Ein Wüterich tritt auf
Oh oh, das hört sich nicht gut an! Da schnaubt ein Mensch – aber das ist jetzt mehr, als sich die Nase zu putzen. Schnauben ist Wüten. Schnauben ist, sich zu vergessen. Schnauben ist, kein Maß mehr zu haben. Die Nase vorne weg. Immerhin: der Typ, von dem das erzählt wird, ist ein klar denkender jüdischer Gelehrter, beschlagen in den Heiligen Schriften, vertraut mit den Überlieferungen der Väter und Mütter. Ein richtiger Gelehrter. Die Bücher, die er studiert hat – nicht zu zählen. Hoch geachtet ist er auch. Sprich: er ist nicht irgendeiner.
Was da wohl vorgefallen ist? Der Psychologe in mir sucht Gründe, braucht Erklärungen, will verstehen. Da schnaubt ein Mensch und schlägt wild um sich. So wild, dass er sich die Erlaubnis einholt, die Anhänger Jesu „gefesselt nach Jerusalem“ zu führen. Muss das sein? Wer sich so ereifert, versteckt doch etwas. Ist er so schwach, dass er zuschlagen muss? Was haben ihm denn die Menschen getan, die sich Christen nennen?
Lukas, der die Geschichte erzählt und mit ihr ein neues Kapitel in der Kirchengeschichte aufschlägt, zeigt uns die ganze Wut, die am Anfang war. Wut über die Jünger Jesu, Wut über die „Anhänger dieses Weges“. Ein schönes Wort: „Anhänger dieses Weges“. Weniger schön das vernichtende Urteil eines kundigen Menschen, der nichts mehr versteht. Diesen Weg schon mal gar nicht. Der mit seinem Latein am Ende ist. Dass er zum Hohenpriester geht, gleicht einer Flucht. Nicht nach vorne – nach hinten! Diese Menschen darf es nicht geben. Sie glauben falsch, sie leben falsch – alles an ihnen ist falsch. Ob aber Fesseln wirklich Gedanken, ob Fesseln das Evangelium hindern können? Versucht wurde es von vielen – gelungen ist es noch nie.
Aber vielleicht muss man die Wut erst einmal aushalten, um Klarheit zu finden? Womöglich auch „diesen Weg“ wahrzunehmen? Ich lobe mir diese Wut: Sie hat reinigende Wirkung. Sie gleicht einem Gewitter. Sie lässt das Alte aber auch alt aussehen. Was sind das denn für Menschen, die gefesselt werden sollen? Was ist mit „diesem Weg“, der so heftig attackiert wird, dass er in Jerusalem an ein Ende kommen muss?
Ein Konflikt wird sichtbar
Halten wir einmal ein. Der jüdische Gelehrte heißt Saulus. Von Tarsus. In seine Welt passen die Christen – Jünger Jesu – nicht. Obwohl: sie sind Juden. Auch Juden. Ein Konflikt bahnt sich an. Können Juden Christen sein – Christen Juden? Wer sind „richtige“ Juden? Saulus weiß sich nicht anders zu helfen, als die „anderen“ als Abtrünnige zu sehen, die so oder so zurückgeholt werden müssen. Notfalls mit Gewalt. Mit dem Segen des Hohenpriesters sowieso. Doch damit ist nicht einmal die halbe Wahrheit erzählt.
Ist Jesus nicht Jude gewesen? Ein richtiger Jude? Hat er nicht die Schrift ausgelegt? War er nicht Rabbi? Wie Saulus? Und doch sind Jesu Anhänger „Anhänger dieses Weges“ – Anhänger des Weges Jesu. Was Saulus noch nicht weiß: Er wird den Weg Jesu nicht nur zu seinem machen, sondern ihn fortführen. Als jüdischer Gelehrter wird er das Evangelium auslegen. Er wird Gemeinden gründen. Seine Briefe werden Weltliteratur. Wer ein Neues Testament aufschlägt, wird Paulus dort ständig finden. Und seine Schüler auch. Kleinode wie den Römerbrief, die Briefe an die Korinther, an die Galater – ich mag sie jetzt gar nicht alle aufzählen. Briefe, die die Welt veränderten. Bis heute! Paulus? War nicht gerade von Saulus die Rede? Gewiss! Saulus. Aber aus Saulus wird – Paulus. Wie es dazu kommt, erzählt Lukas auch.
Ein Sturz mit Folgen
Was meinen Sie? Wie kann man mit einem Wüterich umgehen? Kann man sich ihm in den Weg stellen? Ihn wenigstens zur Rede stellen? Ihn mit Argumenten erreichen? Lukas weiß es besser: Saulus muss einhalten. Zur Ruhe kommen. Einen neuen Anfang finden.
