75 Jahre
Darf ich die Predigt heute überhaupt halten? 75 bin ich noch nicht. Ich habe eine feste Adresse, ein Bankkonto, vertragliche Verpflichtungen und familiäre Bindungen. Ich möchte keinen von Euch, von Ihnen missen. Ansonsten habe ich noch viele, zu viele Bücher, die ich lesen müsste. Das alles mitschleppen? Im Rucksack? Ein Kamel habe ich nicht. Nein, ich werde wohl bis an mein Lebensende hier bleiben, weiter in Ehren ergrauen und dereinst mein Grab hier finden. Merkwürdig: zähle ich es auf, bin ich doch langweilig. Ob ich Abraham beneiden soll, weiß ich noch nicht. Ihr könnt mir dabei helfen, Spuren zu finden, die über den Tag hinausreichen. Versprochen: Nach dieser Predigt werden wir nicht mehr die Alten sein. Ich werde sie wohl doch halten müssen, die Predigt. Die Predigt eines Fünfundsiebzigjährigen.
66 Jahre
Aber da liegt mir doch ein Lied auf der Zunge! 75 spielt da keine Rolle, wohl aber 66. Wollen Sie mitsummen? Ausnahmsweise erlaubt. Geht auch ohne Orgelbegleitung…
Ihr werdet euch noch wundern
wenn ich erst Rentner bin
sobald der Stress vorbei ist
dann lang ich nämlich hin
Oho, oho, oho
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.
Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.
Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss.
Mit 66 Jahren, ist noch lang noch nicht Schluss.
Im Sommer bind’ ich Blumen
um meine Denkerstirn
und tramp nach San Francisco
mein Rheuma auskuriern
Oho, oho, oho
und voller Stolz verkündet
mein Enkel Waldemar
der ausgeflippte Alte
das ist mein Opa
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an … Am Ende reimen sich Spaß, Schuss und Schluss. Den Sänger
kennen Sie? Udo Jürgens. Wir schreiben das Jahr 1977. Das Lied hat sich gut gehalten. Das Lied
erzählt in mehreren Strophen die Geschichte eines Mannes, der mit dem Eintritt in den Ruhestand seine neue Freiheit ausgelassen und unbekümmert zelebriert. Mit eingezogenem Bauch und schnittiger Frisur, Lederdress und 110 PS Motorrad unter sich. Eine neue Ära wird eingeläutet. Ihr werdet euch noch wundern!
Und sehen mich die Leute
entrüstet an und streng
dann sag ich meine Lieben
ihr seht das viel zu eng
Geh!
Nein, Abraham sang dieses Lied nicht. Rentner war er auch nicht, eher Familienoberhaupt. Mitten im Leben. Mit viel Ehre und Würde. Wie er sich gefühlt hat, erfahren wir nicht. Auch nicht, wie gesund er noch war. Künstliche Gelenke allerdings können wir ausschließen. Auf einmal, ganz unvermittelt, wird er zur Hauptperson in einem Stück, das sich jeder Bühne entzieht. Er soll, mit seiner großen Familie – und den Rindern und Schafen – seine alte und vertraute Heimat verlassen. Geh! sagt eine Stimme. Geh! Hat er sie nur gehört? Sonst keiner? Schon sehr mutig, so einfach alle Zelte abzubrechen und anscheinend ohne Widerworte den Aufbruch zu wagen. Haben tatsächlich alle ihr Glück im Wagnis gesehen, noch einmal neu anzufangen? Kaum zu glauben, was hier abgeht. Was Abraham und die Seinen gewinnen? Land, ja, Land – und Nachwuchs. Nicht in Worte zu fassen. Der Erzähler hat auch nur ein Wort: Segen.
Abraham zieht los. Mit allem, was ihm gehört, was zu ihm gehört. Nichts, niemand bleibt zurück. Unberührt von allem. Ein Zurück gibt es nicht. Es ist, als ob es nur noch Zukunft gibt. Die Vergangenheit verschwindet. Mit jedem Meter, mit jedem Morgen, mit jedem Abend. Und Abraham ist 75. Wie wird seine Zukunft aussehen? Wie kann er sein Leben messen? Was bleibt ihm? Die Gräber der Vorfahren veröden. Mit ihnen die Geschichten, Erinnerungen und Wunden. Das Neue zieht alles in seinen Bann.Geh!
Neuanfang
Während der Jungrentner sich mit seinen 66 Jahren langgehegte Wünsche erfüllt, ansonsten aber in seinem Lebensumfeld verwurzelt bleibt, beginnt Abraham ganz neu. Gewachsene Strukturen, bewährte Umgebungen, vertraute Gelände tauscht er ein – gegen Neuland. Damit ist mehr gemeint als die Erde, auf der Zelte aufgestellt, Hütten gebaut, Weiden abgegrenzt werden. Neuland steht für neue Erfahrungen, neue Ordnungen, neue Träume. Neuland steht auch für neue Gottesbegegnungen, kurz: für Glauben.
