„Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis.“ Dieser Weisheitsspruch aus dem Alten Testament stand über dem Eingang einer Schule in einem Dorf bei Rochlitz. In der frühen DDR wurde der Spruch weggeschlagen und ein Plakat über die Abbruchstelle gehängt. So sah der Klassenkampf aus, der die DDR-Pädagogik prägte. Er meinte, die Weisheitserkenntnisse vergangener Hochkulturen bekämpfen zu müssen. Dabei haben sich die Weisheitslehren aus der genauen Beobachtung des Lebens und der gemachten Erfahrungen gebildet.
Der Verfasser unseres Predigtabschnittes hat ein realistisches Menschenbild. Illusionslos stellt er seine Beobachtungen dar und mahnt, lebensfördernde Konsequenzen daraus zu ziehen. Wunschbilddenken und Parolen helfen nicht weiter. Wer kann ernsthaft widersprechen, wenn jemand davon spricht, was er „gesehen“ hat in seinem Leben? Und wenn er sagt: „Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meines nichtigen Lebens: Da ist ein Gerechter, der zugrunde geht in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit“, dann hören das Fanatiker nicht gern, besonders die Sorte von Eiferern nicht, die meinen, sie streiten für eine gute Sache.
Da hat auch die Christentumsgeschichte einiges zu bieten. Allen voran Saulus, der nach seiner Bekehrung zum Paulus wurde, aber im Grundzug seines Wesens ein Eiferer blieb. Mir war immer die Novelle „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist (1777-1811), die auf einer wahren Begebenheit beruht, eine Geschichte mit Widerhaken. Aber Kleist als Jurist (!) wusste, was er schrieb. So wahr der Satz ist: Recht muss doch Recht bleiben, so wahr ist auch, dass man für das Recht nicht morden und brandschatzen darf. Im Grunde stimmte Kleist mit der Bibelweisheit überein: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzuweise, damit du dich nicht zugrunde richtest“.
Kohlhaas wurde 1575 hingerichtet. Fridays für Future, Letzte Generation, Klimakleber…alles Bewegungen junger Leute, die hehre Ziele zur Rettung der Welt haben. Auch ihnen kann man sagen: „Seid nicht allzu gerecht….“ Denn dass ein früher Tod oft die Konsequenz eines fanatisch gelebten Lebens ist, ist auch eine Erfahrung.
Diese Ermahnung, nicht allzu gerecht und allzu weise zu sein, wird vielleicht gehört, als Ratschlag eines müde gewordenen alten Menschen, aber wie kommt die andere Aufforderung an: „Sei nicht allzu gottlos…?“ Ist das nicht im heutigen Deutschland eher überholt? Dass „Gottlosigkeit“ die Ursache der gesellschaftlichen Probleme ist, habe ich noch nirgends gelesen, in keinem noch so klugen Kommentar oder Feuilleton.
Dass „Demokratie Religion“ brauche, das schon, aber Gottlosigkeit als Ursache gesellschaftlicher Verwerfungen? Da ist ja die politische Führung nicht ausgenommen. Da wird es persönlich. Es scheint überholt zu sein, vor irgendetwas Ehrfurcht zu haben, und Gott eingeschlossen. Ich habe Angst vor Menschen, die sich keiner übergeordneten Instanz verpflichtet fühlen und alles tun, ihre Macht ewig zu behalten. Sie sind Toren, die ihren wahren Stand als sterbliche Wesen verkennen und im schlimmsten Fall noch viel Elend verursachen, ehe sie verschwinden.
Aus dem Weisheitsbuch des Prediger Salomo spricht „heitere Resignation“, die das Leben und die Menschen so nimmt, wie sie sind, nicht nur gut und nicht nur böse. Wenn diese Erkenntnis zu Gottes-Ehr-Furcht führt, dann haben wir einen bergenden Himmel um uns, der uns befähigt zu einem mitmenschlichen Leben. In Monarchien wurden Prinzen besonders sorgfältig erzogen, auf ihr späteres Regierungsamt vorbereitet. Auch Weisheit gehörte zum Lehrstoff. Und Politiker und Politikerinnen heute?