Wir kennen alle Familiengeschichten, wo es um unterschiedliche Auffassung der Generationen geht, aus eigenem Erleben oder aus Erzählungen von Verwandten, Freunden und Bekannten.
I
Ab einem bestimmten Alter der Kinder, so mit 12 oder 13 Jahren, werden Eltern immer schwieriger. Die Kinder – inzwischen fühlen sie sich als Jugendliche, wenn nicht schon als fast Erwachsene – fangen an, in Frage zu stellen, was Zuhause galt und gilt. Sie beginnen zu streiten, zu motzen oder einfach völlig unmotiviert zu bocken und zu schmollen.
Auf einmal ist es wichtiger, was der Freund oder die Freundin sagt. Es scheint, als wäre die Familie in Auflösung begriffen. Die Kinder sind unzufrieden, die Eltern nicht weniger, und für Außenstehende ist manches überhaupt nicht nachvollziehbar. Entwicklungspsychologisch nennt man diese Phase, in der die Eltern schwierig werden, Pubertät, und die Gruppe der Gleichgesinnten – »Peergroup« genannt – bekommt den Stellenwert der absoluten Autorität. Dort entscheidet sich, was gilt und was gut ist und eben auch das, was es nicht ist. Peers, das sind die Gleichrangigen. Eben nicht die Eltern, nicht die Familienmitglieder mit ihren Hierarchien und Mustern, die seit Jahren gelten und nicht mehr hinterfragt wurden. Ich selbst entscheide, wem ich mich zugehörig fühle und was unsere gemeinsame Basis ist, auf Grund der wir uns zusammenschließen.
Hören wir auf den Predigttext des heutigen Sonntags, er steht im Evangelium nach Markus (3,31-35):
Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. –
II
Wüssten wir es nicht besser, so würde die Reaktion von Jesus auf seine Familie als Originalzitat eines pubertierenden Jugendlichen durchgehen. Wer steht mir wirklich nahe? Wer sind meine Mutter und meine Brüder und Schwestern? Wer ist mir der Nächste? Na, die hier, die mir Gleiches tun, die mit mir auf dem Weg sind, die so denken und fühlen und handeln wie ich, das ist meine Familie.
Jesus stellt seine »Peergroup« über die Herkunftsfamilie. Die alten Verbindungen werden in Frage gestellt, die alten Beziehungen werden radikal aufs Spiel gesetzt. Wie ein Jugendlicher in der auch für ihn selbst nicht leichten Phase zwischen Kind und Erwachsensein, stellt Jesus radikal alles in Frage und schockt damit seine eigenen Blutsverwandten, wie auch alle, die diese Szene beobachten mussten.
Jesus schließt allerdings seine Familie aus der neuen Gottesfamilie keinesfalls aus. Seine Familie ist ihm nicht peinlich. Jesus bricht mit der gesellschaftlichen Erwartung, dass den Bedürfnissen der leiblichen Familie immer ein Vorrang einzuräumen ist. Er bricht aber nicht mit seiner Familie. Auch seine Familie kann und wird teil seiner Peergroup werden.
Als Markus sein Evangelium verfasste, dürften zum Beispiel der Herrenbruder Jakobus, der im Galaterbrief und in der Apostelgeschichte mehrfach erwähnt wird, wie auch Maria, die Mutter Jesu, bereits eine angesehene Stellung in der ersten christlichen Gemeinde gehabt haben. Doch nicht auf Grund von Blutverwandtschaft und dynastischem Denken, sondern die Verbindung besteht durch die aktive Nachfolge Christi, im Tun dessen, was Gott von uns will.
Jesus ist kein 12-jähriger Frühpubertierender mehr, der sich im Tempel still und heimlich absetzt und damit seine Eltern in Angst und Sorge versetzt hat. Er ist erwachsen geworden, hat die Pubertät durchlaufen. Er hat sich mit den Heiligen Schriften auseinandergesetzt. Er weiß um das 4. Gebot, das sagt: »Du sollst Vater und Mutter ehren!« Jesus eröffnet einen ganz neuen Horizont, der weit über die vertrauten und gewohnten familiären Bande hinausweist.
Vielleicht ist es eine historische Begebenheit, die, ob ihrer dramatischen Irritation überliefert wurde. Vielleicht ist es auch ein literarischer Kunstgriff des Evangelisten Markus, der mit dieser schroffen Gegenüberstellung von Herkunftsfamilie und denen, die Christus nachfolgen, herausarbeitet, was Jesus lebt und verkündigt. In der Nachfolge Christi geht es darum, den von ihm vorgelebten Willen Gottes zu tun.
III
Wenn wir zu Recht an dieser Stelle fragen: Was genau bedeutet denn Nachfolge, leben im Sinne und nach dem Willen Gottes? Dann haben wir unweigerlich die Evangeliums-Lesung und den Wochenspruch im Ohr. Es geht um meinen Nächsten, um einen von diesen, meinen geringsten Brüdern.
Ich finde die Geschichte vom barmherzigen Samariter hat eine beängstigende Aktualität. Jesus erteilt eine Absage an die Auffassung, dass der „Nächste“ in einfachen Begrifflichkeiten zu fassen ist. Die Eigenschaft des oder der „Nächsten“ wird eben nicht dadurch definiert, dass ein Mensch diese und jene Bedingungen erfüllt, demselben Volk angehört, dieselbe Sprache spricht oder denselben Glauben teilt. „Nächster“ wird man durch die Liebe. Und die Beziehung der Liebe braucht hat zwei Richtungen: Von Gott kommend und durch den Menschen weiterreichend. Übertragen heißt das: „Der Nächste ist der Mensch, der voller Liebe und mit Barmherzigkeit das Nötige tut und der oder die, der Hilfe braucht und sich das Liebeswerk annehmend gefallen lässt“.
Was muss ich, was müssen wir tun, damit wir das ewige Leben ererben? Wer ist mein Nächster? Wer ist der Nächste dem, der unter die Räuber gefallen ist? Spannende theologische Fragen. Jesus antwortet nicht mit theologischen Begriffen, bleibt nicht bei zutreffenden Zitaten stehen, er erzählt eine Geschichte. Er erklärt in einfachen und verständlichen Worten, was später der Apostel Paulus in Gal 3,28 theologisch fundamentiert: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Nicht meine Herkunft ist entscheiden, sondern Diejenigen erfüllen den göttlichen Willen, die als neu konstituierte „Familie Gottes“ auf die Worte Jesu hören und diese zum Maßstab ihres Lebens und Handelns machen. Was heißt das ganz aktuell für uns im Jahr 2025? Was haben wir für Nächste, wo können wir etwas tun? Wir müssen oft gar nicht so weit schauen, sondern nur richtig schauen, mit offen Augen und offenem Herzen, wo ist jemand der unsere Hilfe braucht, der unser Zuhören braucht?
Lassen Sie uns gemeinsam darauf achten, den Nächsten zu sehen und wahrzunehmen, nicht an ihm oder ihr vorbeizulaufen mit Ausreden wie „Wir sind nicht zu ständig oder der ist doch selbst schuld oder ich kann ja doch nichts machen“. Nein, lassen Sie uns wachsam sein füreinander und miteinander. Lassen Sie uns aufeinander zugehen und miteinander reden und füreinander da sein. Erich Kästner fasst es zusammen, indem er sagt: “Es gibt nichts Gutes außer man tut es!“ Wahrlich so ist es! Amen