“Erkenne dich selbst”
Mich im Licht Gottes erkennen als der Mensch, der ich von Gott gemeint bin
Predigttext: 2. Samuel 12,1-15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und der HERR sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm:Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hielt's wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er's nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan:So wahr der HERR lebt:Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels:Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs Schwert der Ammoniter. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei.
Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. Und Nathan ging heim.
Erste Gedanken beim Lesen
Die Geschichte bewegt mich, seit ich sie kenne. Der „mächtige König der Ehren“ hält sich einen Propheten, der ihm die Wahrheit sagen darf. Und Nathan verhilft David mit einer Geschichte zu einer Erkenntnis, die ihn verändert. „Non vi sed verbo“.
(Eigene Übersetzung Christoph Kühne)
12,1 Und Gott sandte Nathan zu David. Und er kam zu ihm und erzählte ihm eine Geschichte: Zwei Leute lebten in einer Stadt. Der eine war reich und der andere arm.
2 Dem Reichen mehrten sich das Kleinvieh und die Rinder -
3 und der Arme hatte nichts – außer einem (weiblichen) Lämmchen, einem kleinen, das er gekauft hatte. Das hielt er am Leben. Und es wuchs heran mit ihm und mit seinen Söhnen zusammen. Von seinem Bissen aß es, und aus seinem (schalenförmigen Trink-) Becher trank es, und es war ihm wie eine Tochter.
4 Und es kam ein Besuch zum reichen Mann. Doch er konnte es nicht über sich bringen, ein Tier von seinem Kleinvieh oder von seinen Rindern zu nehmen, um den Wandernden, der zu ihm gekommen war, zu bewirten. Und er nahm das Schäfchen des armen Mannes, und bewirtete damit den Mann, der zu ihm gekommen war
5 Da entbrannte der Zorn Davids über den Mann sehr. Und er sprach zu Nathan: So wahr Gott lebt! Der Mann ist tot, der so etwas tut!
6 Und für das Lamm soll er vierfachen Ersatz leisten! Dafür dass er das getan hat und dafür, dass er kein Mitleid empfunden hat!
7 Und Nathan sprach zu David: Du bist der Mann! So hat ER, der Gott Israels, gesprochen: ICH habe dich gesalbt zum König über Israel, und ICH habe dich aus der Hand Sauls errettet.
8 Und ich habe dir gegeben das Haus deines Herren und die Frauen deines Herren in deinen Schoß, und ich habe dir gegeben das Haus Israel und Juda. Und wenn dies noch zu wenig sein sollte, füge ich noch dies oder das hinzu!
9 Weswegen schätzt du gering das Wort von Gott, dass du das Böse vor meinen Augen tust? Uriah, den Hethiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, und seine Frau hast du dir zur Frau genommen. Und ihn hast du getötet durch das Schwert der Ammoniter.
10 Von jetzt an wird das Schwert nicht von deinem Haus „in Ewigkeit“ - dafür, dass du mich gering geschätzt hast und genommen hast die Frau Urias, des Hethiters, dass sie deine Frau werde. …
13 Da sprach David zu Nathan: Ich habe mich versündigt gegen Gott!
Da sprach Nathan zu David: Dann hat auch Gott deine Verfehlung vergeben: Du sollst nicht sterben!
14 Jedoch weil verspottet, ja du durch diese Sache IHN verspottet hast, wird der Sohn, der dir geboren wird, wird auf jeden Fall sterben!
15 Und Nathan ging nach Hause …
Anmerkungen zum Text
Die Geschichte erzählt von einem Auftritt des Propheten Nathan bei dem König David. Keine Vorrede, kein Reden übers Wetter – der Prophet erzählt eine Geschichte und der König hört zu: Das Bild des armen Mannes rührt an. Es ist eine Idylle, die Nathan von dem Armen malt, der wohl ohne Frau mit seinen Söhnen zusammenlebt. Die Schilderung des Reichen fällt kurz und bündig aus. Von einem besonderen Verhältnis dieses Mannes zu seinen Tieren ist nicht die Rede. Dieser reiche Mann bekommt Besuch von einem Wanderer. Die Bewirtung ist schnell geregelt: Das kleine Schäfchen des armen Mannes muss her! Nathan berichtet sachlich, fast trocken, emotionslos. Wie wird der König reagieren? Auf seine Reaktion hin ist diese Geschichte ausgerichtet. Gut vier Verse.
