Immer häufiger werden in der letzten Zeit alarmierende Meldungen derart bekannt, dass Autofahrer sich weigern, bei einem Unfall eine Rettungsgasse für die Einsatzfahrzeuge zu bilden; dass körperliche Gewalt auf Schulhöfen und Mobbing am Arbeitsplatz zunehmen; dass Beschimpfungen und Hasstiraden der übelsten Art in den sozialen Medien alltäglich geworden sind und die sog. „Netz-Etikette“ nicht viel zählt bei Facebook, Twitter und co. Wir hören vermehrt von Vorgängen, über die man vom allgemeinmenschlichen Standpunkt her eigentlich nur den Kopf schütteln kann.
Die Frage steht im Raum: Sind das gesellschaftliche Klima und der Umgangston untereinander in den letzten Jahren rauer geworden in unserem Land? Wie gehen wir miteinander um im Alltag? Wie steht es um das zwischenmenschliche Verhalten? Haben sich da vielleicht schleichend Normen, ethische Prinzipien und Standards des Umgangs miteinander verschoben, so dass Menschen ihr grenzwertiges Sozialverhalten – bzw. antisoziales Verhalten – nicht mehr als solches erkennen, sondern quasi für „normal“ halten? Oder sind solche Beobachtungen nur Alarmismus von selbsternannten Moralaposteln und notorischen Gutmenschen (bwz.überempfindlichen, hypermoralischen Christenmenschen)?
Immerhin zeigen solche Meldungen, dass hier nach allgemeinem Empfinden offensichtlich Grenzen des Anstands im üblichen Miteinander verletzt werden, sonst würden sie nicht als erwähnenswert in den Medien vorkommen.Und auch wenn mancher Religions- und Kirchenkritiker hier mal wieder einen willkommenen Anlass findet, eine dezidiert christliche Haltung lächerlich zu machen: Es ist und es bleibt so, dass der soziale Umgang miteinander immer schon ein zentrales Thema der christlichen Ethik war, vom Beginn der christlichen Gemeinde an.
Das zeigt sich z.B. bei einem Blick auf die uns vom Apostel Paulus überlieferten Briefe, die wenigstens zur Hälfte aus Ratschlägen und Mahnungen zum rechten Handeln und zum guten Lebenswandel bestehen. Spezifisch christlich ist freilich, dass für Paulus der gute Umgang miteinander für Christen ein Spiegelbild der Güte ist, die wir alle von Gott her durch Christus unverdient erfahren haben. Anders gesagt: Seine sozialen Mahnungen, die seine Briefe an die frühen christlichen Gemeinden durchziehen, fußen bei Paulus immer auf seiner Theologie, dezidiert seiner Christologie. Gleichwohl enthalten sie viele Überschneidungen mit der zeitgenössischen Philosophie in der heidnischen Mehrheitsgesellschaft der hellenistischen Welt und im damaligen römischen Reich.
Es geht Paulusalso nicht nur um eine christliche Binnenethik für „fromme“ christliche Kreise, sondern immer auch um das allgemeinmenschliche Verhalten. Es geht um Verhaltensweisen, wie sie von allen Menschen in den verschiedenenLebenssituationen erwartet werden können, in denen man als Christ aber in besonderer Weise dem Doppelgebot der Liebe zum Nächsten und zu Gott Rechnung tragen kann, wie es uns auch Jesus selbst aufgetragen hat. So wird der Glaube in der Liebe tätig, welcher die Liebe Gottes zu uns Menschen immer schon vorausgeht. Geliebt von Gott können wir uns öffnen für die Liebe zu unseren Mitmenschen.
