Erwartungen – Träume – Hoffnungen
Wider falsche Hoffnungen
Predigttext: Johannes 12,12-19 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!
Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sach 9,9):
»Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.«
Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Der König kommt
Genial, einfach schön: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“. Die Leute schreien wie in einem Taumel. Wo ist das Fernsehen? Der König von Israel kommt! Woher die Leute das wissen? Kluge Frage. Sie werden von Erwartungen mitgerissen, von Träumen beflügelt und von Hoffnungen weggetragen. Endlich – jetzt kommt er, der König von Israel. Von einem Fest ist auch die Rede. Von weither haben sich Menschen aufgemacht. Eigentlich aus aller Herren Länder. Juden – und ganz viele Menschen, die sich ihnen anschließen.
Im Johannesevangelium ist auffälligerweise oft von Griechen die Rede, die dabei sind. Welches Fest gefeiert werden wird? Das Passahfest. Das Fest der Befreiung. Alte Geschichten werden neu erzählt. Die Geschichten vom Auszug aus Ägypten, von der Knechtschaft in die Freiheit, von der Unterdrückung in ein gelobtes Land. Jedes Jahr ist dieses Fest ein Höhepunkt im Lebenslauf von Menschen. Und just in diesem Jahr, heute, kommt der König, der König von Israel? „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der Königs von Israel!“
König gegen König
Dass es einen König in Israel gibt, wissen Sie? Doch der trägt einen Titel, der nichts – oder nicht viel – wert ist. Ein Zwischending von Möchtegern und Vasall, Baulöwe und Schurke. Dieser König war ein König ohne Land. König der Herzen war er auch nicht. Über ihm stand der Kaiser, der Kaiser von Rom. Der war omnipräsent. Sollte es Jesus mit ihm aufnehmen? Mit ihm aufnehmen können? Mit ihm aufnehmen wollen? Hören wir einmal in das Verhör hinein, dass Pilatus, immerhin Statthalter des Kaisers in dem unterworfenen Israel, mit Jesus führen wird – nur ein paar Tage später:
Pilatus: Bist du der König der Juden?
Jesus: Sagst du das von dir aus oder haben dir’s andere über mich gesagt?
Pilatus: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
Jesus: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde. Nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt!
Pilatus: So bist du dennoch ein König?
Jesus: Du sagst es! Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme!
Pilatus: Was ist Wahrheit?
Gegensätze prallen aufeinander, die größer nicht sein könnten. Auch wenn wir die ganze Geschichte nicht kennen, hier ist wohl keine Versöhnung möglich. Wir sehen die Leute, die den König sehnsüchtig erwarten, wir hören den Statthalter, der dem König das Todesurteil sprechen soll. Widerwillig zwar, aber er wird es tun. Auf das Kreuz wird er schreiben lassen: Jesus von Nazareth – König der Juden. Jesus sagt von sich. „Ich bin die Wahrheit“ – Die Wahrheit und das Leben. Nur: Welchen König bejubeln denn die Leute? Welchem König wird der Prozess gemacht?
Ich möchte mich unter das Volk mischen. Unter die Leute. Sie haben ein ziemlich festes Bild im Kopf: Das soll unser König sein! Sagen sie. Rufen sie. Die römische Besatzungsmacht soll sich zum Teufel scheren! Die Unterdrücker müssen ein für allemal verschwinden! Unser König kommt im Namen Gottes. Unseres Gottes! Die Betonung spricht für sich: Unseres Gottes!
Was bewegt die Leute, jetzt diesen König kommen zu sehen? Ist die Zeit reif? Springen Funken über? Muss das Eisen jetzt geschmiedet werden, solange es heiß ist? Ich werde mitgerissen. Indizien deuten darauf hin, dass die Leute in Jesus einen politischen Heilbringer sehen. Einen Heilbringer, der von Gott kommt, aber eine verlorene Geschichte wendet. Vielleicht wollen sie auch erzwingen, dass er jetzt endlich in die Arena steigt, sich erklärt und – man höre, man staune – sich proklamieren lässt? Jetzt! Heute! Endlich!