In der Geschichte wird Saulus angesprochen: Was machst du da? Warum verfolgst du mich? Du – mich? Die Nähe ist größer als gedacht. Saulus sieht auf einmal keinen Weg mehr. Wie von Blindheit geschlagen, völlig überrascht, unvorbereitet. Ist Jesus vielleicht schon in seinem Herzen? Auch wenn Lukas die Begleitumstände fein detailliert erzählt – die Begleiter sind „sprachlos“. Sie werden nichts erzählen können. Eigentlich haben sie auch nichts gesehen. Sie werden aber sehen, was ab jetzt anders werden wird. Das wird der Stoff vieler neuer Geschichten. Jetzt ist erst einmal Ruhe. Vor dem Wüterich. Aber auch im Wüterich.
Dieser Sturz verändert alles
So mancher Mensch hat schon, im Rückblick, davon erzählt, wie plötzlich und unerwartet etwas anders werden kann. Es ist wie eine Offenbarung. Wie ein Licht über einer Sackgasse. Eine Entlassung, erst ganz furchtbar, entpuppt sich als geniale Chance, noch einmal neu – und richtig – anzufangen. Eine Scheidung, die sämtliche Lebensplanungen über den Haufen wirft, eröffnet ein neues Glück. Eine Krankheit, die alles verändert, wird Anlass, das Leben neu zu entdecken. So viele Stürze haben Träume begraben – und Himmel geöffnet. Ob es womöglich Stürze geben muss, um neue Wege sichtbar werden zu lassen? Von unten werden die Dinge kleiner, näher – von oben betrachtet, verschwinden sie. Trotzdem traue ich mich nicht, dem Sturz ein Loblied zu singen. Ein Sturz tut weh. Aufstehen schmerzt. Das Gesicht verzieht sich.
Glück mit einem Menschen
Saulus kannte keinen Sturz. Bisher kannte er nur den geraden Weg. Einbrüche, Krisen, Unterbrechungen waren nicht vorgesehen. Jetzt ist er gezeichnet. Er wird uns als Blinder vorgestellt. Der Gelehrte – blind. Der Mensch – blind. Eine Erfahrung, die prägt. So manche Formulierung aus seiner Feder spiegelt diese Erfahrung – und ist doch eine Anrede:
„Lass dir an meiner Gnade genügen“ – „meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ – „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“. Eine Fundgrube für Menschen, die angefochten und verunsichert sind. Paulus wird Seelsorger. Seelsorger vieler Gemeinden. So manche Krise durchlebt er, so manche Krise entwirrt er. Von Gottes Liebe kann uns nichts scheiden. Das sagt er, das hält ihn. Von kleiner Gestalt, ohne große Stimme macht er nicht viel her. Die Klugen, Neunmalklugen, Immerklugen, sprechen ihm so ziemlich alles ab – von der Weisheit angefangen bis zur Autorität.
Spannend ist, was alles im Hintergrund läuft. Wir gehören zu den Glücklichen, die hinter die Kulissen geführt werden. Das muss einmal erwähnt werden! Wir treffen jetzt auf einen Menschen, der den Namen Hananias trägt. Viel wissen wir nicht von ihm. Was wir aber wissen, reicht vollkommen aus, von einer glücklichen Fügung zu sprechen. Hat sich Jesus Saulus in den Weg gestellt, schickt er Hananias doch tatsächlich zu ihm. Der Auftrag ist eng umrissen und doch weit gefasst. Obwohl der üble Ruf des Saulus auch bei Hananias angekommen ist, wird eine neue Seite aufgeschlagen:
„Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen“.
Es ist frappierend: Was Hananias weiß, weiß Saulus noch lange nicht. Spannend zu sehen, wie Fäden verknüpft werden, die lose in der Gegend herumliegen. Saulus, der Wüterich, ist ausgewählt, ein Apostel Jesu zu werden – immerhin: vor Heiden, vor Könige, vor – allen – Völkern. Vor Israel auch! Eine besondere Schulung wird ihm nicht zuteil. Eigentlich reicht der – Sturz. Was Saulus als jüdischer Gelehrter weiß, führt ihn dazu, Jesus zu verkündigen, seinen Namen zu bezeugen und für ihn zu leiden. Noch ahnt Saulus nichts. Er hockt da blind in seiner Ecke.
Hananias ist ein Glücksfall. Ein Mensch, der über seine Schatten springt. Ein Mensch, der hören kann. Ein Mensch, der eben auch Saulus findet. Seine stichhaltigen und verständlichen Bedenken werden ihm genommen.Hananias gehört zur kleinen christlichen Gemeinde in Damaskus. Sie, die unter Verfolgung leidet, wagt es, Saulus aufzunehmen. Den Verfolger. Hananias wird zwar namentlich genannt, aber die Gemeinde, in der er zu Hause ist, umgibt ihn bei jedem Schritt. Alleine ist Hananias nicht. Das Glück, Menschen zu begegnen, macht jetzt aus Saulus: Paulus. Er bekommt ein neues Gesicht, einen neuen Weg. Nein, eine neue Identität gibt es nicht.
