Erntedank
Einmal im Jahr liegen auf dem Altar viele Dinge, die dort sonst keinen Platz finden:
Äpfel, Kartoffeln, Möhren, Pflaumen, Medikamentenschachteln, Reisekataloge und Fotoalben, Bücher und Bälle und ein großes Stück Papier mit der in Großbuchstaben geschriebenen Abkürzung: KI. KI gleich Künstliche Intelligenz. Und heute – ein paar Tage nach dem 3. Oktober – ein Bildband zur Deutschen Einheit. Mit aufgebrochenen Mauern. Mit Trabis auf westdeutschen Straßen. Mit offenen Grenzen zwischen Ost und West. Wo doch heute wieder neue Mauern hochgezogen werden. Hab‘ ich was vergessen? Wir können ja gleich noch einmal den Altar mit den vielen schönen Dingen in Augenschein nehmen. Viele unter uns haben den Altar geschmückt. Danke!
Danke sagen wir heute für alles. Für Nahrungsmittel und Medikamente, für Reisen und Träume, für Leseentdeckungen und sportliche Aktivitäten, für Arbeit und Interessen – und sogar für so etwas wie Künstliche Intelligenz. Denn auch die ist nur verdankt. Das Wort Intelligenz taugt da nicht einmal. Die Algorithmen sind ein Geschenk.
Fragen wir danach, wo alles herkommt, stoßen wir atemberaubend auf menschlichen Fleiß, auf menschliche Forschung, auf menschliche Neugier (und auf unsere auch) – aber auch das alles ist eingebettet in die große Schöpfung Gottes, die – bei Sonnen- und Mondenschein betrachtet – uns ein Wunder nach dem anderen beschert und dann auch noch Möglichkeiten und Aufgaben, an denen sich unsere Enkelkinder abarbeiten und erfreuen werden.
Nichts ist fertig – und doch: es ist alles gegeben. Vielleicht müsste ich angesichts der vielen Krisen ein Fragezeichen machen und das auch laut sagen? Aber nur noch Fragezeichen? Noch mehr Fragezeichen? Wenn wir mit Dank annehmen, was uns jeden Tag geschenkt wird (auch mit unserer Arbeit, mit unserer Leidenschaft, mit unseren Fehlern), verändern sich unsere Blicke. Bedrohungen, an denen wir Menschen alles andere als unschuldig sind, suggerieren, allmächtig zu sein. Wir geben ihnen Tag für Tag dann auch noch neues Futter – und unsere Unterwürfigkeit. Bedrohungen lieben es, sich unentbehrlich zu machen. Noch mehr lieben sie es, die Welt mit Angst in den Griff zu bekommen. Heute setzen wir mit „Dank“ alles auf eine andere Karte: Wir nehmen aus Gottes Hand das Leben und die Zukunft.
Schöpfung
Dass die Schöpfung zerbrechlich ist, wissen biblische Geschichten sehr eindrücklich zu erzählen. Aber Gott selbst hat mit sich keine guten Erfahrungen gemacht, als er sein Werk sich selbst überließ. Das ist schon lange her – eine alte Geschichte. Es ist ein Schrei, ein Aufschrei, ein Freudenschrei: „Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Gen. 8, 21f.) Nicht aufhören! Hörst du: Nicht aufhören!
Ein Konflikt
Es ist wohl so, dass wir auf einen Konflikt stoßen. Da kommt uns ein Brief gerade recht, der zwar nicht an uns adressiert ist, aber uns tatsächlich meint. Es ist der erste Brief an Timotheus. Manche sagen, Paulus habe den Brief geschrieben, andere, ein Meisterschüler von ihm sei es gewesen. Ich wüsste gerne viel, wenigstens mehr von Timotheus. Aber was soll’s? Hauptsache, wir wissen viel von uns, wenigstens mehr, als wir uns zuschreiben oder zutrauen.
Damals gab es Menschen, für die das Ende der Welt nahe war. Das kommt mir jetzt gar nicht so unbekannt vor. Das Ende der Welt … Den Konflikt damals will ich jetzt aber nicht aufrollen. Sie können ihn nachlesen. 1. Timotheus 4. Was uns aber weiterbringt, ist in einem Satz, verteilt auf zwei Verse, gesagt:
„Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet“.
Um das abzuzählen, brauchen wir nicht einmal fünf Finger. Es geht mit – Erstens, Zweitens, Drittens. Schlüssig und einfach. Gott hat alles gut geschaffen. Da kann ihm auch keiner ins Handwerk pfuschen. Alles heißt übrigens: Alles! Da ist nichts auszusondern oder einem bösen Geist in die Schuhe zu schieben. Dass dann so manches von uns Menschen missbraucht oder zweckentfremdet wird, nimmt dem Urteil Gottes über sein eigenes Werk nichts: Siehe, es ist gut! Gleich mehrfach sagt Gott das. Nach jedem Tag. Nach jedem Werk.Nach jedem Schritt. Gut sind Tag und Nacht, die Meere und die Himmel, die Pflanzen, Tiere und Menschen. Die ganze Welt mit ihren Fliehkräften, Wogen und Lichtfluten. Gut ist gut, weil Gott gut ist. Schlechtes macht Gott nicht.