Hat Jesus womöglich falsche Erwartungen geweckt? Waren seine Reden, seine Taten vieldeutig, gar revolutionär? Zur Projektionsfläche ist er geworden – und gemacht worden. Zur Projektionsfläche für alte Großmachtträume. Noch wissen die Leute nicht, dass ihre Erwartungen bitter enttäuscht werden. Sie wissen aber auch noch nicht, dass sie bitter enttäuschen werden. Aus Hoffnung wird Wut. Wir werden zu Zeugen böser Taten. Wenn eine Menge schreit, ist das Unheil nicht weit. Das Hosianna wird geschrien. Die Menge wogt. Die Menge wiegt sich. In einem Triumphzug. Nur: Irgendwas stimmt hier nicht. Eigentlich müssten die Schriftgelehrten, die Rechtsgelehrten, die Historiker überglücklich sein, auf der Welle mitschwimmen zu können und ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aber sie zeigen Jesus an, fordern gar für ihn ein Todesurteil. Bei keinem Geringeren als – Pilatus, dem verhassten Statthalter. Irgendwas stimmt da doch nicht. Wir müssen dahinter kommen!
„Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“
Falsche Hoffnungen
Friedrich Rückert, ein Professor für orientalische Sprachen in Erlangen und Berlin, hat 1834 ein Lied gedichtet, das auch in unserem Gesangbuch steht:
Dein König kommt in niedern Hüllen, ihn trägt der lastbarn Es’lin Füllen, empfang ihn froh, Jerusalem! Trag ihm entgegen Friedenspalmen, bestreu den Pfad mit grünen Halmen; so ist’s dem Herren angenehm. / O mächt’ger Herrscher ohne Heere, gewalt’ger Kämpfer ohne Speere, o Friedefürst von großer Macht! Es wollen dir der Erde Herren den Weg zu deinem Throne sperren, doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.
Der König, der als „dein König“ benannt wird, kommt ganz einfach. Was sich hinter „niedern Hüllen“ verbirgt, ist alles andere als ein königliches Gewand: Dein König kommt wie ein normaler Mensch. In Alltagskluft, in Arbeitsklamotten. Doch: es ist dein König. Wir bringen ihm Friedenspalmen entgegen – keine kriegerischen Erwartungen. Wir streuen grüne Halme auf den Weg – keine Hassbotschaften. Palmen und Halme sind die lebenden Zeichen aus dem Paradies. Aus dem Garten Gottes. Dein König ist ein mächtiger Herrscher – ohne Heere. Er ist ein gewaltiger Kämpfer – ohne Speere. Dein König gewinnt den Thron – ohne Schlacht. Friedrich Rückert konnte nicht nur mit Worten spielen. Er konnte aus seinem reichen Wissen orientalischer Sprachen Worte in Bilder verwandeln. Ohne Heere – Ohne Speere – Ohne Schlacht. Dein König kommt nicht verhüllt, nicht versteckt in einem kostbaren Gewand. Wenn du ihn siehst, siehst du einen Menschen. Nein. Den Menschen. Den einen, der so ist wie Gott.
Friedrich Rückert hat in seinem Lied zuerst an uns gedacht: Dein König kommt. Dann aber spricht er den König auch an – vor unseren Ohren, vor allem: vor unseren Ohren. Dein Reich ist nicht von dieser Erden, doch aller Erde Reiche werden dem, das du gründest, untertan. Bewaffnet mit des Glaubens Worten zieht deine Schar nach allen Orten der Welt hinaus und macht dir Bahn.
Bewaffnet mit des Glaubens Worten. Wenn es um Macht ging, hat auch die Kirche sich nicht auf des Glaubens Worte verlassen. Sie hat unter den Mächtigen ihren Platz gesucht und gefunden. Sie hat im Namen Gottes Politik gemacht. Sie hat auch Kriege gerechtfertigt. Sie hat mit ihren Worten Angst gemacht. Sie hat Menschen zum Schweigen gebracht.
Dein König kommt in niedern Hüllen!
