Doppelte Blickrichtung
Reformationsgedenken 2013
Predigttext: Jesaja 62,6-7.10-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
An die Reformation denken bedeutet zurück blicken. Doch wie? Voller Stolz über den Anfang unserer Konfession? Oder gelangweilt, weil uns ein fernes Datum nicht mehr begeistert? Oder mit dem festen Willen, den Geist der Erneuerung der Kirche wach zu halten? Kurz gefragt: Wie verbindet sich die Erinnerung an damals mit dem Interesse, wohin sich unsere Kirche entwickeln könnte? In den Wörtern Reform, Reformation steckt bereits der Blick zurück: Re=zurück, als sollte und könnte eine frühere Gestalt (=form) der Kirche wieder hergestellt werden. „Zurück zu den Quellen“ war für viele in der frühen Neuzeit der Grundsatz; und wichtig war den Reformatoren darum die Orientierung an der Quelle unseres Glaubens, der Heiligen Schrift, und durch die Heilige Schrift hindurch an dem, wie sich Gott in Jesus gezeigt hat. Aber wir können bei diesem Weg zurück in die Vergangenheit noch weiter zurück gehen: Unser Glaube steht auf der Grundlage des Alten Testaments und des jüdischen Glaubens. Leider hat die Christenheit das an vielen Stellen vergessen, sogar bewusst verdrängt oder geleugnet. Darum ein Bibeltext aus der Glaubensgeschichte Israels? Aber wieso ausgerechnet dieser Abschnitt gerade für diesen Sonntag der Reformation?
Entstanden ist der Bibeltext in der Zeit des Neuanfangs und Wiederaufbaus nach der babylonischen Gefangenschaft. Im ersten Teil dieses Buches geht der Profet, nach dem dieses Buch benannt ist, Jesaja, hart ins Gericht mit seinem Volk und ihrer Führung; die sich ankündigende Katastrophe deutet er als Strafe Gottes. Im zweiten Teil dieses Buches, dessen Autor wir nicht mit Namen kennen, wird den nach Babylon Verschleppten Mut gemacht: Gebt nicht auf, haltet fest an eurem Glauben; Gott schenkt euch einen Neuanfang! Tröstet mein Volk!, sind seine ersten Worte. Im dritten Teil – vielleicht haben wir es hier mit verschiedenen Schreibern zu tun – geht es, wie gesagt, um den Neuanfang nach der Rückkehr der Verbannten: Jerusalem war bei ihrer Rückkehr nicht menschenleer, aber doch in einem wenig einladenden Zustand. Sollte Jerusalem also wieder werden, was es im Selbstverständnis des jüdischen Volkes war, musste noch über lange Zeit hart gearbeitet werden; Gegner des Wiederaufbaus mussten abgewehrt werden, vieles mehr. Diese Stimmen, die wir den 3. Jesaja nennen, wollen ermutigen, ermahnen: Der Wille zum Neuanfang darf nicht erlahmen. So haben also auch diese letzten Kapitel des Jesaja-Buches die doppelte Blickrichtung: den Blick zurück: Was waren Stadt und Tempel gewesen vor der Zerstörung durch die Babylonier? Machen wir uns immer neu bewusst, welche zentral wichtige Rolle Jerusalem und der Tempel für den israelischen Glauben gewesen sind! Und der Blick nach vorne: Durch die Rückkehr ist unsere Geschichte als Volk und vor allem Gottes Geschichte mit uns als seinem Volk nicht zu Ende; unser Glaube erwartet Neues.
Mich fasziniert die Art dieses Zurückblickens: Die Wächter auf den Mauern sollen Gott erinnern an das, was er seinem Volk zugesagt hat. Es klingt fast unverschämt, anmaßend: Gebt Gott keine Ruhe, lasst nicht locker! Gott wird daran erinnert: Eine lebendige Stadt mit einem prächtigen Tempel dient doch auch seinem Lobpreis. Gott wird also daran erinnert, was für ihn selber das Beste ist. Natürlich geschieht diese Erinnerung auch zum Vorteil dieses Volkes: Was Gott gut tut, das tut auch ihnen hier in dieser Stadt gut. Ich habe zunächst überlegt: Ist das die richtige Adresse? Gott erinnern? Es müssen doch die Menschen, die Zeitgenossen erinnert werden! Dann aber habe ich mir klar gemacht: Wer Gott erinnert, erinnert sich damit selbst an die eigenen Grundlagen. Für jeden religiösen Menschen ist Gott die Lebensgrundlage. Also statt zu überlegen: Wie sahen die Verhältnisse damals aus – das kann reine Nostalgie sein, ein Hängen am längst Vergangenen, Blindheit für Neues – also: statt sich bannen zu lassen von angeblich besseren Zeiten, könnten wir uns mit dem Blick auf Gott erinnern: Welche Zukunft wurde uns denn als Grundlage versprochen? Und dann neu in diese Zukunft aufbrechen, eine alte und doch immer neue Zukunft. Machen wir uns bewusst: Für eine antike Stadt waren Mauern als Schutz wichtig; durch Tore musste jemand eine Stadt betreten und dann wieder verlassen. Für mich sind Mauern und Tore zum Bild geworden dafür, worum es hier geht.
