Wenn man heute mehrere Menschen zum Essen einlädt, dann hat man häufig ein Problem: was soll es zum Essen geben. Gäste können Allergien haben, Laktose-, Glukose- oder eine Glutenunverträglichkeit. Es gibt Vegetarier, Veganer. Möglichst sollte man auf alles Rücksicht nehmen. Das fällt häufig extrem schwer. Ich habe schon Gäste eingeladen, die sich ihr eigenen Essen mitbrachten, weil sie meinten, es wäre zu kompliziert, für sie zu kochen oder zu backen.
I
Menschen, Gruppen, haben sich schon immer über das, was sie essen oder auch nicht essen, definiert und von anderen abgegrenzt. Das Schweinefleischverbot und das Alkoholverbot des Islam unterscheidet Moslems von Christen, dass sie kein Rindfleisch essen die Hindus. Fromme Juden essen koscher – das ist viel mehr als nur ein Verbot von Schweinefleisch, in der Passahzeit verzichten sie zusätzlich auf alles, was Backtriebmittel – Sauerteig, Hefe, Backpulver – enthält. All das grenzt nach außen ab und hält im Inneren zusammen – man ist schließlich nicht so wie die anderen, die diese verbotenen Lebensmittel zu sich nehmen.
Daran musste ich denken, als ich die Worte des Apostels Paulus im Römerbrief las. Anscheinend hat man sich schon damals über richtiges Essen und richtige Feiertage gestritten, an anderer Stelle in einem Paulus wird über korrekte Kleidung diskutiert – Frauen mit Kopfbedeckung oder ohne.
Wir stellen uns ja die frühe Christenheit, die Urkirche, gerne als einen Anfang vor, in dem Harmonie herrschte, es keine Konflikte gab, und alle beständig zusammenblieben in der Apostel Lehre. So wird es teilweise auch in der Apostelgeschichte geschildert. Aber die Briefe des Paulus – und teilweise auch die Apostelgeschichte selbst - zeichnen ein völlig anderes Bild. Es wurde gestritten, über alles und jedes, und immer wieder.
Das ist ja auch nur verständlich. Es stand nichts fest, alles war neu und musste neu erarbeitet werden, und das von Menschen aus den unterschiedlichsten Völkern, Berufen, Religionen. Erst waren nur Menschen jüdischen Glaubens zu Christen geworden, doch dann hatten sich auch Nichtjuden den christlichen Gemeinden angeschlossen. Das führte zu den unterschiedlichsten Problemen.
Anders als heute ging es den frühen Christen und Christinnen nicht um eine gesunde Lebensweise – die meisten waren wahrscheinlich froh, wenn sie überhaupt genug zu essen hatten und satt wurden. Es ging ihnen nicht um gute Tierhaltung oder die Umwelt. Das Fleisch, über das sie sich stritten, war Fleisch, das verkauft wurde, nachdem es vorher den Göttern geweiht und geopfert worden war.
II
Paulus und andere argumentierten, da diese anderen Götter sowieso nicht existierten und damit auch keine Macht und Gewalt über dieses Fleisch ausüben konnten, könne man es ruhig essen. So würden wir das heute wahrscheinlich auch sehen. Andere aber hatten Bedenken: Was wäre, wenn eben doch irgendetwas am Fleisch geschehen wäre, irgendeine Macht der alten Götter noch an ihm haftet? Oder unterstützt man nicht die Götter und ihre Tempel, indem man von ihnen das Fleisch kauft und sie damit finanziert? Das sind immerhin bedenkenswerte Fragen. Ich muss zugeben, dass ich, seit ich gehört habe, dass bei Halal-Schlachtungen Koranverse rezitiert werden, auch Probleme hätte, solches Fleisch zu essen.
Ich kann mir vorstellen, dass für Christen und Christinnen je nach Herkunft solche Fragen eine unterschiedliche Bedeutung hatten. Paulus war Jude gewesen, er hatte nie an die Macht der Götter geglaubt. Für Menschen, die vorher Heiden gewesen waren, Jupiter und Hera und all die anderen verehrt hatten, hatte diese Frage wahrscheinlich eine ganz andere Wertigkeit.