Das Zauberwort, das Timotheus genannt wird, ist „Danksagung“. „Danke“ muss ausgesprochen werden! „Danke“ muss gehört werden können. Für Murmler und Schweiger ist „Danke“ nichts. Klar, ich kann ein Gefühl haben, eine Empfindung. Aber es reicht nicht, etwas zu denken, ohne es auch zu sagen. Lauthals! Öffentlich! Mutig! Klagen gibt es viele, und sie dürfen sein. Doch wenn nur die Klagen durch die Welt ziehen, kommen auch nur Klagen zurück. „Danksagung“ ist übrigens nicht der Gegenbegriff von Klage, „Danksagung“ ist ihre Krone. In den Psalmen wachsen Gebete aus der Klage in das Lob. Mit „Danksagung“ das Leben, Tage und Nächte, Arbeit und Ruhe, Freude und Leid zu empfangen, macht Gott und mich groß.
Eine Begründung finden wir auch. In diesem Brief an Timotheus. Alles ist gut, nichts ist verwerflich, denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet. Die Schöpfung hat Anteil an der Größe und Schönheit Gottes. Wer sie betrachtet, Dinge behutsam in die Hand nimmt und bestaunt, sich in eine Interaktion mit ihnen begibt, tritt in eine Welt, die heilig ist. Gott hat gesagt: Es werde. Gott sah alles, was er getan hat: Es war gut, sehr gut. In Gottes Wort hat die Welt, ich, die anderen Menschen, die vielen Dinge eine Form bekommen, eine Klarheit, eine Weite, die ich kaum in Worte fassen kann. Der Gedanke, dass ich mich in einem geheiligten Raum befinde, wenn ich meinen Platz in der Welt ausfülle, ist wie ein Lichtblick. Was ich sagen kann,was ich dazu sagen kann, passt in ein Gebet. Ich danke dir.
Ich habe lange überlegt, ob ich den Satz, der heute unser Predigttext ist, so einfach und widerspruchslos weiter geben kann. Um Konflikte weiß ich. Um das Böse auch. Die Welt ist auch voller Rätsel. Noch immer. Manchmal bin ich mir auch ein Rätsel. Der Brief an Timotheus, er wird auch Pastoralbrief genannt, also ein seelsorglicher Brief, gewährt uns drei Freiheiten: Die Schöpfung als gut zu bewahren, laut und vernehmlich „Danke“ zu sagen und unsere Erfahrungen und Zweifel in Gottes Wort zu bergen. Im achten Psalm bekommen wir ein Gebet mit, an dem wir unsere Freude haben können: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“
Jetzt bin ich schon so alt geworden und darf das Staunen doch neu lernen. Dass du dich meiner annimmst, was kann ich dafür?
Erntedank– zum Zweiten
Einmal im Jahr liegen auf dem Altar viele Dinge, die dort eigentlich immer hingehören: Äpfel, Kartoffeln, Möhren, Pflaumen, Medikamente, Reisekataloge und Fotoalben, Bücher und Bälle und ein großes Stück Papier mit der in Großbuchstaben geschriebenen Abkürzung: KI. KI gleich Künstliche Intelligenz. Und heute – ein paar Tage nach dem 3. Oktober – ein Bildband zur Deutschen Einheit. Mit aufgebrochenen Mauern. Mit Trabis auf westdeutschen Straßen. Mit offenen Grenzen zwischen Ost und West. Wo doch heute wieder neue Mauern hochgezogen werden. Wir sind von Geschenken umgeben. Wir selbst sind Geschenke.
Das griechische Wort für „Danksagung“ kommt auch in dem Wort Eucharistie vor. In der Welt unserer katholischen Brüder und Schwestern ist dieses Wort vertrauter als in unserer evangelischen. Aber weit sind wir nicht voneinander entfernt. Wenn wir Brot und Wein teilen, wenn wir das Geheimnis Gottes feiern, wenn wir uns Anteil geben lassen an Leib und Blut unseres Herrn, dann verkündigen wir Sein Leben, dann preisen wir Sein Werk, bis er kommt. Im 4. Hochgebet der Eucharistiefeier heißt es:
„In Wahrheit ist es würdig, dir zu danken, heiliger Vater. Es ist recht dich zu preisen. Denn du allein bist der lebendige und wahre Gott. Du bist vor den Zeiten und lebst in Ewigkeit. Du wohnst in unzugänglichem Lichte. Alles hast du erschaffen, denn du bist die Liebe und der Ursprung des Lebens.
Du erfüllst deine Geschöpfe mit Segen und erfreust sie alle mit dem Glanz deines Lichtes.“