Biblische Forderungen
Unser Glaube verlangt uns ja schon manches ab! Mal von Glaubensinhalten ganz abgesehen, bei denen uns nicht selten Zweifel und ungeklärten Fragen quälen, mal von der Gebetserhörung abgesehen, die uns angesichts so vieler unerfüllter Wünsche und Bitten hin und wieder höchst zweifelhaft erscheint, einmal von alledem abgesehen, gehen die ethischen Forderungen unseres Glaubens – gerade die, die uns die Bergpredigt – auferlegt, oft weit über unser Vermögen hinaus.
Allein die Seligpreisungen verlangen von uns, geistlich arm zu sein, Leid klaglos zu tragen, sanftmütig zu bleiben, nach der Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten und zugleich immer barmherzig zu bleiben. Frieden sollen wir stiften mit reinem Herzen und uns es auch noch gefallen lassen, uns um der Gerechtigkeit willen verfolgen und schmähen zu lassen. Wer bitte schön, schafft es allen Ernstes, diesem Idealbild eines glücklich gepriesenen Christen zu entsprechen? Wir sind doch keine Heiligen! Und nun auch noch das: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen. Ein Gebot, das die Seligpreisungen noch überbietet. Wir sollen nicht nur den Mitmenschen lieben, sondern ganz besonders auch unsere Feinde. Sind wir damit nicht heillos überfordert?
Lassen Sie uns ehrlich sein: Wenn wir über unser Leben nachdenken, erstehen vor dem inneren Auge eines jeden und einer jeden von uns Menschen, die wir nicht leiden können. Entweder sind sie uns feindlich gesinnt – oder wir ihnen. Menschen, mit denen wir nicht mehr reden. Menschen, bei deren Anblick wir die Straßenseite wechseln. Menschen, bei denen wir den Telefonhörer lieber liegen lassen, wenn deren Telefonnummer angezeigt wird. Durch einen unseligen Konflikt ist der Kontakt abgerissen. Ein Erbschaftsstreit hat Familien entzweit. Sie haben uns irgendwann einmal verletzt oder belogen – oder sie gehen uns schlichtweg auf die Nerven. Da müssen wir nicht gleich von Hass reden. Eher vielleicht von Groll oder Abneigung. Ganz sicher aber nicht von Liebe. Muss ich ausgerechnet diese Menschen lieben?
Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen. – Dieser Satz aus der Bergpredigt empfinden wir als eine ganz besondere Zumutung. Wie soll das gehen? Soll ich alle Verletzungen runterschlucken? Soll ich mir wirklich jede Schmach gefallen lassen? Ist es nicht besser, wenn ich zu solchen Menschen auf Distanz gehe, um weitere Verletzungen zu vermeiden? Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen. Wie kann unser Glaube so etwas von uns fordern? Da muss einer schon ordentlich Überzeugungsarbeit leisten, um mich dazu zu bringen, die zu lieben, denen ich grolle. Genau das versucht die Bibel. An mehreren Stellen versucht sie, Überzeugungsarbeit zu leisten für die Feindesliebe. Darauf wollen wir heute einmal unser Augenmerk richten.
Feindesliebe
Das hören wir im Sprüchebuch des Alten Testaments in Kapitel 25: Da heißt es: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem… Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herrn! Vielmehr wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln (Spr 25,21f).“
Zunächst einmal klingt das nach einer besonders perfiden Art der Rache. Wenn Dich einer geärgert hat, dann sei besonders nett zu ihm. Damit wirst Du ihn beschämen, und er wird sich vielleicht eingestehen müssen, dass er falsch gehandelt hat. Und diese Scham brennt dann auf seinem Kopf wie glühende Kohlen. Aber so ist das hier gar nicht gemeint! Es würde ja auch gar nicht zum ersten Satz dieses Perikope passen, wenn wir Böses nicht mit Bösen, sondern mit Gutem überwinden sollen.
Das Bild von den glühenden Kohlen soll etwas anderes bedeuten: Wenn früher eine Feuerstelle kalt geworden ist, häufte man neues brennbares Material auf. Man bildet gewissermaßen eine „Krone“ von Kohlen darauf. So können auch gute Taten das Herz eines Feindes erwärmen, das eiskalt war, und durch Liebe zum Glühen bringen. Oder wenn in einer Schmiede das Feuer erloschen ist, dann kann das Aufhäufen glühender Kohlen die Temperatur wieder erhöhen, so dass das Metall wieder glüht. Genauso kann auch unbeirrbare Liebe gegenüber einem Feind dessen harte Haltung aufweichen und ihn dahin bringen, seinen Weg als falsch zu erkennen. In beiden Fällen überwinden „feurige Kohlen“ etwas Böses mit Gutem.
