Wir begehen in diesem Jahr den Israelsonntag in einer besonderen und elenden Situation. Aufgetragen ist uns, auf biblischen Spuren den engen und nahen Beziehungen von uns Christinnen und Christen gegenüber dem Judentum, gegenüber Israel als Religion, als Volk, als Gemeinschaft nachzugehen. Und da ist der Krieg im Gazastreifen. Krieg des Staates Israel. Nicht mit einem anderen Staat. Sondern mit einer Miliz, einer bewaffneten Organisation, die starken Einfluss hat, wohl auch Rückhalt in der Bevölkerung des Gazastreifens. Wie stark genau, dazu fehlen mir persönlich jedenfalls die Informationen. Der Krieg hat eine lange Vorgeschichte, von der wir nur wenig mitbekommen haben: den jahrelangen Beschuss israelischen Gebietes. Wir haben davon nur wenig mitbekommen, weil es zum Glück nur wenige Opfer zu beklagen gab. Der Raketenbeschuss hat viele Menschen in Israel politisch nicht aufgeschlossener gemacht, nicht bereiter für ein Gespräch mit der palästinensischen Führung, gar mit radikalen Leuten der Hamas.
Sie verlangen von ihrer Regierung Taten. Und es gibt genügend, die sich dem nur zu gern stellen. Taten, vor allem militärische, sprechen zu lassen. Die Hamas hat für ihre Kriegsführung ein großes Tunnelsystem angelegt. Schutzräume für die Bevölkerung im Fall eines Krieges scheint sie nicht vorgesehen zu haben. Jetzt ist die Situation über mehrfache Morde von Jugendlichen eskaliert. Und hunderte von Menschen sind umgekommen. Die meisten auf palästinensischer Seite.
In Israel sind die Diskussionen zur Situation so heftig, dass Einzelne aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Meinung sogar Polizeischutz erhalten müssen. Freundschaften zerbrechen. Familienmitglieder sind zutiefst entzweit. Alles über die Frage: wie kann es weitergehen. Was bringt eine Lösung. Über Diskussionen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung ist nur wenig zu erfahren. Machen wir uns nichts vor: wer unter den europäischen Korrespondenten kann schon hebräisch. Und wer arabisch? Wer vermag unabgesprochen Informationen einholen? Wer kann die Zwischentöne hören? Im Glauben sind wir eins mit all den Christen im Nahen Osten. Mit den Flüchtlingen aus Syrien, im Irak, in der Türkei, mit den Christen im Westjordanland, in Israel, den ganz wenigen Chrisen im Gazastreifen. Und zugleich unterscheidet sich unsere Lebenssituation so eklatant.
Im Glauben tief verbunden sind wir mit den jüdischen Menschen, hier in unserer Nachbarschaft, in den Nachbarländern, in der ganzen Welt und eben auch im Staat Israel. Unser Glaube verweist uns auch an diejenigen jüdischen Menschen, deren politische Einstellung wir nicht teilen, denen wir am liebsten ins Wort oder in den Arm fallen würden angesichts ihrer Entscheidungen. Hören wir auf den Predigtabschnitt zum Israelsonntag. Er hat viele Zwischentöne. Und er ist so unendlich wichtig. Grundlegend. Wir sehen dabei ein Christentum, das noch in den Kinderschuhen steckt, es sind die ersten Jahrzehnte nach Ostern. Es leben noch viele von denen, die Jesus persönlich gekannt haben. Wir sehen den großen biblischen Denker Saul aus Tharsus, genannt Paulus, bei seiner Arbeit als Theologe, Missionar, Prediger; voller Hoffnung und voller Gewissheit, mit viel Bedacht und mit großer Begeisterung, voll Schmerz und voll Eifer. Würden wir ihn übersehen, seine Worte überhören, würden wir die Grundlage unserer Kirche, unseres Glaubens verlassen. Hören wir also auf seine Worte.
