Die Vorschatten
Was bisher nur seine trüben Schatten vorausgeworfen hat, manifestiert sich. Es wird finster. Immer stärker sind die Anfeindungen gegen Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem geworden. Immer deutlicher hat er seinen Begleiterinnen und Begleitern sagen können, welches Schicksal vor ihm liegt. Immer mehr sind Anspannung und Unruhe im Jüngerkreis gewachsen. Die Bibelstelle für die Predigt trägt uns heute gut zweieinhalb Wochen voraus, an den späten Abend des Gründonnerstags. Jesus wird verhaftet, sein Kreuzweg beginnt. Schon am nächsten Morgen wird er vor Pilatus stehen und das Todesurteil empfangen.
Nacherzählung
Jesus hat mit seinen engsten Freunden das Passahmahl gefeiert. Dann sind sie aus der Stadt hinaus zum Ölberg gegangen. Sie wollen den späten Abend, vielleicht auch die Nacht, in der Kühle des Gartens verbringen. Auf dem Weg hat Jesus noch einmal ernst mit ihnen gesprochen. Nun schlafen sie, die ihn begleiten, schnell ein. Jesus geht weiter in den Garten hinein. Er will allein sein. Die Evangelisten wissen, dass er betet und im Gebet mit seinem Schicksal ringt.
Als der innere Kampf zu Ende ist, beginnt das Äußere. Mit Fackeln nähern sich welche durch die Nacht dem Garten. Judas geht ihnen voran. Am selben Tag erst ist er sich mit den Feinden Jesu einig geworden. Die Schatten machen auch vor dem engsten Kreis der Vertrauten nicht Halt. Es ist einer von den Zwölfen, der zum Verräter wird.
Mit einer Umarmung, einem Kuss geht Judas auf Jesus zu, wie ein Schüler den Meister begrüßt. Es ist ein Zeichen der Ehrerbietung und steht hier so deutlich im Kontrast zu der Absicht, in der Judas kommt. Jesus spricht das aus: „Verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“
Da begreifen alle, was die Stunde geschlagen hat. Die Dunkelheit ist da. Schnell erwägen Jesu Freunde Gegenwehr. Einer greift zum Schwert und verletzt den Diener des Hohepriesters am Ohr. Tragen Jesu Jünger Waffen bei sich, die er doch ohne Tasche und Sandalen aussandte? Auch Jesus handelt schnell. Wie beiläufig macht er den Schaden gut, den sein Begleiter angerichtet hat. Unversehrt kann der andere weiterleben.
„Lasst es geschehen“, sagt Jesus. Zusammen mit der Heilungsgeste ist unmissverständlich, was meint: Wir kämpfen nicht. Dann wendet er sich denen zu, die gekommen sind, ihn zu holen: Am helllichten Tag bin ich bei euch gewesen; da habt ihr es nicht gewagt, mich zu fassen. Jetzt kommt ihr – selbst wie die Diebe in der Nacht – als wolltet ihr einen Räuber fangen. „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Mit diesem Satz endet die Szene von Jesu Gefangennahme. Das Ungeheuerliche, dass jemand wirklich Hand an Jesus legt, wird nicht erzählt. Von der Gefangennahme hören wir erst im Rückblick zu Beginn der nächsten Szene.
Sehr schlicht gibt der Evangelist Bericht davon, was im Garten geschieht. Nur schwach erleuchtet ist der Schauplatz von ein paar Fackeln. Jesus steht im Mittelpunkt, um ihn herum Freund und Feind, Verrat und Gewalt. Jetzt hat das Dunkle seine Stunde, und Jesus lässt es geschehen. Gott selbst zieht sich zurück und gestattet, was geschieht. Der Macht der Finsternis ist es gestattet, eine Weile Meister zu sein. Das ist abgründig. Kann man sagen: Gott zieht sich zurück?
Durch das Dunkel hindurch scheint der Himmel hell
Doch auch das gilt für diese wenigen Verse: Durch die dunkel sich zusammenziehenden Schatten ist noch ein Licht zu erkennen. Welches Licht dringt hier durch? Dreimal lenkt der Evangelist unseren Blick auf das, was Jesus tut und sagt.
- Jesus legt den Verrat des Judas offen; er demaskiert die Geste der Ehrerweisung in ihrer bösen Absicht.
- Jesus macht den Schaden wieder gut, den einer seiner Begleiter verursacht, und verbietet die Gewalt.
- Zuletzt: Jesus prangert die Feigheit seiner Gegner an.
Ich sehe da drei Anregungen schimmern:
- Es geht um Aufrichtigkeit, und zur Aufrichtigkeit gehört die Unterscheidung von Opfern und Tätern. Neu bewusst geworden ist uns das in den schweren Diskussionen um mögliche Wege zum Frieden in der Ukraine. Wo einmal Versöhnung wachsen soll, muss das Unrecht klar benannt werden.
- Jesu Nachfolger und Nachfolgerinnen sollen keinem Menschen Schmerz zufügen. Das ist ein hoher Anspruch, an dem sie oft gescheitert sind und noch scheitern. An dem wir persönlich und in der Kirche oft scheitern. Doch es bleibt unsere Aufgabe, Strukturen in Kirche und Gesellschaft so zu bauen, dass Diskriminierung und Gewalt und Missbrauch vermieden und geächtet werden.
- Das Leben verlangt Tapferkeit. Wir können, wir dürfen uns hinter der Feigheit nicht verstecken. Wir müssen uns dem Dunkel stellen und für das Licht trommeln. Durch das Dunkle hindurch scheint der Himmel hell. Damit es auch auf der Erde hell wird, dafür braucht es den Mut jedes und jeder einzelnen. Immer wieder.
Licht an
„Leuchten!“ So heißt die Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr, „7 Wochen ohne Verzagtheit“. Die Materialien bieten für die Wochen der Passionszeit einen Weg zwischen Dunkelheit und Licht an. Welche Dunkelheit, welche Angst in mir braucht Erhellung, fragen sie. Worüber möchte ich Klarheit gewinnen? Und welcher Finsternis mit mehr Mut begegnen?
Einer der Botschafter der Aktion, der Landesbischof der Hannoverschen Kirche Ralf Meister, schreibt dazu: „In den sieben Fastenwochen geht es nicht allein um innere Erleuchtung, sondern auch um die Ausstrahlung auf andere. Werden wir unser Licht auch anderen schenken? Werden wir Helligkeit bringen? Mit unseren Worten, Gesten, unserem Tun?“
Für mich liegt in der kleinen und düsteren Erzählung von Jesu Gefangennahme die Osterhoffnung, dass das Dunkle nicht für immer die Oberhand behalten wird, sondern das Licht sich mit Gottes Hilfe durchsetzt – bei uns und durch das, was wir tun.
„Die Stunde der Finsternis wird vorübergehen und das Dunkel der Nacht wird dem Licht des neuen Tages weichen.“ (François Bovon)