Und so ist es kein Zufall, dass den ethischen Weisungen von Paulus gleich zweimal die Liebe zugrunde gelegt wird in unserem heutigen Predigttext aus seinem Brief an die junge christliche Gemeinde in Rom: Es ist eine Liebe, die „ohne Falsch“ sein soll, d.h. aufrichtig, ohne Heuchelei, eindeutig; eine wahrhaftige, echte Liebe, könnte man auch sagen, nichts Scheinheiliges oder Aufgesetztes. Und es soll eine „geschwisterliche Liebe“ sein – im griechischen Urtext steht dafür das wunderbare Wort „philadelphia“, das die gegenseitige Herzlichkeit in der Geschwisterlichkeit betont. Interessant ist, wie Paulus bei seinen ethischen Hinweisen hin- und hermäandert: Sätze vom Umgang der Christen untereinander wechseln sich ab mit Sätzen, wo dieser gemeindliche Nahbereich, der Binnenzirkel bewusst überschritten wird.
So stehen Sätze wie „nehmt Euch der Nöte der Heiligen“, also der Glaubensgenossen an, neben der Mahnung zur Gastfreundschaft, griechisch „philoxenia“, wobei im griechischen Wortsinn der Fremde gemeint ist, dem gegenüber man sich offen und gastfrei verhalten soll. „Philadelphia“ und „philoxenia“ sind wie zwei Pole derselben Liebe: Bruderliebe und Fremden- sogar Feindesliebe. So geht es also bei Paulus von den christlichen Geschwistern zu den Außenstehenden und wieder zurück. Es geht um alle Menschen, nicht nur um den Umgang von Christen untereinander. Und es geht bei Paulus sowohl um das konkrete Tun und Lassen, also das aktive Handeln, wie auch um die grundsätzliche Einstellung, also die Haltung zum Leben. Beides gehört für Paulus zusammen: unsere innere Haltung und unser konkretes Handeln.
Paulus geht sogar so weit, das innerweltliche Tun als „Dienst am Herrn“ zu qualifizieren, letztlich zu einer Art von „Gottes-Dienst“, d.h. Dienst für Gott in dieser Welt zu erklären. Ein Christenmensch also als von der Liebe Gottes befreiter und damit zur Liebe zum Nächsten befähigter und dienstbarer Geist. – Übrigens ähnlich, wie später von Martin Luther aufgenommen in seinen Ausführungen in der reformatorischen Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
Es geht um das, was wir aktiv in der Welt für- und miteinander tun können und tun sollen, z.B. uns für das Gute einsetzen; einander helfen.Und zugleich geht es um die innere Einstellung zu den Widerfahrnissen des Lebens: um Geduld in Trübsal und um Fröhlichkeit, die auch in schweren Zeiten aus der Hoffnung schöpft. Das betrifft mein eigenes Leben als Christ, in gleicher Weise geht es aber auch um Empathie für andere Menschen in eben diesen Lebenslagen, weswegen Paulus uns aufruft: „Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden.“
Keine großen Dinge sind es manchmal, die uns eng miteinander verbinden können, sondern einfach nur mitfreuen und mitweinen. Und dabei einträchtig sein untereinander und bescheiden im Blick auf die eigene Klugheit und Bedeutung, das schreibt uns Paulus auch in unser christliches Stammbuch: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.“ Das Gute ist: Wer aus der christlichen Hoffnung und dem Gebet lebt, der hat als gläubiger, religiöser Mensch Ressourcen, aus denen er in schweren Lebenslagen schöpfen kann. Das sollten wir uns als Christen auch immer wieder bewusst machen.
Wie viel ärmer sind doch Menschen, die keinen Glauben und keine Hoffnung haben, an der sie sich festhalten können und auch keine heilsamen Rituale, die Halt und Orientierung geben? Unser Blick als Christen soll aber nie nur nach innen gehen und auf uns selbst und unserer eigenen Glaubensgewissheit ruhen, sondern von innen wieder nach außen gehen, so dass wir versuchen, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und in ihre Gefühlslage undmomentane Situation hineinzudenken: mitfühlen, wenn jemand anderes Kummer hat, und uns auchmitfreuen an seinem Lebensglück.
