Ein Leib
Der Predigttext von heute aus dem Römerbrief scheint wie für unsere jetzigen Zeiten gemacht. In den letzten elf Monaten konnten wir das alle erleben, allerdings unfreiwillig. Die Predigt, die ich ja einige Tage vorher vorbereite, entsteht zu einem Zeitpunkt, an dem nicht sicher ist, ob sie überhaupt irgendwo gehalten werden kann.Bis zum 10.1. gilt der Lockdown, bei uns sind fast alle Gottesdienste über Weihnachten und Neujahr ausgefallen, und was am 10.1., an diesem Sonntag ist, das weiß keiner.
Wir sind ein Leib, so schreibt es Paulus, alle Christen, und im Fall von Corona sogar alle Menschen. So haben wir es erlebt und erleben es noch. Wenn einer krank wird, dann besteht die Gefahr, dass er/ sie andere ansteckt, viele andere ansteckt, dass Menschen mehr oder minder schwer krank werden oder vielleicht sogar sterben. Wie schwer man betroffen ist, weiß man vorher auch nicht.
Lockdown
Im ersten Lockdown erlebten wir noch ganz anders, wie sehr wir alle voneinander abhängig sind. Nachbarn kauften für andere ein, halfen auf viele Arten und Weisen, und auch im Moment gibt es das wieder.
Es war für uns alle aus der Nachkriegsgeneration eine neue Erfahrung, so voneinander abhängig zu sein. Natürlich kannte ich als Pastorin das Bild von der Kirche als Leib Christi, habe auch oft darüber gepredigt. Aber dass mein Leben und mein eventueller Tod derartig vom Verhalten anderer abhängt, das war neu. Natürlichist man auch als VerkehrsteilnehmerIn vom Verhalten anderer abhängig, aber das verdrängt man leichter, man ist es gewohnt.
Mir ist indieser Zeit deutlich geworden, wie ungewohnt diese Sichtweise für uns ist, dass wir alle zusammengehören, jede/r von jedem/r abhängig ist. Denn es gibt viele, die sich nicht an die Vorschriften halten, im Extremfall sogar von „Diktatur“ sprechen. Sogar christliche Gruppierungen denken, sie würden über dem Gesetz stehen; einige schlimme Krankheitsausbrüche sind in Gottesdiensten entstanden. Dabei sollten wir froh sein, dass Gott uns die Einsicht schenkt, wie wir uns schützen können, anstatt Ihn zu versuchen.
In den letzten Jahrzehnten, so habe ich neulich gelesen, wurde immer stärker die Auffassung vertreten und durchgesetzt, dass, wenn jede/r nur dafür sorge, dass es einem selbst gut geht, es auch allen anderen gut gehen würde. Wenn Reiche z.B. steuerlich entlastet würden, dann würden auch die Ärmeren davon profitieren. Wenn ich meinen Nächsten liebe wie mich selbst, dann muss ich mich selbst lieben, um auch meinen Nächsten lieben zu können. Oft wurde dann weiter über Achtsamkeit und Ähnliches gesprochen, andere Menschen gerieten völlig aus dem Blickfeld.
Die Coronazeit zeigt uns, dass es so einfach nicht ist, dass wir nicht nur auf uns selbst achten müssen, und auch Paulus im Römerbrief sagt uns, dass es so einfach nicht ist. Wir sind aufeinander angewiesen.
Schutz gegen Verfolgung
Dabei haben wir selbst in der christlichen Gemeinde oft Schwierigkeiten, das einzusehen. Ich habe immer mal wieder in den Nachrichten gehört, dass wir Christen die am stärksten verfolgte religiöse Gemeinschaft weltweit sind. Christen werden in vielen Ländern verfolgt. Hören tut man davon allerdings fast nichts, nur manchmal, wie im Fall der Frau, die in Pakistan über Jahre im Todestrakt saß und nun in Kanada lebt, erscheint etwas davon in den Nachrichten. Es scheint uns eher peinlich zu sein, dass so etwas geschieht, und wir wollen nicht so dastehen, als ob wir gegen Menschen anderen Glaubens etwas hätten.
