Frei zur Gestaltung des eigenen Lebens
Gegen die Überregulierung des Lebens
Predigttext: Hebräer 13,8-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die damit umgehen.
Manchmal hilft es zu singen, zu spielen und zu musizieren, um einem Bibelwort wie diesem zu Gehör und Nachklang zu verhelfen. Wollte man über diesen beiden Sätzen aus dem Hebräerbrief ein Musikstück komponieren, dann würde ich daraus eine Fantasie des Glaubens für großes Orchester machen: hohe und tiefe Streichinstrumente, Holz- und Blechbläser doppelt besetzt, dazu Celesta, Klavier, mindestens fünf Schlagzeuger. Ich würde mit dem gesamten Orchester einsetzen, ohne Auftakt und Vorspiel, nicht zu laut und nicht verwirrend. Lange getragene Akkorde, die alle Instrumentengruppen nacheinander aufnehmen. Sie verstärken sich gegenseitig. Kein harmonischer, eher ein umfassender Klang, der aber nicht schräg oder verstörend wirkt. Ein musikalisches Schiff, das schwerfällig und behutsam vom Kai ablegt. Die getragenen Akkorde würden langsam an- und wieder abschwellen, am Anfang ohne einen richtigen Rhythmus. Die Musik wirkt als ob sie still steht. Der letzte Akkord am Ende des ersten Teils wird am längsten ausgehalten. Es folgt eine Pause des gesamten Orchesters. Musiker und Zuhörer halten den Atem an.
Dann setzt als erstes die Piccoloflöte ein und spielt eine kleine Melodie, die mehrfach wiederholt wird. Als zweites Instrument kommt die Oboe hinzu und spielt eine zweite Melodie, die nicht mit der ersten Melodie verwandt ist. Andere Instrumente kommen dazu und spielen ebenfalls ganz eigenständige Melodien. Die Zuhörer haben den Eindruck, es handele sich um eine Fuge, um das Spiel mit einem einzigen Thema, das in verschiedenen Stimmen wiederholt und durchgearbeitet wird. Aber sehr schnell wird ihnen klar, dass sie dem Mit- und Gegeneinander der gegensätzlichen Melodien nicht mehr folgen können. Irgendwann wird die Musik so laut, dass die Zuhörer weder Melodien noch Instrumente unterscheiden können. Das Tempo beschleunigt sich. Mehrfach schwillt die Lautstärke an und wieder ab. Die Zuhörer kommen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Sie haben den Eindruck, als würden sie in einen Lärmteppich eingewickelt. Gegen Ende des Stückes nehmen sie so etwas wie ein Echo der Anfangsakkorde wahr, ein erstes Echo bei den tiefen Streichern, ein zweites bei den Holzbläsern. Dann bricht die Musik unvermittelt ab. Es ist als ob sie keinen richtigen Schluss gefunden hätte. Und wenn ich als Komponist am Ende meiner Arbeit dem Stück einen Titel geben müsste, ich würde es “Bruchstück über Ewigkeit und Unruhe” nennen. Bruchstück – weil weder die Bibel noch ein Musikstück ein Leben in einem Ganzen zusammenfassen können. Ewigkeit – weil der Autor des Hebräerbriefes etwas Gültiges über das Dauernde, Nachhaltige, Bleibende im Leben sagen will. Unruhe – weil auf die Menschen von überallher so viele verschiedene Stimmen, Parolen, Verlockungen und Schlagworte einströmen. Über den sozialen, politischen, unterhaltenden und frommen Schlagworten drohen sie die Orientierung zu verlieren.
Das Musikstück wird nicht geschrieben werden, denn ich bin kein Komponist. Aber die Vorstellung hilft mir dabei, die Passage aus dem Hebräerbrief nicht nur als Sammlung von Weisheiten und Argumenten zu nehmen, sondern Stimmungen und Gefühle nachzuempfinden, die zwischen den Worten mitschwingen. Ich sehe und höre zweierlei: Nachhaltigkeit und Unruhe, feste Dauer und nervöses Bilderflimmern, Konstanz und Vorüberziehendes, Flüchtiges. Am Jahresende, zu Silvester, stellt sich die Frage nach dem Bleibenden, Dauerhaften, Nachhaltigen. Diejenigen, die nach Sinn für ihr Leben suchen, wissen um die vielen Angebote, die sich widersprechen. Es geht ja nicht nur um Speisevorschriften, obwohl die Einhaltung von Diätregeln nach den Feiertagen bei manchem jetzt angeraten wäre. Aber es ist ja nicht nur die Diät.