Die Reaktion Davids ist explosiv. Er hält die Spannung, die Ungerechtigkeit nicht mehr aus, kann sich nicht mehr zurückhalten. Ein Schwur fährt in die Rede des Propheten: Der Mann ist tot, der so etwas macht! Und 4-fach soll er das Lamm entschädigen für diese Tat und dafür, dass er das Wichtigste nicht kannte: Mitleid!
Und jetzt wird der Geschichtenerzähler zum Propheten: Du bist der Mann – hebräisch: attah ha´isch. Es muss wie ein Spiegel gewesen sein, in dem sich der König sogleich selber erkennt. Der folgende Kommentar Nathans schildert die Bewusstwerdung der furchtbaren und ungerechten Ereignisse, die David seinerzeit (unbewusst) veranlasst hat. Er erinnert an seinen Aufstieg zum König:
- V 7b seine Salbung durch den Propheten Samuel
- V 7b seine Rettung aus der Hand Sauls
- V 8a Einzug in den Palast des Saul
- V 8a Heirat der Töchter Sauls
- V 9a der Mord an dem Hethiter Uriah – beachte die Bedeutung seines Namens „IHVH ist Licht“
V 10 zeigt, dass die Strafe auf dem Fuß folgt: Das Schwert wird David „für alle Ewigkeit“, besser: „ für alle Tage deines Lebens“ folgen: Der Friede ist dahin! Hier fällt in die Stille das Wort Davids, überraschend?: Ich habe gesündigt – chatati ladonai! Sogleich, in selben Atemzug, ohne Umschweife reagiert der Prophet im Namen Gottes: Dann hat auf IHVH dir vergeben: DU sollst nicht sterben! Soll der Sohn (der Batseba) stellvertretend für seinen Vater sterben? Die Schuld ist an David vorübergegangen aufgrund seines Schuldbekenntnisses.
Exkurs: Geschichten drängen sich auf, in denen der Sohn das Opfer der Eltern ist, in denen das Kind stirbt, krank wird. So im NT beschrieben. Auch das „Opfer Abrahams“ mag gegenwärtig werden. Doch da fällt „der Engel“ dem Vater in den Arm – anders als bei der „Opferung“ Jesu! Auch heutige systemische Ansätze kennen das Kindesopfer: So nimmt ein Kind alle möglichen Drangsale auf sich, bleibt brav und angepasst, „opfert sich“, damit die Eltern z.B. zusammen bleiben.
V 14 ist nicht zu verstehen, außer man streicht mit M je`be Feinde: „weil du IHN gelästert hast“. Der Prophet hat seine Mission erfüllt. Ohne „Nachgespräch“ geht er nach Hause und überlässt David sich selber. Seine Seelsorge bestand in einem Gleichnis, das den König – und damit auch den Hörer der Geschichte – wach rütteln sollte …
Lieder
"Vertraut den neuen Wegen" (EG 395)
"Such wer da will" (EG 346)
"Kehret um" (EG NRW 589)
"Er weckt mich alle Morgen" (EG 452)
Literatur
R. Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen Bd. 2.