(Predigerin beginnt Römer 11, 25-32 zu lesen, aber auf griechisch)
Stimmt, das war der griechische Bibeltext. Altgriechisch in deutscher Aussprache. Immerhin so wie Paulus geschrieben hat. Die erste Schwierigkeit, an Paulus heranzukommen. Nicht nur dass seine Geburt bald 2000 Jahren zurückliegt, nicht nur, dass er in einer anderen Welt lebt, mit anderen Bildern, anderen Gewohnheiten, anderen Regeln. Er schreibt auch noch in einer fremden Sprache. Zwischentöne, komplizierte Sachverhalte, Anspielungen versteckte Verweise, Wortspiele – wie sollen wir das heraushören? Wir müssen es in einer Übersetzung versuchen. Mit einer Übersetzung ins Deutsche, aus “Bibel in gerechter Sprache, Paulus schreibt:
Ich möchte, dass ihr die verborgene Wirklichkeit kennt, Geschwister, damit ihr die Dinge nicht nur nach euren Maßstäben beurteilt: Über einen Teil Israels erging eine Verhärtung. Sie wird so lange anhalten, bis die (Welt-)Völker vollzählig hinzugekommen sind. Auf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden, wie es aufgeschrieben ist: Aus Zion wird die Rettung kommen, sie wird Jakobs Trennung von Gott aufheben. Und dieses ist mein Bund mit ihnen, wenn ich das von ihnen begangene Unrecht wegnehme. Im Blick auf die Freudenbotschaft sind sie feindlich gesinnt – um euretwillen? Im Blick auf die Auserwählung sind sie Geliebte, auf Grund ihrer Mütter und Väter. Denn Gott bereut es nicht, in freier Zuwendung Geschenke gemacht und Menschen gerufen zu haben. Das gilt unwiderruflich.
Einst habt ihr nicht auf Gott gehört, jetzt! aber habt ihr Barmherzigkeit erfahren, weil sie sich weigerten, auf Gott zu hören. Jetzt! sind sie es, die nicht auf Gott hören, weil euch Barmherzigkeit geschenkt wurde. Dies geschieht, damit auch sie Barmherzigkeit erfahren. Gott hat alle in ihrem Starrsinn eingeschlossen, um allen Barmherzigkeit zu schenken. –
Und? Was will Paulus uns sagen? Was hat er der Gemeinde in Rom gesagt, sozusagen seiner Paulusgemeinde? Wie bei einem wertvollen Gemälde das Auge auf das Wichtigste in der Mitte gelenkt wird, so können wir bei dem Ausschnitt das Wichtigste in der Mitte hören. Gott bereut nicht, was er gegeben hat. Paulus kennt Gott als einen, der sagt: geschenkt ist geschenkt. Ich nehme nichts zurück. Auf mein Wort ist Verlass. Und auf meine Geschenke auch. Was ich gestern versprochen habe, gilt heute auch. Geschenkt ist geschenkt. Was ich gestern gegeben habe, gehört dir morgen auch noch. Nicht nur morgen, sondern dein ganzes Leben lang, ja, für immer und ewig. Eigentlich ist das doch banal, könnte man denken. Wir alle aber kennen Situationen: da zieht jemand sein Wohlwollen zurück. Da wird der Arbeitsvertrag nicht verlängert. Da gibt es die Baufirma, mit der man angefangen hat, sein Haus zu errichten, plötzlich nicht mehr. Die Zusagen sind in den Wind gesprochen. Wohltaten ins Gegenteil verkehrt. Paulus aber hält fest: Gott bereut nicht, Geschenke gemacht und Menschen gerufen zu haben. Ein einfacher Satz, aber mit großen Konsequenzen. Wer sich auf diesen Gott einlässt, darf mit Verlässlichkeit rechnen. Wer sich auf diesen Gott einlässt, kann auf seine Treue zählen. Wer sich auf diesen Gott einlässt, sieht zugleich aber auch auf die Treue, die er anderen gegenüber hält. Dass er Verbindung nicht aufgibt. Einmal gewährte Bundesschlüsse nicht hinterfragt selbst unter schweren Bedingungen. Wer sich auf diesen Gott einlässt, sieht also auf die frühere und gleichzeitige Treue. Die Treue gegenüber dem Volk, das er sich gerufen hat. Dem er sich zeigte, sich öffnete, sich offenbarte. Wer sich auf diesen Gott einlässt, sieht auf Israel. Auch das eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Paulus schreibt über das scheinbar selbstverständliche, weil er ahnt, vielleicht auch schon erlebt, dass Menschen darauf unterschiedlich reagieren. Die einen sagen vielleicht: Ja, wenn ich das sehe und erlebe, Gott nimmt seine Zusagen, seine Geschenke nicht zurück, Gott bleibt seinem Volk treu, Gott hält an den Bundesschlüssen fest, dann weiß ich, dass ich mich auf diesen Gott verlassen kann. Dann kann ich dem glauben. Dann weiß ich: in den lässt sich Vertrauen setzen. Es ist das Beste, was mir passieren kann. Und andere sagen: Jetzt bin aber ich dran. Jetzt möchte ich mal im Mittelpunkt stehen. Ich habe auch ein Geschenk erhalten. Das stellt alle anderen Geschenke in den Schatten. Ja, die früheren Geschenke, gibt es eigentlich gar nicht mehr. Wer so denkt, spürt dann auch nicht mehr den logischen Fehler, die logische Gefahr, die man sich damit einhandelt. Wenn mein Geschenk alle anderen in den Schatten, sogar infrage stellt, – was passiert, wenn Gott dann morgen jemand anderem ein Geschenk macht? Wenn Gott morgen jemanden ruft? Stehe ich dann auch im Schatten? Bin ich dann auch infrage gestellt. Das kann es ja wohl nicht sein, beharrt Paulus. Gott bereut es nicht, Geschenke gemacht und Menschen berufen zu haben. Zumal solch eine Berufung – oder, wie es an anderer Stelle heißt, Erwählung – durchaus ihre Tücken hat. Biblisch ist Erwählung, ist Berufung stets eine Berufung zum Dienst. Ist eine Erwählung zu den Geboten, Aufruf, sich an Gott zu halten. Wahrlich – das zeigt sich von biblischen Zeiten bis heute – für Israel keineswegs immer ein Zuckerschlecken.