So viele Gruppen, Institutionen und Firmen geben ungefragt Antwort auf die Frage, woran sich ein Mensch orientieren soll. Sie bieten ihm ein Geländer, an dem entlang er sich durch das Leben hangeln kann. Ich bin manchmal froh, wenn es sich nur um Speisegebote handelt, denn das meiste davon lässt sich schnell als harmlos entlarven. Manche dieser ungefragten Ratgeber legen die Sinn suchenden Menschen auch einfach an eine Kette. Denn wer festgebunden ist an eine Weltanschauung, Religion oder politische Einstellung, der mauert sich ein in die engen Grenzen seines Weltbildes. Weite, Vielfalt und Buntheit gehen verloren. Wer sich in eine Weltanschauung einigelt, kann den Horizont nicht mehr sehen. Ratschläge über den Sinn des Lebens können sehr attraktiv sein. Denn sie vereinfachen das Leben, weil sie in der Regel simple Unterscheidungen zwischen Gut und Böse einführen. Wenn es um Ernährung geht, mag einem das noch einleuchten: Gemüse ja, Vollkornbrot ja, Nudeln ja, Schokolade nein, Pommes Frites nein, Hamburger nein. Genauso gibt es ja nicht in Frage gestellte Speise- und Ernährungsregeln für Freiheit, Weltanschauung und die grundlegenden Werte und Überzeugungen des Lebens. Aber diese verfehlen regelmäßig die Zustände der Welt und die Einstellungen des Lebens, weil beides viel komplizierter und komplexer ist als diese billige und bescheidene Ratschlagskultur uns weismachen will.
An Silvester und Neujahr, den gefährlichsten Tagen für gute Vorsätze, kann man es nicht laut und deutlich genug sagen: Die meisten Ratschläge, die fremd- und die selbstbestimmten, helfen uns nicht weiter. Sie sind zu einfach gestrickt. Das Leben ist keine Treppe mit einem festen Geländer, das uns sicher und unbeschwert immer weiter nach oben führen würde. Es spielt keine Rolle, ob es sich um Speisegebote, Sinngebote oder Lebensgebote handelt. Jedes dieser Geländer findet an einer bestimmten Stelle, immer genau an der letzten Treppenstufe, sein Ende. Dahinter tut sich der Abgrund auf. Ein Geländer suggeriert uns Sicherheit, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass zweifelnde und unsichere Menschen auf einem Weg gehen, den sie nicht bis zum Horizont überblicken. Manchmal ist es dunkel. Niemand kennt die Richtung, in der es weiter vorangeht. In solchen Situationen ist guter Rat teuer. Und jeder greift dankbar nach der Hand, die sich ihm ungefragt entgegenstreckt. Das wiederholt sich in jedem Jahr unzählige Male, und genauso oft scheitert dieser Versuch auch. Trotzdem versuchen es viele Sinn suchende Menschen immer wieder, einfach weil sie nichts Besseres wissen. Bei der Diät, welche auf Ernährung zielt, führt das zum berüchtigten Jojo-Effekt. Und das gilt leider auch für alle Diäten, die auf Orientierung und Sinn zielen: Irgendwann gerät jeder noch tiefer in den Schlamassel, den er sich selbst geschaffen hat.
Wer sich orientieren will und sich dabei an die Gebote anderer hält, der kommt irgendwann vom Weg ab. So viel zu allen guten Vorsätzen im Neuen Jahr. Aber noch ist es nicht zu spät. Der Verzicht auf Regeln und gute Vorsätze macht Angst. Denn wer die lieb gewonnenen Regeln stets als Krücken benutzt hat, der weiß vielleicht gar nicht, dass er sich ohne Schwierigkeiten auch ohne die Krücken der Vorsätze bewegen kann. Das wäre ein guter Vorsatz für das neue Jahr – keine Vorsätze zu haben. Der Autor des Hebräerbriefes schreibt an gegen die Überregulierung des Lebens, gegen die Zwangsjacke der Vorschriften und die Würgemale gut gemeinten Rates. Vorsätze aufgeben – diese kleine Veränderung würde dem zweiten, ganz unübersichtlichen Teil des Musikstückes seine verwirrende Kraft nehmen. Freiheit ist musikalisch vielleicht zunächst einmal so etwas wie Stille – und dann die Fähigkeit, sich eine eigene Lebensmelodie zu singen. Stille kann Angst machen und täuschen. Sie kann einen Menschen sogar dem Wahnsinn nahebringen, wenn er lange nicht mehr die vertrauten Geräusche des Lebens hört.