Paulus bleibt der Saulus, als der er geboren wurde. Seine Biografie kann er nicht zurücklassen, nicht bezweifeln, nicht beschönigen. Hananias ist für ihn ein Glücksfall. Er scheint alles zu wissen, kann aber alles für sich behalten. Es gibt keine Rückfragen, keine Vorurteile, keine Zweifel. Hananias Namen muss man nennen, wenn von Saulus, wenn von Paulus die Rede ist. Ohne Hananias – kein Paulus.
Im 147. Psalm heißt es: Der Herr baut Jerusalem auf und bringt zusammen die Verstreuten Israels. Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden. Er zählt die Sterne und nennt sie alle mit Namen.
Geh nun hin
Jetzt sehen wir Hananias zu Saulus gehen – in die Straße, die die Gerade heißt. Der dritte Tag bricht an. Saulus sieht nicht, wer kommt. Aber er spürt, wie ihm Hananias die Hände auflegt. Hände auf seinem Kopf. Dann hört er: „Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest.“
Bruder, lieber Bruder
Unbemerkt von der großen Öffentlichkeit, wird Saulus mit der Verkündigung des Evangeliums betraut. Saulus wird zu einem Boten Christi. Er wird mit Heiligen Geist erfüllt. Schauen wir genauer hin: Saulus wird ordiniert. Unter Handauflegung wird ihm eine Vollmacht gegeben, ein Auftrag und ein Segen. Ohne Hananias – kein Paulus
„Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen und nahm Speise zu sich und stärkte sich. Saulus blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus. Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei.“
Eine feine Formulierung, die der Wortkünstler Lukas gefunden hat: Saulus bleibt bei den Jüngern Jesu in Damaskus und predigt in den Synagogen. In den jüdischen Synagogen. Er predigt dort von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei. Es ist eine Predigt über den – Juden Jesus. Wer eine Trennung von christlicher Gemeinde und jüdischer Gemeinde jetzt erwarten würde – Fehlanzeige. Die Nähe von Jesu Jüngerkreis und Synagoge ist so groß, dass wir überrascht werden. Das hat der Wüterich nicht gesehen. Blind wie er war. Übrigens: die Handauflegung kommt aus der jüdischen Überlieferung. Die christliche Gemeinde hat sie übernommen. Lukas erzählt das, als sei es das Selbstverständlichste, das Gewöhnlichste auf der Welt.
Drei Tage
Wann etwas geschieht, ist interessant – wie lange etwas dauert, aber ein Schlüssel. Jedenfalls in dieser Geschichte. Drei Tage, heißt es, sei Saulus in dieser Starre gewesen, habe nichts gegessen und nichts getrunken. Drei Tage – es fällt wie Schuppen von den Augen. Drei Tage sind die Tage zwischen Tod und Leben. Am dritten Tag – ist Jesus von den Toten auferstanden. Es ist kein Zufall. Es ist eine Oster-, eine Auferstehungsgeschichte, in die Saulus hineingeraten ist. Ein Weg ins Leben.
Was Saulus alles so denkt, was er bespricht, was er beschweigt – davon wird nichts erzählt. Aber dass es drei Tage sind, ist auf dem ersten Blick beiläufig hingeschrieben, aber in Wirklichkeit schließt diese Angabe die ganze Geschichte auf. Die Geschichte dieses jüdischen Gelehrten ist eine Ostergeschichte. Die Ähnlichkeit mit der Geschichte Jesu ist nicht zufällig, sie trägt alles. Später wird aSaulus, dann schon eher als Paulus bekannt, der Gemeinde in Korinth schreiben:
„Als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist … Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen“ (1. Kor. 15,3ff.).
Ein Blick nach vorne
Dass aus Saulus Paulus wurde, hat es in die Welt der Sprichwörter geschafft. So mancher Mensch hat erfahren, wie das ist, auf einen neuen Weg geschickt zu werden – oder freut sich darüber, dass ein anderer Mensch zu seinem (und zu unserem) Glück anders werden konnte. Heute feiern wir in unserem Gottesdienst sogar, dass Gott im Hintergrund Strippen zieht: aus dem Wüterich Saulus wird der Apostel Paulus – und aus Hananias der erste Mensch, der in der christlichen Gemeinde in Damaskus eine Ordination vollzieht. Die erste Ordination überhaupt!
Hananias ist in Vergessenheit geraten, Paulus zum Apostel der Völker geworden. Er ist bis heute präsent. Seine Kunst ist: Briefe zu schreiben. Briefe an … die Geliebten Gottes. In … Rom und in Aachen, in Korinth und in Moskau, in Saloniki und in Kiew… Einem Menschen aber möchte ich heute „danke“ sagen: Hananias. Schade, dass ich ihn nicht mehr kennenlernen kann. Mit ihm hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, einen Spaziergang gemacht, eine Talkshow erlebt. An ihn möchte ich mich erinnern, wenn mir Paulus wieder einmal begegnet. Oh, das hört sich richtig gut an! Da schnaubt kein Mensch mehr. Ein Mensch wird sehend. Und von Gottes Geist erfüllt werden viele. Der Wochenspruch passt: So spricht der Herr: “Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.” (Jes. 42,3).
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.