Noch einen weiteren Schritt geht Paulus: bei der Mitfreude und dem Mitweinen mit anderen, die uns vielleicht ohnehin sympathisch sind, bleibt er nicht stehen. Weit schwerer ist es, mit denen umzugehen, die gegen uns sind. Wie auch an anderer Stelle bezieht Paulus auch hier ausdrücklich die Feindesliebe in seine ethischen Überlegungen mit ein: „Segnet, die euch verfolgen; segnet und verflucht nicht.“ Wie gerne zahlen wir es heim, wenn uns jemand etwas Böses getan, uns verletzt oder beleidigt hat! Rache ist süß, sagt der Volksmund, aber Paulus sagt uns als Christinnen: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (12,21). Frieden macht man immer mit seinen Feinden, nicht mit seinen Freunden und genau das macht es so schwer.
Gerade weil manchmal unser erster affektiver Impuls dem entgegengeht, was ethisch als Christ und Mensch gefordert ist, brauchen wir solche eindeutigen Weisungen, wie sie Paulus uns hier, im Römerbrief und an anderer Stelle in seinen Briefen gibt. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man sich mitfühlend und offen verhält. Ethische Prinzipien sind „Spielregeln“, die uns als Menschen im Zusammenleben ziemlich vielabverlangen, nämlich eine Haltung, die auch Selbstüberwindung kostet. Z.B. nicht überheblich und besserwisserisch sein, nicht immer der erste sein wollen auf Kosten anderer; nicht egoistisch nur auf das eigene Wohl schauen; nicht rücksichtslos eigene Interessen vertreten; nicht ignorant sein gegenüber dem Leid anderer und voller Neid auf deren Lebensglück. Wie arm und kalt wird nämlich eine Gesellschaft, in der eine solchen anti-soziale Einstellung umsichgreift!
Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage unserer Predigt wären: Sind die Umgangsweisen im alltäglichen zwischenmenschlichen Miteinander und im Gebaren der einzelnen in unserer Gesellschaft rauer und härter, gefühlloser und egoistischer geworden? Es drängt sich der Eindruck auf, dass unserer Gesellschaft in den letzten Jahren nicht nur viel von ihrem kulturellen Gedächtnis verloren gegangen ist durch eine zunehmende Entchristlichung, sondern auch der Common sense in ethischer Hinsicht, der sich zu einem nicht geringen Anteil aus dem christlich-jüdischen Menschenbild und der antiken Ethik speist (bzw. in anderen Religionen aus deren ethischen Normen und Werten, die einen verlässlichen Verhaltensrahmen bieten).
Mit jedem Stück Religion als Rück-Bindung an das Göttliche und an Normen und Werte geht mithin zugleich ein Stück Ethik verloren. Und das zeigt sich an einer zunehmenden Verhaltensunsicherheit der Menschen, die kein Gefühl mehr dafür haben, was richtig und falsch, normal und grenzwertig,was gut und böse ist.Darum ist es kein Zufall, dass sich Paulus damals viel Zeit genommen hat, um in seinen Briefen den Menschen in seinen Gemeinden mit kurzen Sätzen ethische Wegmarken an die Hand zu geben, so wie in seinem Brief an die römischen Neuchristen, denen er schreibt: „Hasst das Böse; hängt dem Guten an.“ Wobei jeder Christ in der Konkretion, d.h. in den ganz konkreten Situationen seines Lebens diese Frage dann immer wieder für sich selbst durchdeklinieren muss: wie handle ich hier recht? Was ist gut für mich und für andere, in Verantwortung vor Gott und den Menschen?
Der Maßstab, den Paulus uns an die Hand gibt, ist ebenso eindeutig wie klar: im Evangelium ist es die Liebe – echt, ehrlich, ungeheuchelt; eine geschwisterliche und herzliche Liebe im Empfangen und im Geben. Liebe zu Gott, Nächstenliebe zu unseren Mitmenschen und auch Liebe in uns, die wir als Hoffnung in uns tragen und derer wir uns im Gebet immer wieder versichern dürfen, die uns zu frohen Christenmenschen macht, so wie Paulus uns aufmunterndschreibt: „Seid fröhlich inHoffnung; geduldig in Trübsal; beharrlich im Gebet.“