Filmutopie
Kann Unwissenheit ein Segen sein? Im Jahr 1999 erschien im Kino ein Film mit dem Titel „Die Matrix“. Der Film erzählt eine Geschichte aus ferner Zukunft. Das Leben der Menschen unterscheidet sich nicht von unserem. Sie gehen zur Arbeit, essen, schlafen, sehen fern, lesen Zeitung. Jedoch spielt sich alles nur in einer Scheinwelt ab, gleichsam einem Traum. In Wahrheit liegen die Menschen in der realen Welt wie in Trance an einem dunklen Ort. An ihrem Körper befinden sich viele Kabel befestigt. Hochintelligente Maschinen und Computer halten sie in dieser Scheinwelt gefangen.
Die Maschinen nutzen die Träumenden als lebendige Batterien. Sie saugen den Menschen die Energie aus, ohne dass diese es bemerken. Die reale Welt ist zerstört und liegt brach. Es findet sich dort wenig Nahrung, die Landschaft ist eine Einöde. Doch es gibt auch erwachte Menschen, die in der Realität leben. Einige sind den Maschinen seit Geburt an entkommen, andere wurden von diesen Wachen aus der Traumwelt befreit. Gemeinsam gehen sie in den Widerstand gegen das Unheil und versuchen, andere aus dem Gefängnis der Scheinwelt zu befreien.
Ein klassischer Kampf zwischen Gut und Böse. Einer der Widerstandskämpfer heißt Cypher – ein sprechender Spitzname. Er wurde bereits vor langer Zeit aus der Scheinwelt befreit, lebt in der wirklichen, aber armseligen Welt und versucht nun, andere Menschen zu befreien. Doch er wird das Kämpfen leid und ermüdet daran, die vielen Entbehrungen auf sich zu nehmen. Er vermisst den Luxus der Scheinwelt. Er sehnt sich nach einem Steak, nach dem Leben, das ihm die Maschinen bieten – selbst wenn das alles nicht echt ist. Also macht er sich auf und verhandelt mit ihnen.
Cypher will die Widerstandsbewegung verraten, im Gegenzug fordert er eine Rückführung in den Schlaf und somit in die Scheinwelt, außerdem soll seine Erinnerung an die Wahrheit gelöscht werden – denn so sagt es Cypher zu den Maschinen. Er habe nun erfahren: „Unwissenheit ist ein Segen!“
Prophetie in der Vergangenheit
Was in diesem Film in ferner Zukunft geschieht, spielt sich in ähnlicher Weise bereits in ferner Vergangenheit ab – bei dem Propheten Jeremia. Propheten wurden von Gott dazu berufen, die Wirklichkeit zu predigen, um anderen die Augen für das wahre Leben zu öffnen. So wurden auch Propheten zu Widerstandskämpfern gegen das Unheil.
Jeremia hat das Wort Gottes empfangen, die Wahrheit über den Zustand seines Volkes, die viele nicht sehen. Jeremia möchte die göttliche Weltsicht teilen, die Menschen vor Gefahr behütet. Der Prophet will andere aus einem Leben befreien, das in Ketten der Dunkelheit liegt. Statt Dank für seine Botschaft erntete er Spott und Hohn. Er musste sogar um sein Leben fürchten. Für das Gute und Gerechte ausgelacht und bedroht zu werden, ist eine zutiefst kränkende Erfahrung. So bitter, dass Jeremia zu klagen beginnt mit den Worten unseres heutigen Predigttextes.
(Lesung des Predigttextes)
„Da dachte ich: Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Namen predigen.“ (V. 9a) Das klingt für mich ähnlich wie Cyphers Spruch: „Unwissenheit kann ein Segen sein.“ Das Licht, das Gott in Jeremia entzündet hat, um anderen den Weg zu leuchten, droht zu erlöschen. Jeremia ist drauf und dran sein Prophetenamt hinzuschmeißen. Er will Gott und sein Wort vergessen. Rücktritt würde man heute wohl sagen. Ein Blick in die Zukunft anhand der Gestalt Cypher, ein Blick in die Vergangenheit auf Jeremia. Nun ein Blick in unsere Zeit.
Prophetie der Gegenwart
Auch heute durchleben Menschen diese Krise. Nicht nur Priester und Pastoren, die das Wort Gottes von der Kanzel verkündigen. Es betrifft viele Menschen, die sich dafür einsetzen, dass ein Stück mehr Himmel auf Erden werde. Es betrifft jede Frau, jeden Mann und jedes Kind, die Menschen gewinnen wollen, sich um den Klimaschutz zu bemühen, unsere Nahrungskette wieder ins Gleichgewicht zu bringen oder darauf hinweisen, die Armen nicht zu vergessen, sich für den Frieden einzusetzen und nicht zuletzt dadurch Gott zu ehren. All diesen Menschen – auch uns – kann es so ergehen, wie es in der Vergangenheit Jeremia erlebte oder wie Cypher in der Zukunft.