Der christliche Glaube mutet dem Menschen drei Schritte des Vertrauens zu. Im ersten Schritt, darüber haben wir gerade nachgedacht, erkennt er die Nutzlosigkeit aller Geländer und Krücken und sonstiger Hilfsmittel für das Leben. Er zieht daraus die Konsequenz, alle diese Krücken wegzuwerfen, die angebotenen Geländer nicht mehr zu benutzen und endlich ein Leben ohne fremde Hilfsmittel zu führen. Ein Leben im aufrechten Gang. Im zweiten Schritt erkennt der christliche Glaube die unglaubliche Freiheit, die Gott den Menschen zumutet und schenkt. Diese Freiheit ist eine Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens, mit Konzentration und Bildung, mit Energie und Nachhaltigkeit, mit Liebe und Hoffnung. Diese Freiheit kann der Glaube gebrauchen, weil er sich in Jesus Christus gegründet weiß. Der Hebräerbrief sagt: “Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“. Wie die Naturwissenschaft physikalische Konstanten kennt, die sich unter keinen Umständen verändern lassen, so ist das die Konstante des christlichen Glaubens. Jesus Christus jetzt und in Ewigkeit. Der Mensch stellt sich nicht selbst auf seinen eigenen Sockel. Wenn er das täte, er hätte seine Freiheit missverstanden. Auf dem Sockel, beim Fundament steht das Kind aus der Krippe, der Heiler und Prediger aus Galiläa, der Wundertäter und schließlich der Gekreuzigte und Auferstandene. Im erfundenen Musikstück über diese Bibelstelle waren das die lang anhaltenden Akkorde des Anfangs, unbeirrbare Musik, scheinbar ohne Anfang und Ende. Jesus Christus in Ewigkeit – das ist ein Satz wie ein Glockenturm, wie die Aufschrift auf einem Gipfelkreuz. Dieser Satz umfasst die erste und einzige Wahrheit des christlichen Glaubens. Er muss in Bronze gegossen und in Stein gemeißelt werden, denn er reicht durch das Leben hindurch und über den Tod hinaus.
Jesus Christus ist die entscheidende Wegmarke im Verhältnis der Menschen zu Gott. Was in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, ist ein für allemal geschehen. Dahinter gibt es kein Zurück mehr. Gott hat die Menschen in Gnade und Barmherzigkeit angenommen. Er hat in der Auferstehung den Tod überwunden und neues Leben geschaffen. Darum, und nur darum dürfen Glaubende darauf vertrauen, dass sie in Gnade bei Gott angenommen sind. Mit guten Vorsätzen und dem frommen Leistungsprinzip kommen sie nicht weiter. Beides ist nach Jesus Christus überflüssig geworden, was das Verhältnis des Menschen zu Gott betrifft. Das Kreuz bleibt. Die Auferstehung bleibt. Die Gnade Gottes ist in diesem Menschen aus Nazareth wahrnehmbare Gestalt geworden. Das kann keine Sünde, keine Katastrophe und kein Zweifel dem glaubenden Menschen wieder wegnehmen.
Der katholische Orden der Kartäuser hat sich ein Motto gewählt, was in die Richtung dieses Ewigkeitsworts aus dem Hebräerbrief weist. Auf lateinisch heißt es: “Stat crux dum volvitur orbis.” Auf deutsch: “Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht.” Im Hebräerbrief: “Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit”. Es kommt nicht auf die Gemeinde oder auf den einzelnen Glauben an. Die Gemeinde und der Glaubende sind Gefährdungen ausgesetzt, die Gemeinde durch Konflikte, der Glaubende durch Zweifel. Das entscheidende ist nicht die religiöse Leistung des frommen einzelnen oder der Gemeinschaft. Entscheidend ist, was hinter dem Glaubenden und hinter der Gemeinde liegt: Jesus Christus ist gestorben und auferstanden. Dahinter kann kein Glaubender und keine Gemeinde mehr zurück.
Silvester ist ein Übergang. Übergänge können Zweifel verstärken und einem Menschen, ob er glaubt oder nicht, Sorgen bereiten. Man kann diese Sorgen mit Bleigießen oder großem Feuerwerk überspielen. Aber das, was die Freiheit des Glaubens am besten zur Geltung bringt, ist die Erinnerung an diese Gnade und Barmherzigkeit, die damals im Sterben und im neuen Leben des Jesus von Nazareth Gestalt gewonnen hat. Das alte Jahr stand unter diesem Vorzeichen. Das neue Jahr wird unter diesem Vorzeichen stehen. Alles andere mag wackeln, in Frage stehen, dem Kreislauf von Werden und Vergehen unterworfen sein. Freiheit und die Gnade der Vergebung kann niemand den glaubenden Menschen wieder nehmen. Wer das verstanden hat, der geht in Zuversicht und Freude in die Nacht von Silvester und in das neue Jahr hinein. Wer diese Melodie und diesen anhaltenden Akkord gehört hat, den wird keine Dissonanz und keine Stille mehr in Verwirrung bringen.