Erschreckend ist, dass anscheinend ein Teil der Gemeinde den anderen Menschen wegen der Haltung zu diesen Fragen verachtete. Der andere Mensch galt als „schwach im Glauben“. Diejenigen, die dieses Fleisch kauften, glaubten, ihr Glaube wäre stärker als der der anderen, weil sie den alten Göttern keine Macht mehr zusprachen. Paulus rechnet sich dazu. Aber man hätte genauso gut anders herum argumentieren können: Wenn jemand nicht um seines Glaubens willen bereit ist, auf etwas Fragwürdiges zu verzichten, dann ist der Glaube eher schwach. So kann man sich gegenseitig Vorwürfe machen und kommt doch nicht weiter.
Paulus setzt deshalb an einer ganz anderen Stelle an. Er fragt nicht nach der Wirkmächtigkeit der heidnischen Götter, er fragt nicht, ob man nicht auf etwas verzichten könnte, was vielleicht fragwürdig ist. Stattdessen lenkt er den Blick auf das Zentrum: auf Christus. „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“ Das Wort wird ja gerne bei Trauerfeiern als Trost gewählt, aber letztlich ist es hier für das Leben geschrieben worden, für das gemeinsame Leben in Christus in Einheit in der Gemeinde. Unser Leben erhalten wir nicht dadurch, ob wir Fleisch essen oder nicht, den Sabbat feiern oder den Sonntag, als Frau unseren Kopf bedecken oder nicht – unser Leben auf ewig erhalten wir einzig und allein durch Jesus Christus.
III
Paulus scheint nicht einmal zu erwarten, dass die Christinnen und Christen aus Rücksicht auf die jeweils anderen tun oder unterlassen, was sie trennt. Er fordert nicht, dass die einen nun doch anfangen, das umstrittene Fleisch zu kaufen und zu essen, oder dass die anderen aufhören, das zu tun. Wenn heute gefordert wird, Rücksicht auf die Schwachen zu nehmen, dann wird ja häufig gerade das gefordert. Bestimmte Worte dürfen nicht mehr benutzt werden, selbst in alten Büchern wird der Text verändert. In den USA entfernen Bibliotheken Hunderte von Buchtiteln aus ihrem Angebot, weil Menschen, zB die „Moms for Liberty“ meinen, sie wären für Kinder und Jugendliche nicht gut zu lesen. Es sind gegensätzliche Richtungen, die das tun, die Wirkung aber ist die gleiche: eine Seite wird eingeschränkt, zu etwas gezwungen, was sie nicht will.Ich frage mich dann immer, wer dann eigentlich die Schwachen sind – die, die sich gestört fühlen und deshalb den anderen ihren Willen aufzuzwingen versuchen oder die, die tun müssen, was sie eigentlich nicht gut heißen.
Paulus verschiebt den Blick weg von der Frage schwach oder stark, Fleisch oder Gemüse, Feiertage oder nicht, hin auf Jesus Christus. Alles, was wir in diesem Leben tun, sollen wir für Jesus Christus tun. Damit wissen wir natürlich immer noch nicht, was denn eigentlich in Gottes Augen richtig oder falsch ist, aber vielleicht werden wir toleranter den anderen gegenüber, lernen, die Unterschiede zu ertragen, weil wir wissen, dass wir im Leben und im Tod zu Christus gehören, dass eines Tages am Ende der Zeiten sich alle Unterschiede in Jesus Christus auflösen werden.
Jeder Mensch ist einzigartig, hat einzigartiges erlebt, wurde einzigartig geprägt, so wie die Menschen in den ersten Gemeinden. In den 2000 Jahren hat sich seitdem die Gemeinde gespalten, es gibt unzählige völlig unterschiedliche Kirchen und Sekten. Viele wissen teilweise gar nicht mehr, warum wir uns einmal getrennt haben, was die Unterschiede sind. Abstand macht Unterschiede natürlich auch leichter ertragbar. Im ökumenischen Rat der Kirchen erleben wir immer wieder auf das Neue, wie schwer es ist, wieder zusammenzufinden, weil jede Gruppe ihre Meinung hat von dem, was gut und richtig ist.
Menschen haben das Bedürfnis, an liebgewordenen Gewohnheiten festzuhalten. Sie haben das Bedürfnis, sich abzugrenzen gegenüber anderen, die dann als weniger wert beurteilt werden können. Paulus beendet diese Grenzziehung: Wir sind alle eins in Jesus Christus, wir sind in allen unseren Unterschieden gleich viel wert - im Leben und darüber hinaus.