Und Gott bereut seine Gaben nicht. Das ist die Mitte unseres Paulusschreibens. Gott tut das nicht. Und Menschen? Was ist, wenn die sich anders verhalten, als ich es mir denke, als ich es mir wünsche, als ich mir vorstelle?
Paulus der Jude, ist dem auferstandenen Jesus begegnet. Hat ihn als den Christus, den Gesalbten Gottes, den Messias bekannt. Und er erlebt: die meisten anderen Juden tun das nicht. Paulus hat sich das offenbar anders vorgestellt. Und sagt sich daraufhin: Dann muss das einen guten Sinn haben. Ein Teil aus Israel, ein Teil der Juden, sind ganz fest geworden. Klare Absage. Jesus, der Christus, Jesus, der Messias, das nicht. Es gibt dafür ja auch eine Menge guter Gründe. Sieht die Welt nach Messias aus? Sehen die Zeiten nach messianischen Zeiten aus? Sehen die Zeiten aus nach Frieden, nach Glaube, nach Vertrauen? Nein. Die Zeiten sind schlecht und schlimm geht es zu. Keine messianische Zeit. Die jüdische Folgerung: Dann auch kein Messias.- All das muss erst mal entkräftet sein. Was haben Christen dazu beigetragen, messianische Zeit spürbar werden zu lassen? Wo haben Christinnen und Christen messianische Zeit eher widerlegt? Es ist noch viel offen, um die Gegenwart des Messias plausibel zu machen. Mit solch einer klaren Absage an den Christus, sagt Paulus, sehe ich eine neue, eine andere, eine ganz große Chance gekommen. Für euch, euch aus den Völkern der Welt. Ein Teil von Israel – in Bezug auf die Botschaft: feindlich. Aber euch, den Völkern der Welt zugute. Kein Abstrich dabei von der Liebe Gottes. Was er den Müttern und Vätern zugesagt hat, Abraham, Sara, Isaak, Jakob, ihren Frauen und Kindern – das gilt. Geliebte bleiben sie. Ganz Israel. Immer und ewig. Gut für die Völker, das zu wissen. Gut für die Völker, auch in Christus auf die Treue Gottes setzen zu können. Gegen Widerstand setzt Gott seine Freundlichkeit. Gegen das Weghören auf Menschenseite setzt Gott seine Barmherzigkeit. Gegen Trennung setzt Gott auf seinen Bund. Eigentlich, sagt Paulus, eigentlich könnte ihr Völker der Welt einfach nur glücklich sein. Dass es Israel gibt und Israels Erfahrung mit Gott. Da seht ihr: genau dieselbe könnt Ihr auch machen. Und als er soweit gedacht hat, da bricht Paulus aus Begeisterung über Gott in einen der schönsten Lobgesänge der Bibel aus. Aus Begeisterung für das, was allen offensteht, was allen geschenkt ist:
Welch unermesslicher Reichtum Gottes,
welch tiefe Weisheit und unerschöpfliche Erkenntnis!
Unerforschlich sind die göttlichen Entscheidungen,
unergründlich die göttlichen Wege.
Denn wer hat je die Gedanken Gottes erfasst,
wer hat Gott je einen Rat gegeben?
Wer hat Gott jemals etwas gegeben, das zurückerstattet werden müsste? Alles hat seinen Ursprung in Gott, alles existiert durch Gott und auf Gott hin.
Ehre sei Gott durch Zeiten und Welten. Amen.
Ehre sei Gott durch Zeiten und Welten: für Treue. Für Gaben. Für Erwählung. Für’s Wort. Für Berufung und Trost. Ehre sei Gott, auf den Verlass ist gegen allen Starrsinn und alle Festigkeit hier und dort. Ehre sei Gott, der sich nicht auf die harte und nicht auf die weiche Tour davon macht, sondern bleibt und gibt. So hat es Israel erfahren. So kann es Christinnen und Christen nur wichtig bleiben. Heute am Israelsonntag und alle Tage unseres Glaubens. Ehre sei Gott durch Zeiten und Welten. Amen.