Hier leiden Glieder des Leibes Christi, und wir leiden offensichtlich nicht mit. Selbst wenn Christen als Asylbewerber zurückgeschickt werden in muslimische Länder, hört man von den Kirchen wenig Proteste. Selbst bei uns wurden sie teilweise im Asylbewerberheim weiter bedroht, weil wir sie nicht beschützt haben.
Vielleicht liegt und lag es daran – und auch das wurde in der Pandemiezeit immer wieder beschworen und thematisiert – dass wir vergessen haben oder nicht sehen wollten, dass Gott uns allen unterschiedliche Gaben gegeben hat. Es gibt die verschiedensten Gaben, und alle diese Gaben sind gleich wertvoll und gleich wichtig, vielleicht nicht immer und überall, aber je nach Lage und Bedarf.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde
So erleben wir es ja teilweise in den Gemeinden. Gemeinden wären nichts ohne die Mitarbeiter*innen, die sich dort engagieren. Manchmal habe ich den Eindruck, das wir Pastor*innen natürlich alles können müssten, aber zum Glück gibt es noch viele andere bei uns.
Ich habe manchmal im Konfirmandenunterricht auf Zuruf Berufe nennen lassen, die man ergreifen könnte, wenn man für die Kirche arbeiten will (Konfirmand*innen fanden die Vorstellung meistens lustig),aber nach Pastor*in und vielleicht noch „der/ die Musiker*in, der/ die Orgel spielt, war es immer sehr schnell still. Manchmal fiel jemandem noch die/der Küster*in ein.
Selbst Familienmitglieder unseres Friedhofsgärtners oder der Sekretärin kamen nicht darauf, dass man offensichtlich als Gärtner*in oder Sekretär*inkirchlich arbeiten könne. Die Diakoniestation kannten sie, aber brachten sie nicht mit uns in Verbindung, von Verwaltungsangestellten, Ärzt*innen oder Lehrer*innen an den kirchlichen Schulen ganz zu schweigen.
So liegen viele Gaben einfach brach, weil man nicht auf die Idee kommt, sie einzusetzen. Viele Gaben werden nicht eingebracht und fehlen, weil sie nicht gewürdigt werden. Natürlich wissen wir alle – wir kennen ja unseren Paulus – dass alle Gaben gleich viel wert sind, gleichgültig ob man predigt, die Orgel spielt, Rechnungen ausstellt oder Kaffee kocht, aber in der Praxis wirkt es oft ganz anders. Dabei verliert eine Gemeinde, eine Gruppe, oft Mitglieder und Leben, wenn niemand Kaffee kocht, für das leibliche Wohl und die Organisation sorgt. Gute Predigten sind oft zweitrangig, wenn sie auch eher im Rampenlicht stehen.
Gerade wird heftig diskutiert, ob die Menschen, die Barmherzigkeit ausüben – als Pfleger und Altenpflegerinnen z.B., als Reinigungskräfte oder im Einzelhandel – es wirklich nur wegen der Freude und um Gotteslohn tun sollen, ob es nicht gerechter wäre, sie besser zu bezahlen und ihnen höheres Ansehen zu verschaffen. Wir mögen alle zusammengehören, aber es gibt eben doch Berufe mit besserer Bezahlung und einem höheren sozialen Status als andere. Dabei sind uns alle die Gaben, die wir haben, von Gott geschenkt.
Mit diesen Gaben – was auch immer sie sein mögen – sollen wir sorgfältig und liebevoll umgehen, sie einsetzen zu Gottes Ruhm und zum Wohl anderer Menschen. Wir sind aufeinander angewiesen, wir gehören zusammen. Wir sollen auf uns achten, aber auch auf die anderen. Denn wir sind nicht allein und nicht auf uns selbst gestellt, sondern Leib Christi, von Gott beschenkt.