Inzwischen singen wir in der Kirche Klagelieder. Was wir alles aufgeben müssen! Was wir nicht halten können! Was uns genommen wird! Tief versteckt sind auch viele Christenmenschen von dem alten Traum infiziert, etwas zu sein, etwas Großes zu sein, eine gesellschaftliche Macht zu sein. Dass die Volkskirche nicht im Evangelium steht, von Jesus auch nicht verheißen wurde und nicht das Maß aller Dinge sein kann, geht dann leicht unter.
Dein König kommt in niedern Hüllen!
Schauen wir uns um, werden wir von alten Geschichten eingeholt. Die russische Führung träumt vom Zarenreich, von der Sowjetunion, von einer Weltordnung, die gegen den – so gesehenen – dekadenten Westen zu errichten ist. Dafür müssen Nazis gefunden und eliminiert werden. Dafür müssen Menschen geopfert werden. Dafür gibt sich auch die russisch-orthodoxen Kirche her. Die russische Führung ist damit nicht einmal allein. An vielen Stellen blüht ein aggressiver Nationalismus auf. Völker müssen sich dann gegeneinander stellen, Menschen sich voneinander trennen. Wer darf noch zusammen spielen?
Dein König kommt in niedern Hüllen!
Das Evangelium deutet an, welche Hoffnungen die Menschen haben – und welche Hoffnungen in Enttäuschungen umschlagen werden. Welcher König kommt? Welcher König Israels?
Mein Reich ist nicht von dieser Welt
Der Evangelist Johannes, dem wir diese kleine Geschichte heute verdanken, hat die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem ziemlich gekürzt. Sie hat im Evangelium sogar eine neue Stelle bekommen. Umrahmt von der Auferweckung des Lazarus, der Salbung Jesu in Bethanien und der Fußwaschung der Jünger. Johannes hat zudem Dinge gesehen, die die anderen Evangelisten – Markus, Matthäus und Lukas – so nicht gesehen haben. Eine Beobachtung fällt besonders auf:
„Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.“
Die Menge bezeugt die Tat Jesu! Ich gebe zu, Sie haben es gemerkt, dass die Menge für mich eine unheilvolle Größe ist. Es gibt keine Gesichter zu sehen, keine Lebensgeschichten zu hören, keine Hoffnungen zu fühlen. In einer Menge geht alles unter. Nur das Schreien – vornehmer: die Jubelrufe – kommen rüber. Aber der Evangelist Johannes erzählt, ganz unerwartet, dass die Menschen – immerhin „die Menge, die bei Jesus war“ – Jesus bezeugen: Jesus hat seinen Freund Lazarus von den Toten auferweckt. Johannes hat die Geschichte ausführlich erzählt. Mit vielen Gesprächen. Und mit einer Spannung, die ihresgleichen sucht.
Jesus sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ In einer Welt, in der mit dem Tod sogar Geschäfte gemacht werden, bezeugen Menschen, dass sie mit Jesus den Weg in das Leben gehen, es mit Tod und Teufel aufnehmen und den Sieg erringen. Gegen den Augenschein, gegen die Vorurteile, gegen die Verzagtheit. Und: es ist eine Menge! Kein kleines Häufchen! Nicht der Rest, der gerade noch übrigbleibt!nDie Menge ruft jetzt „Hosianna“. Die Menge erwartet jetzt den, der da kommt im Namen des Herrn. Die Menge ruft den König Israels aus. Im Verhör sagt Jesus: „Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme!“ Eine weite Perspektive tut sich auf: eine Menge hört seine Stimme! Vielleicht haben Sie auch noch die Lesung im Ohr, die wir vorhin gehört haben. Der Prophet Jesaja hat dem Knecht Gottes ein Lied gesungen (Jes. 50,4-9):
„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?“
Wir haben jetzt einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt. Mit Befürchtungen, Enttäuschungen und Hoffnungen. So manches geht durcheinander. Läuft ineinander. Zerreißt eine Menge. Geben wir Friedrich Rückert noch einmal Gelegenheit, uns seine Schlussfolgerung zu schenken. Es ist ein Gebet, eine Fürbitte:
O laß dein Licht auf Erden siegen, die Macht der Finsternis erliegen und lösch der Zwietracht Glimmen aus, daß wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen in deines großen Vaters Haus.
Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.