Dumme Schafe?
Meine Geschichte vom guten Hirten
Predigttext | Johannes 10,11-16 |
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Kirche / Ort: | Oppertshofen und Neunkirchen |
Datum: | 04.05.2025 |
Kirchenjahr: | Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern) |
Autor: | Pfarrer Dr. Rainer Oechslen |
Predigttext: Johannes 10,11-16 (Übersetzung nach Martin Luther)
(Jesus sprach:) Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
„Ich bin der gute Hirte“, sagt Jesus. Und weiter: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich“. - Ihr alle, die ihr zu diesem Gottesdienst gekommen seid, habt eure Geschichte mit dem guten Hirten, denn Jesus kennt euch und ihr kennt ihn. Manchen fällt zum guten Hirten sofort etwas ein. Anderen würde es eher schwerfallen, ihre Geschichte mit dem guten Hirten so einfach aus dem Stand zu erzählen. Vielleicht wird es euch leichter fallen, wenn ich meine Geschichte erzählt habe. Wir werden sehen. Jedenfalls: Ihr habt eure Geschichte, und irgendwann werdet ihr sie auch erzählen. Meine Geschichte hat drei Kapitel.
Kapitel 1
Im Sommersemester1977 studierte ich in Heidelberg. Am Sonntag ging ich in die Universitätskirche. An diesem Sonntag predigte ein Professor aus der Schweiz von den schlechten und den guten Hirten: „Schafe sind dumme Tiere. In meiner Heimat im Berner Oberland beispielsweise ziehen sie sich in der Sommerhitze an den Gletscher zurück, sammeln sich am Lawinenkegel, wo es kühler ist. Dann bleiben sie in ihrer schäflichen Sturheit dort oben und magern ab, weil sie am Rand von Schnee und Eis kein Futter mehr haben. Es muss jemand hinaufsteigen und sie zurückholen. … Schafe brauchen einen Hirten.“
Ich glaubte schon damals nicht, dass Schafe dumme Tiere sind. Jesus sagt kurz nach unserem Abschnitt: „Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir“. (V 27) Inzwischen hat mir ein Freund erzählt, dass die Schafe von heute nicht nur die Stimme ihres Hirten erkennen, sondern auch das Motorengeräusch seines Autos. Fahren andere Autos vorbei, grasen sie ruhig weiter. Kommt er mit dem Wagen, dann haben die Schafe die Köpfe und schauen ihm entgegen.
Aber der Rest der Predigt leuchtete mir sofort ein. Der Prediger erzählte vom Leben an der Universität, wie da Professoren und Professorinnen sich in eine Sache verbeißen, kaum noch aus ihrem Labor oder ihrer Studierstube kommen und dabei einsam werden. Auch Studenten und Studentinnen kann das geschehen. Es geht aufs Examen zu, sie müssen lernen, treffen ihre Freunde und Freundinnen nicht mehr und werden Einsiedler. Ich wollte nicht einsam werden. Der gute Hirte sollte mich behüten.
Ich mache zwei Sprünge. Der erste Sprung führt mich aus dem Jahr 1977 in die Jahre 2000 und 2021. Die Schulen waren wegen der Pandemie geschlossen. Schüler und Schülerinnen saßen zuhause vor dem Bildschirm und versuchten etwas zu lernen. Vielen gelang es nicht. Wenn ich eingeladen wurde, irgendwo eine Schulstunde zu halten und etwas aus meinem Fach zu erzählen, dann sah ich auf meinem Bildschirm fast nur schwarze Quadrate. Die Schüler hörten mich, aber sie hatten ihren Bildschirm nicht angeschaltet. Ich hörte sie nur, wenn sie ihr Mikrophon anklickten. Für mich war das ein Bild völliger Einsamkeit. Es wundert mich gar nicht, dass man inzwischen in der Zeitung lesen kann, wie viele junge Leute sich einsam fühlen.
Mit meinem zweiten Sprung gelange ich von der Universität Heidelberg auf den Marktplatz von Leutershausen, meinem Heimatort. Da steht in der Mitte der Röhrenbrunnen. Vor ein paar Tagen erzählte mir ein Mann, nur wenig älter als ich, wie früher nach dem Gottesdienst die Leute dicht an dicht um den Röhrenbrunnen standen und sich unterhielten. Die Erlebnisse und Neuigkeiten der vergangenen Woche wurden ausgetauscht. Wenn der Pfarrer mit seinem Auto kam, um zum Gottesdienst in den Nachbarort zu fahren, dann musste erst Platz gemacht werden. Wenn ich heute in Leutershausen predige, dann habe ich danach freie Fahrt. Niemand unterhält sich mit den Nachbarn. Fast alle gehen von der Kirche schnell nach Hause. Und bei so manchem wartet daheim nicht einmal jemand.
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, heißt es am Anfang der Bibel (1. Mose 2,19). Das bezieht sich nicht nur auf die Ehe, die Gemeinschaft. Einsamkeit ist für niemand gut. Wir brauchen einen Hirten, der uns herausholt aus unserer Einsiedelei und Eigenbrötelei.
