller Nachrichten von Anschlägen, Explosionen und Attentaten manchmal am liebsten die Augen schließen würden. Besonnenheit ist das Gegenteil von Ungeduld und Nervosität. Wer nervös wird, neigt zu Überreaktionen und dann zur Verzweiflung, weil er davon enttäuscht ist, daß das Große, was er sich erwartet hat, nicht geschieht. Besonnenheit und Nüchternheit zielen auf Geduld: Nicht ich selbst als Glaubender bin der Ursprung der Gnade, ich kann sie nicht schaffen, ich kann sie nur annehmen. Sie kommt nicht aus mir selbst, sondern sie kommt von dem Gott, der die Welt geschaffen hat.
Wer das Wunder der Gnade erleben will, muss warten können. Aber auf wen warten glaubende Christenmenschen? Der wartende Glaube verweist auf eine Hoffnung, die die Geschichte des Babies von Weihnachten weit hinausdenkt – bis in die Ewigkeit. Das kleine Kind ist der zukünftige Prediger, der Heiler, der barmherzige Wundertäter, genauso aber auch der Geplagte, der Gequälte, der Verurteilte und der Gekreuzigte. Und er ist der Auferstandene, der Verherrlichte, der Sieger über den Tod. Der Predigttext öffnet uns Augen und Ohren für die schlichte Erkenntnis: An Weihnachten feiern wir stets auch einen Teil Karfreitag, einen Teil Ostern, einen Teil Himmelfahrt. Weihnachten steht nicht nur im Zeichen des Kinderglaubens, es ist geprägt von allem, was der christliche Glaube an Erkenntnis über Liebe und Hoffnung zusammengetragen hat.
Weihnachten ist Geburt, ist der Anfang der Geschichte Jesu Christi. Im Anfang ist jedoch diese gesamte Lebensgeschichte und vor allem ihr Ende in der Auferstehung schon enthalten. Unsere Hoffnung ist geprägt vom Warten darauf, daß nicht Christus selbst, sondern daß wir alle in der Auferstehung den Tod überwinden. Das ist die große Hoffnung auf die Ewigkeit, die unser christliches Warten bestimmt. Zu sehen ist sie schon in dem kleinen Krippenkind an Weihnachten, ganz am Anfang, als das schlafende Kind von der Lebensgeschichte, die auf es zukommt, noch nicht einmal etwas ahnt. Gott liegt in der Krippe, es bedarf der Hilfe, des Schutzes und der Fürsorge seiner Eltern Maria und Josef. Das ist die erste Überraschung der Gnade. Die Kette der Überraschungen Gottes wird sich unaufhörlich durch Jesu gesamtes Leben ziehen, bis hin zur letzten Überraschung der Auferstehung.
Weihnachten: Gott kommt in Gnade zu den Menschen. Ich komme nochmals auf die schreienden Buchstaben der amerikanischen Boulevardzeitung: Gott bringt das nicht in Ordnung! Haben die Gnade von Weihnachten und der Schrecken der Attentate nichts miteinander zu tun? Ich bin überzeugt: Sie haben miteinander zu tun, aber in einem besonderen Sinn. Aus Weihnachten lernen wir, daß Gott schutzlos und bedürftig auf die Erde kommt, ohne Zwang und ohne Gewalt, nicht so, daß er den Menschen seine Macht aufpfropfen würde. Er kommt schutzlos, und er drängt sich den Menschen nicht auf. Er kommt so, daß er sich solidarisch erklärt, mit den Armen und den Bedürftigen, den Schwachen und aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, mit den Kranken und besonders mit den Opfern von allen Gewalttaten. Gott ist stets bei denen, die unschuldig leiden. Die Gerechtigkeitsfrage bleibt offen.
Die Unordnung dieser Welt ist Sache der Menschen, sie müssen sich kümmern in politischer, sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht. In dieser Perspektive ist auch alles zu tun, damit Menschen in Sicherheit und Freiheit, vor allem Religionsfreiheit ihren gewählten Glauben ohne Angst leben können. Aber jeder muss sich bewusst sein, dass die Mittel der Politik und des Sozialen begrenzt sind. Gerechtigkeit lässt sich so nicht herstellen, weil sich Trauer und Leid, unendlicher Schmerz über sinnlosen Tod, nicht aus der Welt schaffen lassen. Trotzdem führt die nüchterne Einsicht in die begrenzte Reichweite unseres politischen Handelns nicht in Resignation oder Verzweiflung.
Der Glaube fließt weiter, und die Hoffnung versiegt nicht. Das geschieht deshalb nicht, weil Weihnachten nicht nur das Fest mit dem Tannenbaum ist. Weihnachten ist nur der Anfang der Gnade Gottes, die sich mit Jesus von Nazareth in der Welt ausbreitet. Weihnachtsgeschichte ist nicht mit dem Abend des zweiten Feiertages zu Ende. Sie setzt sich fort. Sie setzt sich fort mit den kleinen Überraschungen der Gnade, die niemals in den Nachrichten gezeigt werden, die aber denen, die Vertrauen und Glauben an Gott besitzen, Mut geben, ihr Leben nicht einfach wegzuwerfen, sondern bei aller Trauer und bei allem Leid, weiter zu gehen im Leben, in aller Hoffnung, in aller Besonnenheit und in aller Nüchternheit. Die Gnade wird in Ewigkeit nicht aufhören.
Sehr aktuell und ausführlich geht Pfarrer Dr. Vögele auf die besondere Situation zu Weihnachten in diesem Jahr ein. Nach relativ friedlichen Jahren haben Terroristen so schlimme Gräuel verübt, dass eine Zeitung schreibt: Gott wird das nicht in Ordnung bringen! Im Predigttext dagegen heißt es: Erschienen ist die heilsame Gnade Gottes allen Menschen. Aber zwischen erscheinen und passieren besteht ein großer Unterschied. Durch Menschen passiert anderen Menschen Böses. Das Erscheinen der Gnade aber hat mit Gottes Plan zu tun. Jesus entfaltet Gottes Plan als Prediger, Heiland und Auferstandener. Er schenkt neuen Sauerstoff für alle Lebens- und Glaubensbereiche bei uns. Der Predigttext empfiehlt dazu Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Warten. Weihnachten ist der Anfang der Geschichte Jesu mit der Hoffnung auf ewiges Leben bei Gott und ihm. Zum Schluss kommt der Prediger wieder auf den Eingangssatz zurück. Gott ist gerade bei den Schwachen. Aber große Ungerechtigkeit in unserer Welt müssen wir selbst beseitigen. Die Hoffnung aber versiegt nicht, und die Gnade Gottes wird in Ewigkeit nicht aufhören. Sehr aktuell geht der Pfarrer auf die durch Terroranhäufung und Flüchtlingselend ganz neue Situation zur üblichen Weihnachtsfreude ein. Das Wort Flüchtlinge kommt allerdings nur ein Mal vor. In diesem Jahr könnte man zu Weihnachten besonders auf das Flüchtlings-Elend der Heiligen Familie eingehen und es parallelisieren. Die Predigt spricht an und verbreitet Gnade und Hoffnung.