Um diese Worte richtig zu verstehen, müssen wir uns in die Zeit des Paulus zurückversetzen. Der christliche Glaube fand bei den Menschen enormen Zuspruch. Das lag vor allem an der Art, wie Paulus das Evangelium verkündigte. So war seine Strategie: Er ging meist in die großen Städte, um einen möglichst großen Hörerkreis zu erreichen. Zuerst suchte er die Synagogen auf, die Versammlungsräume der Juden. Er war ja selber Jude und hatte das Recht, dort zu sprechen. Dabei nutzte er die Gelegenheit, seine Botschaft von Jesus zu verkünden.
Aus der Apostelgeschichte und den Briefen erfahren wir, dass der Apostel auf viel Ablehnung stieß, aber sich auch über Erfolge freuen durfte. Ein besonders schönes Erlebnis hatte er, als er eine Gruppe jüdischer Frauen traf, die an einem Fluss Gottesdienst feierten. Er gesellte sich zu ihnen und konnte sie für seine Botschaft interessieren und gewinnen. Der Name einer dieser Frauen ist uns überliefert: Lydia, eine wohlhabende Frau, die ihr Geld im Purpurhandel verdiente. In ihr fand er eine tatkräftige Förderin. Von Anfang an hat Paulus darauf hingewirkt, dass die Menschen, die Christen wurden, ihren Glauben in einer Gemeinschaft, in einer Gemeinde lebten. Es war wichtig, dass sie sich regelmäßig trafen, um das Evangelium zu hören, die darin enthaltene Botschaft zu vertiefen und im täglichen Leben anzuwenden.
Aber Paulus begnügte sich nicht damit, Juden für den christlichen Glauben zu gewinnen und mit ihnen judenchristliche Gemeinden aufzubauen. Er wollte mehr. Er wollte diesen Auftrag, den Jesus beim Abschied von dieser Welt seinen Jüngern gegeben hatte, in die Tat umsetzen. Jesus hatte gesagt: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker, und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Paulus fühlte sich zu Recht dazu berufen, als Apostel, als Gesandter seines Herrn, diesen Auftrag auszuführen. So ging er denn hin in „alle Welt“ und predigte „allen Völkern“, jedenfalls soweit das in seinen Kräften stand. Es ist interessant, in der Apostelgeschichte nachzulesen, wie er das gemacht hat. Ein Beispiel dafür ist besonders eindrucksvoll.
In Athen predigte Paulus jeden Tag auf dem Marktplatz und diskutierte mit seinen Zuhörern. Da gab es nicht nur Zustimmung, ganz im Gegenteil. Aber einige wurden von seiner Botschaft doch innerlich berührt und schlossen sich ihm an. Immer wieder hat Paulus die Öffentlichkeit gesucht, um für seinen Herrn zu werben, und immer wieder kamen Menschen zum Glauben und gründeten Gemeinden. Das waren nun keine Juden. Im biblischen Sprachgebrauch werden die Nichtjuden „Heiden“ genannt. Wenn sie Christen wurden, wurden sie als „Heidenchristen“ bezeichnet. Auch sie gründeten Gemeinden, „heidenchristliche“ Gemeinden.
In unserem Predigttext spricht der Apostel eine menschliche Eigenschaft an, die uns allen vertraut ist. Die Vorbehalte gegenüber dem Fremden. Den judenchristlichen Gemeinden fiel es schwer, die heidenchristlichen Geschwister als im Glauben gleichwertig zu akzeptieren. Das waren für sie „Fremde“. Die Heidenchristen fühlten sich abgelehnt, als die „Fernen“, die „Dazugekommenen“. Sie fühlten sich schlecht behandelt. Aber Paulus stärkt ihnen den Rücken. „Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ Das ist eine ganz wichtige Feststellung: Christen gehören aufgrund ihres gemeinsamen Glaubens zusammen, ganz gleich welchem Volk, welcher Rasse oder sozialen Schicht sie entstammen. Darum tragen sie auch füreinander eine besondere Verantwortung. Das hebt der Apostel in Gal. 6,10 hervor: „Lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen”. Das sollten wir gerade in der jetzigen Situation, in der Christen die am meisten drangsalierten und verfolgten Menschen sind, nicht aus den Augen verlieren.
Was verbindet denn Christen über alle Grenzen hinweg? Paulus beschreibt es mit klaren, eindrücklichen Worten: Es ist Jesus Christus. Er ist der Eckstein dieser Gemeinschaft. Er bildet das Fundament, auf dem alles andere aufgebaut ist. Apostel und Propheten sind wichtige Säulen, zu ihnen gehört ja Paulus selbst. Aber ohne das feste Fundament, das Jesus Christus bildet, würde eines Tages der ganze Bau zusammenbrechen. Gottes Plan besteht darin, dass die christliche Gemeinschaft an dem Bau eines heiligen Tempels mitwirkt. Jeder Christ ist sozusagen ein Baustein für dieses göttliche Vorhaben. Da hat Paulus ein schönes Bild gewählt. Mit einem Tempel verbindet sich für den Menschen des Altertums die Vorstellung der besonderen Gegenwart Gottes. Dieses Bild lässt sich wunderbar ausmalen: Der Grundstein ist Christus, die Säulen Apostel und Propheten, die Christen die Steine, Architekt ist Gott selber und der heilige Geist der Baumeister.
Im 1. Korintherbrief (12,12-26) gebraucht Paulus für die Gemeinde ein anderes Bild, das ebenso einleuchtend und eindrucksvoll ist. Die Gemeinde wird mit dem menschlichen Leib verglichen, bei dem Christus das Haupt und die Christen die Glieder sind. Im Lied besingen wir dieses Bild: „…Er das Haupt, wir seine Glieder, er das Licht und wir der Schein; er der Meister, wir die Brüder, er ist unser, wir sind Sein”. In diesem Haus weht ein guter Geist. Unter Christen darf es auch so sein. Hier herrschen Friede, Freundlichkeit, Sanftmut, Geduld. Hier gibt es Verständnis füreinander. Da ist man bereit, über manche Fehler, die wir Menschen machen, hinwegzusehen, ja sogar erlittenes Unrecht zu vergeben. Da wird Toleranz gelebt:
„Einer trage des anderen Last“ ermahnt Paulus. Wie schön, wenn Gott uns seinen Frieden schenkt und sein Geist unser Leben bestimmt. Welche Wohltat ist es für unsere Umgebung, wenn sie uns als friedfertige Menschen erleben. Welch ein Trost ist es, wenn dieser Friede unser oft so verzagtes Herz erfüllt und uns gelassen und zuversichtlich unseren Weg gehen lässt. Paulus hat uns diesen Gedanken in einem schönen Segenswort hinterlassen (Phil. 4,7): „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus”.