Natürlich ist uns klar: Mauern und Tore bedingen sich gegenseitig: Tore kann es nur geben, wo eine Wand oder zumindest eine hohe Abgrenzung existiert. Und umgekehrt braucht jede Mauer Tore, um auf die andere Seite zu gelangen. Nun braucht natürlich auch unser Glaube wie jeder andere beides: Wem seine religiöse Überzeugung wichtig ist, der schaut auf das Besondere: Was unterscheidet diesen meinen Glauben von anderen religiösen und sonstigen Überzeugungen? Es geht also um Abgrenzungen. Andererseits wollen und sollen wir uns öffnen für die religiösen Formen anderer, für ihre Art, ihren Glauben zu leben. Ein Glück und Gott sei Dank: Wir dürfen heute Ökumene leben. Und Toleranz ist in diesem Jahr – in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 – ein Schwerpunkt unserer evangelischen Kirche. Aber es geht mir bei Mauer und Tor noch um mehr: Ist unser Leben als Gemeinde, unser gottesdienstliches Feiern eher „vermauert“, hart, unbeweglich geworden oder sind wir offen, öffnen sich unsere Tore und Türen in eine neue Zukunft? Wie in diesem Wort aus dem dritten Teil des Jesaja-Buches: Es geht auch bei uns bei Weitem nicht nur um den Blick zurück, so wichtig der ist; wir wollen aus der Vergangenheit für unsere Zukunft lernen. So ist der Blick auf diesen Gott und die Anfänge unserer Religion immer der Blick nach vorne: Wohin machen wir uns auf den Weg? Nicht vermauert stehen bleiben, sondern bei offenen Türen den frischen Wind spüren.
Die Wehmut beim Blick zurück bringt uns nicht weiter. Wir wollen den Veränderungen und den neuen Verhältnissen unserer Zeit anders begegnen als mit einem Lamento. Dabei geht es nie nur um blinde Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Dabei bleibt der Blick zurück wichtig: Wo kommen wir her? Was sind unsere Grundlagen? Mit welchen Verheißungen hat dieser Weg begonnen? Verheißungen – damit wechselt die Blickrichtung. Die Wächter auf den Mauern bewachen nicht die Stadt, sie erinnern Gott an seine Zusagen. Das begeistert mich so, das will ich heute am Reformationssonntag für uns fruchtbar machen. Wir erinnern Gott als Christen an das, was Jesus uns vorgelebt hat. Machen wir es wie Jesus im Vater Unser; erinnern wir Gott an seinen Willen, an sein kommendes Reich, an die Zusagen, die in seinem Namen liegen. Wer Gott erinnert, gewinnt für sich einen neuen Blick auf die Verhältnisse in unserer Welt. Ein neuer Blick verändert Einstellungen und Verhalten. Jesus hat aus der Nähe Gottes gelebt. Wir können das erleben: Wer Gottes Nähe einklagt, bei dem wächst und entfaltet sich Vertrauen; diese Nähe Gottes trägt in sich andere Formen von Nähe, zu anderen Menschen, zu unserer Welt. Wir werden es erleben: Gehen wir unsere Wege im Bewusstsein: Gott geht mit!, wird sich unser Weg, unser Schritt verändern. Ich denke auch an die offenen Stadttore: Beten wir um Gottes Nähe und es werden sich Türen öffnen, unser Herz und die Sinnesorgane und unsere Haltung, hier im Gottesdienst und draußen. Sie werden staunen: Wer Gottes Nähe anruft, kann Wunder erleben.
Sehr vermittelnd und ökumenisch predigt Pfarrer Paetzoldt über die Refomation. Den Reformatoren ging es zuerst um eine neue Rück-Orientierung auf die Quelle des Glaubens, die Bibel. Dann ging es wesentlich darum, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Genau das hatte auch der Verfasser des Predigttextes, Tritojesaja, gemacht. Sehr originell ist der Gedanke, dass die Gläubigen im Gebet Gott an seine Verheißungen erinnern. Aber Jesus hat auch im Vaterunser Gott an seine Verheißungen erinnert. Wer Gottes Wunder anruft, kann Wunder erleben. Für mich ist diese Predigt merkwürdig anregend, ausgewogen, interessant, weise und mitschwingend.