Es ist still geworden auf den Straßen. Die Betriebsamkeit des Alltags ist einer Ruhe gewichen, die beruhigend wirkt, zur Besinnung kommen lässt, still werden lässt. Die Dunkelheit der anbrechenden Nacht bringt an diesem Abend, der anders ist als alle anderen, keine Müdigkeit mit sich. Im Gegenteil: Jetzt, wo nichts mehr antreibt, wo nichts mehr ablenkt, nichts mehr herausfordert und nichts mehr zerstreut, erwacht das Herz, das Innerste der Seele – und hörbar wird die Sehnsucht, die über den Alltag der Welt, des eigenen Lebens, hinaus reicht. Die Sehnsucht, die sich nicht abfinden lassen will mit der Faktizität des Faktischen und dem Sieg der Macht über die Ohnmächtigen. Gibt es Hoffnung für unsere geschundene Welt und die Menschen, deren Leben Risse hat oder zerbrochen ist? Die auch in dieser Nacht weinen und klagen? Die auch in dieser Stunde Angst haben oder auf der Flucht sind? Sind wir, ist unsere Welt verloren? Untergegangen im Kampf um Macht? Gescheitert im Ringen um eine gerechte Welt, ein heiles Leben? Fragen wie diese sind es, die die Sehnsucht in dieser Nacht zu einer vagen Hoffnung werden lassen, einer Hoffnung, die sich nicht abfinden will und die nicht aufgeben möchte, sondern in Bewegung bringt. Zaghaft und behutsam wagt er sich in die Dunkelheit, setzt er Schritt für Schritt in die Stille der Nacht, die so anders ist als alle andern Nächte.
Intonation “Stille Nacht” (EG 46)
Er ist angekommen. Die Stille der Nacht wird für ihn zur Heiligen Nacht, in der die tiefen Fragen seiner Sehnsucht sich in eine Hoffnung verwandeln, die Hand und Fuß hat: „Christ, der Retter ist da!“ So erfährt er es, so erlebt er es: Nikodemus, der Pharisäer, der gelehrte Mann aus dem Volk der Juden. In der Stille und im Dunkel der Nacht hat er sich auf den Weg gemacht, sein Heil und das Heil der Welt zu suchen und zu finden. Sein Suchen ist nicht vergeblich. Seine Fragen werden gehört und finden Antworten, die seinen Verstand erreichen und mehr noch: sein Herz berühren und erfüllen. Denn heilig ist die Nacht nicht nur wegen der tiefen Fragen. Das Dunkel und die Stille der Nacht ist auch die Zeit der großen Wendepunkte, der Lebenswenden. Nicht nur für Nikodemus. Das nächtliche Gespräch mit Christus, dem Retter, lässt ihn, lässt uns hören und darauf vertrauen: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Die stille Nacht wird in der Begegnung mit Christus zur Heiligen Nacht, weil er selbst dafür steht und einsteht: Nichts und niemand ist verloren. Die Welt und ein jeder Mensch sollen gerettet werden. Welch frohe Botschaft! Welch befreiende Zusage! Ja, er ist angekommen – bei Christus, dem Retter, bei Jesus, dem Kind in der Krippe.
Intonation “Ich steh an deiner Krippen hier” (EG 37)
Angekommen: ich steh an deiner Krippen hier. Mein Leben nimmt eine Wende – zum Guten, zum Heil. Das spürt nicht allein Nikodemus. Das spüren all die, die in sich stiller Nacht auf den Weg gemacht haben, den Retter zu suchen, das Kind in der Krippe zu finden, Christus zu begegnen. Angekommen sind Maria und Josef – nun als Eltern eines Kindes, das die Welt verändern wird: als Menschenkind wird er für sie oftmals zum Sorgenkind werden, weil er anstößig ist in seinem Reden und Tun. Als Gotteskind ist es aber gerade seine Nähe und Zugewandtheit zu den Ausgestoßenen, zu den Armen und Ausgegrenzten, den Einsamen und Leidenden, den Unbeliebten und Ungeliebten, die glaubhaft und erfahrbar werden lässt: also hat Gott die Welt geliebt.