Jeremia und Cypher, zwei Widerstandskämpfer gegen das Unheil. Zwei, die versuchen, andere aus einer Scheinwelt zu befreien. Zwei, die erfahren, wie unsagbar viel Kraft das kostet. Doch stellen wir beide Gestalten gegenüber, dann können wir etwas erkennen. Sie teilen diese leidvolle Erfahrung, aber sie reagieren unterschiedlich darauf.
Der Blickwinkel des Jeremia
Cypher wählt den Verrat. Ihm ist kein Preis zu hoch, um die Wahrheit vergessen zu können. Er will befreit sein, von seinem Auftrag andere zu retten, befreit davon sein, die wirkliche Welt neu zu gestalten. Hauptsache er ist die Last los, die damit verbunden ist.
Was Jeremia von Cypher unterscheidet, ist der Blickwinkel. Beide schauen zurück auf ihren mühevollen Weg, doch Jeremia gelingt es, seinen Blick davon zu lösen. Als hörte er die Worte des Wochenspruchs: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lk 9,26) Jeremia erkennt, dass ihn seine Fixierung auf die Vergangenheit lähmt, das Land für die Zukunft zu bestellen. Das Pflügen soll die Erde fruchtbar machen und dazu braucht es gerade Bahnen. Den Blick nach vorne. Jeremia schafft es weiterzugehen, weil er nicht nur zurück, sondern auch nach oben schaut – zu Gott.
Okuli ist der Name des heutigen Sonntags – entnommen aus dem Psalm 25. „Meine Augen sehen stets auf den HERRN, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen“ – aus dem Netz der vergangenen Enttäuschungen. Jeremias eigene Worte lauten: „Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held.“ (Jer 20,11a)
Die Frage heute an uns lautet für mich daher: Lassen wir uns lähmen von Enttäuschungen? Fixieren wir unsere Augen auf die Mühsal der Nachfolge? Hören wir auf Stimmen die sagen: „Siehst du, bringt doch nichts, sich für andere einzusetzen. Schmeiß dein ehrenamtliches Engagement hin, deine alltägliche Nachbarschaftshilfe, dein freundliches Lächeln für fremde Menschen, dein Mülltrennen, dein Einkauf regionaler und fairer Produkte. Andere tuscheln schon hinter deinem Rücken, du hättest einen Öko-Tick, seist eine naiver Weltverbesserer, ein Gutmensch, und wer heute an Gott glaubt, dem traut man zu, noch an den Weihnachtsmann zu glauben.“ So könnte der Spott heute klingen.
Die neue Sicht auf die Welt
Sich auf Gottes Seite zu stellen, seine Sicht auf diese Welt zu teilen, und anderen näher zu bringen, dass kann viel Kraft kosten, und spätestens seit Luther wissen wir: Dieser Kraftakt gilt allen Getauften – denn jeder Christ ist ein Priester oder eine Priesterin, die vor den Menschen für Gottes Sache eintreten. Unser Glaube will uns helfen anders zu leben, und zwar als Gemeinschaft anders zu leben. Okuli – unsere Augen schauen auf Gott. Wer auf Gottes Wegen geht und sich seiner priesterlichen Bewegung anschließt, der und die braucht auch Gott als Kraftquelle, die uns hilft, trotz Enttäuschung auf seinem Weg zu bleiben. Daher schauen wir nicht nur an Okuli, sondern jeden Sonntag auf Gott.
Wir resignieren nicht, bleiben in unserem Amt des Priestertums aller Getauften und gestalten die Welt mit Gottes Verheißung. Unwissenheit macht das Leben vielleicht einfacher, aber Unwissenheit ist kein Segen! Schon gar nicht für die Zukunft dieser Welt. Ein Segen ist es, wenn wir den Wert des Wortes Gottes entdecken und die Würde unseres Auftrages; entdecken, dass Gott durch Gemeinschaft diese Welt verwandeln will. Unser Schöpfer wird uns dabei nicht immer schonen, aber er wird uns auch dazu befähigen:
– Nachbarschaftshilfe zu leisten
– Fremde Menschen anzulächeln
– für Hilfsprojekte zu spenden
– unseren Müll zu trennen
– Energie zu sparen
– fair gehandelte Produkte zu kaufen und nicht zuletzt
– Gottes Liebe in Christus zu verbreiten.
Alles nur Tropfen auf dem heißen Stein? Ja, vielleicht. Aber wir lassen diese Tropfen nicht abreißen. Solange noch ein Tropfen auf den heißen Stein fällt, gibt es Hoffnung auf Regen. Kraft schenkt uns dafür das Gebet, daher lasst uns beten:
Gott, ich bitte dich, wenn wir unsere Augen auf dich richten, dann komm uns spürbar nahe, damit auch wir bei aller Mühe und Last auf dem Weg unserer Nachfolge mit Jeremia sagen können: Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held.