“Es muss im Leben mehr als alles geben …”
Leiden und Tod, Ungerechtigkeit und Hass, Leistungsdruck und Scheitern bleiben bedrückende Lebenserfahrungen, aber sie behalten nicht das letzte Wort
Predigttext: Römer 8, (12-13) 14-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
12 So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem Fleisch leben.
13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.
14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.
17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.
Exegetische und homiletische Vorüberlegungen
Das Thema des 14. Sonntags nach Trinitatis erklingt im Wochenspruch Ps 103, 2. Die im eigenen Leben erfahrene Güte Gottes ermutigt zum Lob Gottes in der gelebten Gottesbeziehung und zur gelebten Dankbarkeit im Alltag der Welt. Diese Denkbewegung im Predigttext zu entdecken und nachzuvollziehen, verlangt gewisse theologische Klimmzüge. Sie erschließt sich jedoch, wenn man die paulinischen Gegensatzpaare „Leben nach dem Fleisch“ und „Leben durch den Geist“, sowie daraus folgernd „Gesetz und Gnade“, „Zuspruch und Anspruch“ mit menschlicher Lebenserfahrung füllt.
Für die mit Gottes Geist begabten Kinder enden christliche Hoffnung und Einsatz für das Leben nicht an den Grenzen der Wirklichkeit unserer Welt, sondern führen darüber hinaus. Leiden und Tod, Ungerechtigkeit und Hass, Leistungsdruck und Scheitern bleiben bedrückende Lebenserfahrungen. Aber sie behalten nicht das letzte Wort. Weil wir als Kinder Gottes zugleich Miterben Jesu Christi sind, wissen sie um die Liebe Gottes, die über den Tod hinaus reicht und leben aus der Hoffnung, die weiter reicht als die Faktizität des Faktischen.
In Nordrhein- Westfalen ist der 14. Sonntag nach Trinitatis der letzte Sonntag in den Sommerferien, in unserer Gemeinde zudem ein Taufgottesdienst. In der Gemeinde werden noch ganz gegenwärtig sein die schönen Erfahrungen aus dem Urlaub, aber auch die Ereignisse in der Weltpolitik. Das Erschrecken über die Attentate in Europa, in Deutschland und die politische Diskussion um die Innere Sicherheit bringen durchaus auch die Frage nach der eigenen Sicherheit zum Klingen. Verunsicherung, Bedrohtheit oder Angst lassen sich für viele nur schwer in Worte fassen, sind real und doch nicht konkret. Die Gäste aus der Partnergemeinde in den USA lenken den Blicke sehr konkret auf den Wahlkampf in Amerika, nicht das einzige Land, in dem die Mächtigen mehr Verunsicherung verbreiten als Sicherheit bieten. Neben diese von Vielen geteilten Lebenserfahrungen treten die ganz eigenen konkreten Hoffnungen und Befürchtungen: die der jungen Eltern, die ihre Kinder in diesem Gottesdienst taufen lassen, die der Liebenden, die vor ihrer „Sommer-Hochzeit“ stehen, die der Trauernden, die in Abschied zu hatten von einem vertrauten Menschen.
So sind beide von Paulus beschriebenen Existenzweisen – nach dem Fleisch wie durch den Geist – präsent, nicht als Gegensätze, sondern als Dimensionen des eigenen Lebens. Als Kindern Gottes und Miterben Christi versichert uns Paulus, dass es die Kraft der Hoffnung ist, die uns aus der Lähmung oder Starre der Angst aufbrechen und nächste Schritte wagen lässt.
Gebet nach der Predigt
Herr, segne uns, laß uns dir dankbar sein,
laß uns dich loben, solange wir leben,
und mit den Gaben,die du uns gegeben,
wollen wir tätig sein.
Herr, sende uns, laß uns dein Segen sein,
laß uns versuchen, zu helfen, zu heilen
und unser Leben wie das Brot zu teilen,
laß uns ein Segen sein.
(Lothar Zenetti – Zwischentext nach EG RWL 607)
Lieder
"Ich möcht‘, dass einer mit mir geht" (EG 209)
"In dir ist Freude" (EG 398)
"Herr, wir bitten: Komm und segne uns" (EG RWL 607, als Lied vor der Predigt
"Vertraut den neuen Wegen" (EG 395)
“Es muss im Leben mehr als alles geben” – dieser Ansicht ist die kleinen Hündin Jennie, von der Maurice Sendak in seinem Büchlein „Higgelti Piggelti Pop“ in anrührenden Geschichten und Bildern erzählt. Kurz entschlossen packt sie ihre 7 Hundesachen und verlässt ihr wohl versorgtes und wohl behütetes Hundeleben, in dem sie alles hat – und ihr trotzdem etwas fehlt: „Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben mehr als alles geben!“ erklärt sie der Topfpflanze, die mit ihr aus demselben Fenster schaut. Und ohne zu wissen, wie dieses „Mehr“ nun eigentlich aussehen könnte, zieht sie los, die kleine Hundedame – voller Hoffnung und voller Zuversicht, und erstaunlicherweise ohne große Furcht, was ihr da alles draußen in der fremden Welt oder einer ungewissen Zukunft begegnen könnte.