Es war einmal ein König. Der war mächtig und konnte sich alles leisten, was er wollte. So sah er einmal von seinem Palast aus, wie sich eine Frau wusch. Der König war sehr erregt. Er lud heimlich die Frau zu sich ein. Sie wurde schwanger. Was tun? Mit List und Tücke sorgte der König dafür, dass der Ehemann für ihn sein Vaterland verteidigte und ehrenvoll im Kampfe fiel. Die Trauer war groß im Land. Doch als die Trauerzeit um war, nahm sich der König die Frau. Dieses „Märchen“ vom König und einer Frau ist so alt wie heute noch modern. Einige unter Ihnen kennen auch die beteiligten Personen: der König heißt David und ist der Inbegriff von Größe, Schönheit, Kreativität und „Gottesgnadentum“; die Frau heißt Bathseba und ist „von sehr schöner Gestalt“; und der treue aber unglückliche Mann heißt Uriah, ein Hethiter. Und diese Geschichte steht im Alten Testament. Und sie könnte auch – in etwas anderer Form – im Hamburger Abendblatt oder in der Bild-Zeitung stehen. Eine urmenschliche Geschichte, die uns Leser im ersten Augenblick aufregt und die wenig später wieder vergessen ist. In der Bibel wird berichtet, wie der Hofprophet dieses Königs auftritt und ihm eine andere Geschichte erzählt. Ich lese sie (noch einmal) in einer eigenen Übersetzung vor.
(Lesung des Predigttextes)
Ich bin sicher, dass etliche von Ihnen diese Geschichte von Nathan kennen, dem Propheten, der seinem König wie ein Hofnarr alles sagen und zumuten kann, ohne bestraft zu werden. Eine moralische Institution, die David, dem „mächtigen König der Ehren“ die Wahrheit sagt – und dies im Namen Gottes. Doch was ist die Wahrheit? Behandeln wir heute sexuelle Verhältnisse „wahrer“ als das frühere Generationen gehandhabt haben? Oder wie soll geahndet werden, wenn ich meinen Nachbarn ins Messer laufen lasse? Haben sich unsere moralischen Maßstäbe heute nicht gewandelt, sodass wir Vorfälle anders bewerten als früher? Gibt es heute einen Anwalt für „die Wahrheit“? Wissen wir Pastoren oder auch Juristen besser, was wahr ist als Sie heute morgen in dieser Kirche? Wird nicht vor Gericht oft erbittert um die Wahrheit gestritten, und wenn das Urteil gesprochen ist, wenn „rechtens“ gesprochen ist – ist das dann die Wahrheit, oder hat mein Anwalt noch eine Lücke im Gesetz gefunden, mit deren Hilfe er mich „heraushauen“ konnte? Ist nicht auch im politischen Diskurs die Wahrheit etwas, das verhandelt werden muss? Und erst recht in einer Demokratie, die vom Streit um die Wahrheit lebt!? Gibt es in Deutschland, in Europa, in der Welt einen „Nathan“, der im Namen Gottes „dieWahrheit“ sagt?
Fragen über Fragen. Vielleicht nähern wir uns unserem Predigttext von einer anderen Seite und fragen, was uns an dieser Erzählung berührt! Vielleicht geht es Ihnen wie mir, dass Sie angerührt sind von der extremen Reaktion des großen Königs auf die kleine Geschichte des Propheten – und dessen Wort: Du bist der Mann, der dem kleinen Mann das Schäfchen wegnimmt und es einem zufällig vorbeikommenden Wanderer serviert. Du bist der Mann! Vielleicht meinen auch Sie zu sehen, wie der „mächtige König der Ehren“ blass wird, wie es ihn durchzuckt, wie er stumm wird. Und nach langem Schweigen sagt: Ich habe gesündigt gegen den Herrn. Was ist geschehen? Es ist nicht geschehen, was wir erwarten könnten, dass David den Propheten umgehend ins Gefängnis werfen lässt, dass er zornig wird oder außer sich gerät. Das hat er nach der Geschichte des Nathan nicht getan. Unverhältnismäßig. Aber jetzt? Warum trifft ihn das kurze Wort: attah ha`isch, du bist der Mann?