Kapitel 2
Inzwischen schrieben wir das Jahr 1990. Ich war zu der Zeit ein junger Pfarrer in Schweinfurt. Manchmal bat man mich, für eine Zeitschrift eine Vorbereitung auf eine Sonntagspredigt zu schreiben. So schrieb ich auch einmal über den guten Hirten. Ich las nach bei Luther und anderen Reformatoren, was sie über den guten Hirten sagen.
Im Bekenntnis der lutherischen Kirche heißt es: „Es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.“ Das führte ich an. Und ich wies daraufhin, dass nach Luther eine Gemeinde das Recht hat, ihre Pfarrer zu wählen und nötigenfalls abzuwählen. Luthers Begründung: Die Schafe erkennen die Stimme des guten Hirten und wissen wohl zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Stimmen, die an ihr Ohr dringen.
Ein halbes Jahr später schrieb mir ein Kollege, der schon im Ruhestand war: „Ich predige gelegentlich als Vertretung in unserem Dorf. Bei meiner Predigt über den guten Hirten bin ich deinen Vorschlägen gefolgt. Ich bin damit gar nicht gut angekommen. Seit ich diese Predigt gehalten habe, hat mich der Ortspfarrer nie mehr um Vertretung gebeten.“ Mag das Zufall gewesen sein, feststeht: Der gute Hirte leitet Pfarrer und Pfarrerinnen an, auf die Gemeinde zu hören. Auch wenn sie nicht Theologie studiert haben, erkennen die Gemeindeglieder doch die Stimme des guten Hirten und können sie von anderen Stimmen unterscheiden.
Woran liegt es, dass manche Pfarrer und Pfarrerinnen nicht auf ihre Gemeinde vertrauen, dass sie nicht recht glauben, dass die Gemeinde die Stimme des guten Hirten erkennt? Ich vermute: Sie haben nicht genug Selbstvertrauen. Es gehört Selbstvertrauen dazu, sich beraten zu lassen von der Gemeinde. Der Preis für mangelndes Vertrauen ist Einsamkeit. Der gute Hirte aber leitet uns an zu vertrauen, auf uns selbst und auf die Gemeinde.
Kapitel 3
Wir waren etwa im Jahr 2005. Damals war ich Dekan in Nürnberg. Am Sonntag Misericordias Domini hatte ich einige Pfarrer in ihre neuen Ämter einzuführen. Ich predigte wieder vom guten Hirten und sagte etwa: Wir sind zum Hirtendienst berufen, aber bevor wir Hirten sind, sind wir Schafe, die gehütet werden von ihrem Herrn. Bevor wir Seelsorge üben, brauchen wir einen Seelsorger oder eine Seelsorgerin für uns. Nach dieser Predigt gab es deutlichen Ärger. „Ich bin doch kein Schaf“, rief einer erregt. „Mir muss niemand nachgehen. Mich muss keiner suchen.“ Ich glaube, es geht bei dieser Sache um unser Ego. Dass ich zum Hirten berufen werde, dass tut meinem Ich wohl. Das Hirtenamt verleiht mir Macht. Ein französischer Gelehrter (Michel Foucault) hat dafür den Ausdruck „Pastoralmacht“ geprägt. Solche Macht haben nicht nur Pfarrerinnen und Priester, auch Ärztinnen und Psychotherapeuten haben sie. Pastoralmacht kann missbraucht werden.
Ich glaube, die Missbrauchsgeschichten, die unsere Kirchen erschüttern, kommen zum großen Teil daher, dass Pastoralmacht einsam ausgeübt wird, dass Pfarrer meinen, sie könnten es niemand sagen, wenn sie überfordert sind, dass Pfarrerinnen sich nicht beraten lassen, dass sie niemand haben, der nach ihrer Seele fragt. So werden sie schlechte, im schlimmsten Fall miserable Hirten. Beim Abschied von Papst Franziskus wurde deutlich, dass viele in ihm einen guten Hirten erkannten. Er hatte Macht. Vielleicht hat auch er seine Macht manchmal missbraucht. Aber in Erinnerung bleibt seine Bescheidenheit.
Wenn ich nun zurückschaue auf meine Geschichte mit dem guten Hirten, dann denke ich: Es geht dabei dreimal um Einsamkeit und auch um Macht: Es geht um die Einsamkeit in der technisierten Gesellschaft, um die Einsamkeit der Prediger und Predigerinnen, um die Einsamkeit derer, die Pastoralmacht haben. Einsamkeit ist oft verbunden mit dem Gefühl „Ich brauche niemand“. Der schreckliche Spruch fällt mir ein: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Mag er von Schillers Wilhelm Tell stammen, falsch ist er trotzdem.
Gott sei Dank, dass es den einen guten Hirten gibt, der uns herausruft aus unserer Einsamkeit. Auch Jesus Christus hat Macht. „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, sagt er (Matthäus 28,18.) Doch seine Macht ist für immer vor dem Missbrauch geschützt, weil er sich hingegeben hat bis in den Tod. Seine Macht besteht in seiner Hingabe. Sie besteht darin, dass er zugleich Hirte ist und Lamm. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“
Ihr habt eure Geschichten vom guten Hirten. Irgendwann werdet ihr sie erzählen. Heute lasst euch rufen, aufs Neue rufen, in die Herde des guten Hirten, meine Schwestern und Brüder. Auch ich will mich rufen lassen und aller selbstgewählten Einsamkeit entsagen. Der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.