Lerne zu vergeben
Wir kennen das Gespräch Jesu mit Petrus aus dem Matthäusevangelium im 18. Kapitel. Petrus war vermutlich ganz stolz auf sich selbst, dass er es schon hinbekommen hat, seinem Bruder siebenmal hintereinander zu verzeihen. Und möglichweise mit der Hoffnung auf ein dickes Lob fragt er Jesus: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal? Jesu Antwort kennen wir – und sie ist ernüchternd: Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal – also letztlich unendlich oft! Aber warum? Was hätte ich für einen Grund, immer und immer wieder zu vergeben, ohne dass der andere sich auch nur einen Deut bessert? Die Antwort finden wir im Gleichnis vom Schalksknecht, das direkt im Anschluss an das Gespräch Jesu mit Petrus erzählt wird.
Gott vergibt
Das Gleichnis an sich überzeugt uns natürlich! Dem Knecht wird seine ganze große Schuld erlassen – eine Schuld, die so hoch war, dass der Herr sogar dessen Frauen und Kinder hätte verkaufen müssen, um seine Schulden einzutreiben. Der Herr verzichtet auf die Riesensumme allein deshalb, weil der Knecht ihn auf Knien um Vergebung angefleht hat. Und nun geht ausgerechnet dieser so reich beschenkte Knecht seinem Kollegen an den Kragen – wegen einem Bruchteil seiner eigenen Schuld. [Nota bene: Mitarbeiter der „Arche Wesel“ haben sich einmal die Mühe gemacht, auszurechnen, was die beiden Schuldenbeträge in unserer heutigen Währung wert sind: Die Schuld des Knechtes gegenüber seinem Herrn betrug zehntausend Zentner Silber = 7,3 Mrd. Lepta = 3,8 Milliarden Euro. Die Schuld des Mitknechtes betrug dagegen 100 Denare = 12.800 Lepta = 6.400 Euro.] Wir empfinden es durchaus gerecht, dass der Herr nun sein Gnadengeschenk wieder zurücknimmt und seinerseits kein Erbarmen mehr zeigt.
Natürlich überzeugt uns das. „Recht hat er, der Herr!“, so empfinden wir und lehnen uns zurück, zufrieden mit dem Ausgang dieser Geschichte. Wenn es dann daran geht, dieses Gleichnis auf unser eigenes Leben zu übertragen, da tun wir uns schwer. Ist es wirklich so, dass Gott mir in meinem Leben schon so viel, so unendlich viel vergeben hat wie die legendäre Schuldenlast des Knechtes? Das kann doch gar nicht sein!
Es lohnt sich wirklich, unter diesem Aspekt mit aller Ernsthaftigkeit das eigene Leben zu bedenken. Wir dürfen zugeben: So manches ist gut gelaufen und war von Erfolg gekrönt. Aber da ist manches – wenn nicht sogar vieles –, das nicht in Ordnung war. Wir brauchen uns nur die zehn Gebote wie einen Spiegel vorhalten. Was sehen wir, wenn wir ehrlich sind und genau hinsehen? Sehen wir wirklich einen Menschen, der nie etwas anderes Irdisches über Gottes Liebe gestellt hat, der Gottes Namen stets in Ehren gehalten und den Sonntag nie zum Abarbeiten von Liegengebliebenen benutzt hat? Sehen wir einen Menschen, der niemals neidisch war, niemals gestohlen, getötet oder die Wahrheit verbogen hat? Wir sehen ihn nicht. Ich auch nicht. Selbst wenn’s weh tut: Wir haben sieben mal siebzig Mal Vergebung empfangen. Und für unseren Bruder oder unsere Schwester sollte es mit nur siebenmal genug sein. Der vierte Versuch, uns von dem unbedingten Wert der Feindesliebe zu überzeugen, steht sogar in unserem heutigen Predigttext:
Gott ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen
Vertrauter ist uns die Formulierung aus dem Matthäusevangelium – übrigens auch in der Bergpredigt! Da heißt es: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Auch wenn es uns bitter schwer fällt: Wir haben kein Recht, über andere zu urteilen, anderen die Schuldvergebung zu verweigern oder gar selbst zur Strafe zu greifen. Es ist die Sache Gottes – allein seine Sache –, über die Welt und über die Menschen zu richten. Und da ist es gut, wenn wir selbst in unserem Leben Barmherzigkeit geübt haben und – ja, auch wenn es schwer fällt – dem Gegner freundlich begegnet sind.
Es wird immer wieder Menschen geben, die uns verletzen. Es wird immer wieder Menschen geben, die uns unsympathisch sind oder die uns mit ihrer Lebenseinstellung, ihrer politischen Überzeugung oder ihrem Lebenswandel gehörig gegen den Strich gehen. Es wird uns auch nicht immer gelingen, ruhig und gelassen zu bleiben. Dazu sind wir zu sehr menschliche Wesen. Was wir aber versuchen können, ist: Durch Menschenfreundlichkeit und Liebe auch in denen Menschenfreundlichkeit zu wecken, die uns feindlich gesinnt sind,
Darauf vertrauen, dass wir, wenn wir Barmherzigkeit verschenken, auch Barmherzigkeit empfangen werden. Und darauf vertrauen, dass Gott gerecht ist und sich als solcher erweisen wird am Ende unserer Tage. Heilige müssen wir nicht werden. Wir können das auch nicht. Aber wir können uns dieses Wort Jesu immer wieder neu zu Herzen nehmen: „Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen“.