Es muss im Leben mehr als alles geben! Ein Satz voller Hoffnung und ohne große Furcht, der zum Aufbruch ermutigt, nicht nur die kleine Hundedame Jennie sondern auch viele von uns –
sei es in den Sommerferien, sei es mitten im Leben oder an den Rändern des Lebens. Trotz so mancher Reisewarnung, gegen jede Furcht vor überfüllten Flugplätzen oder Bahnhöfen oder die Sorge vor dem Besuch touristischer Anziehungspunkte,
haben wir uns nicht voller Sorge vergraben oder uns lähmen lassen von der Angst vor terroristischen Anschlägen oder anderer Gefährdungen durch Natur oder Verkehr. Mit dem Antritt der Reise – ganz in die Nähe oder über Kontinente hinweg – haben wir einen Schritt hinausgewagt aus den Alltäglichkeiten des Alltags, um frische Kraft zu schöpfen, Neues zu erleben und schließlich gestärkt, mit neuem Mut und neuen Anregungen den An- und Herausforderungen des Alltags zu begegnen.
Es muss im Leben mehr als alles geben! Mehr muss es geben als das, was uns Angst und Sorge bereitet. So habt Ihr das als Eltern unserer beiden Täuflinge erzählt. Dass wir in keiner heilen Welt leben, weder im Großen wie im Kleinen, blendet ihr nicht aus. Ihr versteht es eher als Herausforderung, der ihr – so wie Jesus uns im Taufbefehl ermutigt – ganz ohne Furcht so begegnen wollt, wie wir es gleich singen werden (EG 596, 2+3): “Kampf und Krieg zerreißt die Welt, einer drückt den andern nieder. Dabei zählen Macht und Geld, Klugheit und gesunde Glieder. Mut und Freiheit, das sind Gaben, die wir bitter nötig haben. Freunde wollen wir dir sein, sollst des Friedens Brücken bauen. Denke nicht, du stehst allein; kannst der Macht der Liebe trauen. Taufen dich in Jesu Namen. Er ist unsre Hoffnung. Amen.”
Auch die Brautpaare, die in der kommenden Woche getraut werden, setzen auf die Liebe und die Hoffnung, die sich weder durch Gewöhnung und Alltag, noch durch Gefährdungen und Krisen einschüchtern lässt, sondern bewusst auf den Segen Gottes vertraut, der in den Tiefen aufhilft und an den Rändern weiter führt, wo es mit menschlichem Wollen nicht weiter zu gehen scheint. Schließlich, es muss im Leben mehr als alles geben. Das ist die gewagte Hoffnung der Trauernden für ihre Verstorbenen und für sich selber, dass der Tod nicht das Ende ist. Neues und heiles Leben wird es geben für die Verstorbenen durch Jesus Christus, unseren Bruder bei Gott, der unser aller Vater ist: der Lebenden und der Toten. „Unsere Hoffnung kennt keine Grenzen, und deine Liebe reicht weiter, als wir es sehen können…“ haben wir am Grab traurig, aber auch zuversichtlich gebetet. Und es wurde spürbar, dass es da Gott und die anderen an unserer Seite gibt, eine Ahnung von dem Weg in ein veränderte Zukunft, ohne die Vergangenheit zu verlieren.
Es muss im Leben mehr als alles geben. Sogar noch mehr: Diese Hoffnung teilen wir nicht nur mit der kleinen Hündin Jennie, diese Hoffnung verbindet uns nicht nur miteinander, in dieser Hoffnung bestärken uns die Worte des Paulus in seinem Brief an die Römer, die wir als Predigttext gehört haben. Fremd mögen uns seine Begrifflichkeiten erscheinen, seine Rede vom Leben im Fleisch und vom Leben durch den Geist. Aber gesetzt den Fall, der Apostel selbst wäre heute in unserem Gottesdienst, er würde erleichtert Brief und Feder beiseitelegen und feststellen: Genau, wie Ihr es im Lied vor der Predigt gesungen habt – so ist es. Das meine ich: “Herr, wir bitten: komm und segne uns”.
Das Leben aus dem Fleisch – es ist und bleibt Teil unseres Lebens und Erlebens. Es lässt uns die Nacht der Welt erleben, jedes Leid und alle Traurigkeit. Dass wir schuldig werden, einander etwas schuldig bleiben – das gehört zu unserem Leben dazu, im Miteinander in der Ehe oder in der Familie genauso wie in unserem Umgang mit den Menschen aus den Krisengebieten in unserer Welt, die zuhause oder unter uns auf ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit hoffen. Auch der Streit wird – solange wir leben – zu unserem Zusammenleben dazugehören, die Unversöhnlichkeit, die Härte und sogar der Hass, wo Menschen einander mit Worten oder Waffen klein zu halten oder zu vernichten drohen. Schließlich das Leid der Welt, dem wir im eigenen Leben genauso begegnen wie in jeder Tagesschau.