Die Erzählung Nathans allein hat bei David offenbar noch nichts bewirkt. Es ist ähnlich wie bei den Gleichnissen Jesu, die ausgerechnet von seinen eigenen Jüngern nicht verstanden wurden und immer wieder von Jesus für sie gedeutet werden mussten. Wenn wir zu dicht an unseren Lebensthemen sind, dann braucht es gelegentlich ein deutendes Wort – als Angebot. Und dann geht uns ein Licht auf – manchmal erschreckend, manchmal erfreulich. Und ich erkenne mich, sehe mich in einem Augen-Blick unverstellt und klar. Erkenne dich selbst! Gnooti sauton! Diese Aufforderung traf den Besucher des griechischen Apollotempels in Delphi. Könnte sie nicht auch – vielleicht etwas kleiner – an jeder Kirche stehen? Geht es in unserer Kirche nicht auch darum, dass ich mich im Lichte Gottes erkenne als der, der ich von Gott gemeint bin?
Und wie können wir in der Kirche dieses “erkenne dich” ermöglichen? Wie müsste eine Predigt dann aussehen? Wie sollten wir miteinander sprechen und umgehen, dass ich merke, spüre und weiß, dass ich Gottes geliebte Schöpfung bin? Vielleicht ist es genau dies: Miteinander sprechen, sich den Spiegel vorhalten, sich erzählen, wie der Andere auf mich wirkt. Im Beratungsbereich nennen wir dies: Feedback geben. Und damit dem anderen mitteilen, was mich berührt und anregt von seinen Worten, Taten, Gesten, Mimik. Sodass der andere seine ungesehenen „Schattenseiten“ wahr nimmt. Und wachsen und sich weiter entwickeln kann. Und leben kann. Mit seiner Schuld. Und spürt, dass Schuld zum Leben gehört. Dass Schuld erdet. Und verbindet. Mit den Menschen und mit der eigenen Seele. David, der „mächtige König der Ehren“, wird den Tod seines Sohnes erleben. Er wird durch die Trauer gehen. Wird ein anderer werden. Nach dem großen Psychologen C.G. Jung ist „der König“ ein Symbol für das Ich. Das Ich des Menschen muss schuldig werden, Gefahren bestehen, Angst bewältigen, Freude erfahren. So kann es vollständig werden, menschlich und zugewandt. Ohne weitere Worte verlässt Nathan den König und geht nach Hause. Hat seine Predigt, seine Seelsorge gewirkt? Wolle Gott, dass sein Wort wirkt, uns anrührt, wachsen und leben lässt!
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne im Christus Jesus!
Sehr originell, psychologisch und aktuell predigt Pastor Kühne über die bekannte Geschichte vom Ehebruch und verschleierten Mord am Ehemann durch den berühmten König David. Geschickt wurde alles von David verschleiert, und er hat sich selbst die Hände nicht schmutzig oder blutig gemacht. Da tritt der Prophet Nathan auf und sagt wie ein Hofnarr mit einer Beispielgeschichte die Wahrheit. Der König ist empört und fordert den Tod. Der Prophet fördert die Selbsterkenntnis des David und sagt: Du bist der nach deinem Urteil todeswürdige Mann. David bekennt seine Schuld. Ihm wird von Gott verziehen. Nur der Sohn büßt stellvertretend für den Tod und die Sünde und wird sterben. Pastor Kühne predigt nicht wie üblich über Schuld und Sühne. Er hat als Ziel für die Hörenden den Gedanken: Erkenne Dich selbst! Erkenne Deine Schattenseiten so, dass Dir ein Licht aufgeht von Gott! Wie können wir in unseren Seelsorgegesprächen mit den Mitchristen so umgehen, dass jeder seine Schattenseiten und seine vielfältige Schuld sehen und konstruktiv damit umgehen kann? Schuld gehört zu unserem Leben. “Wolle Gott, dass sein Wort wirkt, uns anrührt, wachsen uns leben lässt!” Mit diesem schönen zusammenfassenden Wunsch endet die nachdenkliche schöne Predigt.