Angekommen sind die Hirten, mitten heraus aus einem Alltag, der sie mit ganzer Kraft fordert bei Tag und bei Nacht, der ihnen wenig Zeit lässt zur Besinnung und für Besinnlichkeit. Und sie, die sonst nur wenig Anerkennung erfahren, geschweige denn Wertschätzung erleben – sie dürfen ruhig werden an der Krippe, sich gemeint fühlen – und geliebt. Und ankommen werden auch sie: die eiligen, die heiligen 3 Könige, die – jenseits aller Regierungspaläste und Krisengespräche – im Stall von Bethlehem den wahren König entdecken, der Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen verheißt: also hat Gott die Welt geliebt. Und angekommen sind wir, hier und heute – in der Hoffnung, dass die stille Nacht auch für uns zur Heiligen Nacht wird, zur Nacht, in der sich unser Leben und das Leben der Welt zum Guten wendet und heil wird.
Alle Jahre wieder brauchen wir diese Gewissheit, dass es Antworten gibt auf unsere offenen Fragen, ob und wie es weiter gehen kann, sei es im privaten Leben oder im schulischen Alltag, sei es im beruflichen Umfeld oder so manch spannungsvollen Streit. Alle Jahre wieder brauchen wir die Beruhigung, dass wir gehalten sind in den Stürmen des Lebens, in den Ängsten der Welt, die uns in jeder Nachrichtensendung so bedrückend nahe kommen. Alle Jahre wieder brauchen wir den Anblick des Gottessohnes, der uns ganz persönlich meint und sagt und sicher sein lässt: Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn „Jesus ist geboren, in Bethlehem und überall. Den Freund der Menschen seht ihr: in einem armen Stall. Das Kind wird euer Bruder sein, wird euer Leben teilen. Das Kind wird euer Frieden sein und allen Schaden heilen … Jesus ist geboren: in Bethlehem und überall. Das Wunder, das uns menschlich macht, beginnt im armen Stall.“ (F. K. Barth/P. Horst, Gottesdienst menschlich, Wuppertal 1990, 162)
Intonation EG 56, 1 “Weil Gott in tiefster Nacht erschienen” (EG 56)
Der stillen Nacht, auch der Heiligen Nacht, wird ein neuer Morgen folgen. Ein neuer Tag wird anbrechen, das Leben wird weiter gehen – aber anders, verwandelt, beruhigt und gestärkt. Nicht allein denen, die sich an der Krippe zusammen gefunden haben, nicht allein Nikodemus, Maria und Josef, den Hirten, den Königen und uns gilt die Liebe Gottes, sondern wie es Jesus den fragenden Gelehrten wissen lässt: Gottes Liebe gilt der ganzen Welt und allen Menschen. Sie alle sollen gerettet werden, Gottes Liebe erfahren und darauf vertrauen. Und so sollen unsere Lieder auch nicht allein heute in der Kirche erklingen, sondern auch auf unseren Straßen und in unseren Häusern, unter den Menschen, die uns nahe stehen genauso wie hin zu denen, die uns fern sind. Bis in den entferntesten Winkel unserer Erde, bis in die dunkelste Ecke unserer Welt soll es hörbar, spürbar – mit allen Sinnen erfahrbar und erlebbar – sein, dass in Christus, dem Retter, die stille Nacht zur Heiligen Nacht wird. Weil Gott uns und unsere Welt nicht aufgibt, sondern so sehr liebt, dass er sie und jeden Menschen retten will. Das kann uns froh machen, das können wir überall und allen mit-teilen und leben, das können wir weiter sagen und singen. Und wo unsere Stimmen allein nicht ausreichen mit dem Chor der Engel gemeinsam:
Lied “Hört der Engel helle Lieder” (EG 54).