All das ist schlimm. All dies ist wirklich und wahr. Nichts und niemand sollte diese Wirklichkeit ausblenden oder kleinreden. Schlimmer jedoch wäre es, würden wir dieser Wirklichkeit das letzte Wort lassen, würden wir resignieren und angesichts der Faktizität des Faktischen unsere Ratlosigkeit und unser Scheitern feststellen. Dann bliebe es im Leben vieler Menschen trostlos, dann wäre unsere Welt hoffnungslos verloren. Das aber ist nicht der Wille Gottes. Dazu hat er seinen Sohn Mensch werden lassen und in diese Welt geschickt, damit weder ihre Dunkelheiten noch der Tod das letzte Wort haben. Jeden Morgen wird ein neuer Tag anbrechen voller Licht und Leben. Deshalb hat Gott uns als seine Kinder seit unserer Taufe mit seinem Geist begabt. Als Gottes Söhne und Töchter sind wir dazu befähigt, diese Hoffnung auf Leben im Leben erfahrbar werden zu lassen: Freude in Traurigkeit und Leid, Vergebung von Schuld und Versagen; Annäherung in Konflikten und Versöhnung im Streit; Liebe und Verständnis gegen alle Abgrenzungen und jeden fanatischen Hass. Eine große Herausforderung – zu groß für uns?
“Hinterm Horizont geht’s weiter.” Nicht mehr und nicht weniger ist von uns verlangt, als dass wir die Hoffnung bezeugen und auch leben, die in uns angelegt ist, die Gottes Geist in uns lebendig hält und der uns antreibt – wie Paulus es formuliert. Weil wir – wie Jennie, wie Paulus – davon überzeugt sind, dass es im Leben mehr als alles geben muss, dass unsere Hoffnungen nicht an den Grenzen der Wirklichkeit enden oder gar scheitern, wagen wir die Aufbrüche – sei es in einen neuen Alltag nach dem Urlaub, sei es in einen neuen Lebensabschnitt als Eltern oder als Eheleute. Oder wir verleihen der getrosten und getrösteten Hoffnung Ausdruck, wenn wir uns ganz sicher sind, dass es auch hinter dem Horizont weiter geht – vielleicht erst langsam und nur mühsam, aber doch vertrauensvoll.
Für meine Generation ist dieses Lied von Udo Lindenberg untrennbar mit der Hoffnung auf den Fall der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland verbunden. Eine Hoffnung, die noch bis kurz vor der Wende als utopisch und unerfüllbar schien. Dass es die Beharrlichkeit von Kerzen und Gebeten sein würde, die schließlich zur Öffnung und zum Fall der Mauer führte, bedeutete eine Erfüllung der Hoffnung, die Ermöglichung der Unmöglichkeit, dass es hinter dem Horizont aus Beton tatsächlich weiter geht: eine beglückende Erfahrung und zugleich eine Herausforderung, ein Geschenk und zugleich Aufgabe. Auch ihm, Udo Lindenberg, würde der Apostel Paulus – wenn auch mit gerunzelter Stirn und einem Augenzwinkern – Recht geben: „Hinterm Horizont geht’s weiter – ein neuer Tag; Hinterm Horizont geht’s weiter – zusammen sind wir stark”. Allerdings nur dann, wenn er mit dessen Worten auch von dem singen dürfte, wovon er im Römerbrief schreibt: Zusammen sind wir stark – weil ich, das Menschenkind, mich in allem, was mich bewegen oder belasten mag, an Gott, meinen guten Vater wenden darf. Denn ich kann gewiss sein, dass er mir die Worte, den Mut und die Kraft gibt, dass sich meine Hoffnung auf einen neuen Tag – selbst hinterm Horizont – erfüllen wird.
Mich hat diese Predigt spontan begeistert. Zuerst erzählt die Pastorin anrührend von einer kleinen Hündin mit dem Motto: Es muss im Leben mehr als alles geben. Dann wendet die Predigerin diesen Spruch stimmig und aktuell auf unsere Urlaubszeit an. Auch bei der Taufe, bei der Hochzeit und Beerdigung und bei Paulus zeigt dieses Motto die christliche Hoffnung und Liebe, welche keine Grenzen kennt. Pastorin Janssens übergeht aber die Leiden, Streitigkeiten und Probleme unserer Zeit nicht, sondern ermutigt uns, dass sie um Gottes Willen nie das letzte Wort behalten. Eine weitere Steigerung ist dann am Schluss das wunderbare, tiefsinnige Lied von Udo Lindenberg. Ganz begeistert kann man nach dem Gottesdienst mit Taufen weiter hoffnungsfroh voran schreiten in den Alltag.