Faszinierend ist, dass Abraham sich auf ein Wort Gottes hin aufmacht. Abraham stellt keine Rückfragen, erbittet keine Bedenkzeit, erwartet keine Erklärungen. Ist das Glauben? Die Ursituation von Glauben? Mir ist das unheimlich. Haben nicht viele Menschen in ihrem Leben erlebt, wie gerade eine solche Haltung Angst macht, den Willen bricht, Freiwild schafft? Abraham steht ganz am Anfang. Er weiß noch nichts von Missbräuchen, auch nichts von Machtgelüsten. Für ihn ist Glauben das große Vertrauen, in eine neue Zukunft aufzubrechen, neu anzufangen und dabei reich gesegnet zu werden. Abraham wird später Vater des Glaubens genannt werden. Das macht ihn bis heute wichtig für Juden, Christen und Muslime. Der Apostel Paulus weiß ihn zu rühmen und als leuchtendes Vorbild vorzustellen. Ganz modern: Glaube ist keine Berechnung, keine Leistung, keine Sorge. Eine große Offenheit, ein grenzenloses Vertrauen wird bei Abraham sichtbar, die die Freiheit zu nutzen wissen, noch einmal Neuland zu betreten. Wer Zukunft will, wird aufbrechen müssen. Wer nicht aufbricht, wird von der Vergangenheit verzehrt. Treu und redlich. Gott aber wagt, Menschen anzusprechen und mit ihnen neue Räume, neue Überlieferungen, neue Hoffnungen zu erobern. Wie das Land, das sich am Horizont auftut und im Nebel auftaucht. Gibt es zum Glauben eigentlich eine Alternative?
Neuland
Nicht nur Abraham bricht auf. Gott bricht ebenfalls auf. Er hat die Welt geschaffen, mit den Menschen ein Fiasko erlebt und seine eigene Verletzlichkeit erfahren. Gott war drauf und dran, seine Schöpfung wieder rückgängig zu machen. Die ersten Kapitel der Bibel, auch Urgeschichte genannt, erzählen nicht nur das Auf und Ab, sie bezeugen in vielen kleinen Szenen die Treue und Liebe Gottes. Gott wächst geradezu an seiner Treue. Nein, seine Schöpfung ist geliebt und ja, auch die Menschen mit ihren Köpfen und Herzen. Allesamt nach Gottes Bild. Königliche Würde. Wenn auch nicht die Krone der Schöpfung. Krone der Schöpfung ist der siebte Tag. An ihm ruht Gott, um sich an seiner Schöpfung zu freuen und alles in seiner Hand abzuwägen. Gott putzt sozusagen alle Dinge und gibt ihnen ihren Glanz.
Heute bricht Abraham auf. Gott selbst schlägt ein neues Kapitel in seiner Geschichte auf. Das Neuland, das er betritt, teilt er mit Abraham, mit seinen Leuten, mit uns. Das ist Gottes Glaube! So habe ich das eigentlich noch nie wahrgenommen. Die Geschichte vom Aufbruch – ist die Geschichte vom neuen Anfang Gottes. Mit seinen 75 Jahren ist Abraham genau der Richtige. Ich habe mich immer schon gefragt, was Gott an Abraham gefunden hat. Altenteil und Neuland! Es gehört schon etwas dazu, das zusammen zu sehen. Aber es ist eine glückliche Fügung: aus alt wird jung, aus reif neu, aus erfahren neugierig. Ob Gott sich selbst so beschreiben kann? Es ist sein Ding, in seiner Liebe treu zu bleiben, mit Menschen neue Wege zu gehen und alles zu verwandeln, was alt und verbraucht ist. Abraham! Erzähle!
Verbrauchte Hoffnungen
Vielleicht hören wir die vielen Geschichten, die heute im Umlauf sind. Das Land Abrahams ist ein Zankapfel geworden, umstritten, heiß umkämpft. Wir denken an den nahen Osten, an Israel, an Palästina. Es ist schwierig, über die Beziehungen und Verwerfungen zu reden. Religiös trennt Abraham, er muss für vieles herhalten. Für Besitzansprüche und für verlorenes Land. Am Ende der Argumentationen hat sich die Vergangenheit zu rechtfertigen, nicht die Zukunft. Ist Abraham der richtige Gesprächspartner, der gute Gewährsmann?
Unzählige Menschen sind in ständigen Aufbrüchen. Auf der Flucht vor Kriegen, vor Hunger, vor Hass. Sie verlassen ihre Heimat notgedrungen. Auf der Suche nach dem Neuland – eins heisst heute tatsächlich Deutschland – stoßen sie auf Abwehr und Vorbehalten. Verfolgen sie die Diskussionen in unserem Land mit den vielen sprachlichen Entgleisungen, können sie sich kaum willkommen fühlen. Wie war das eigentlich mit Abraham? Über sein Neuland, über seinen Aufbruch sprechen wir fromm und mit Achtung, aber – unter uns – er war nicht überall willkommen. Eindringling war er. Und damals schon ein Fremder. Lange, bevor uns das Wort zum ersten Mal begegnete. Was ist, wenn Abraham ein vertrocknete Land verlassen musste, um nicht mit seiner Familie und seinem Vieh unterzugehen? Seine Geschichte ist so großartig offen, dass wir sie in unseren Zeitungen lesen können. Und der Herr sprach zu Abraham: Geh!
Oft nehmen wir in unserer Gesellschaft, auch in unseren Gemeinden verbrauchte Hoffnungen war. Mit ihnen werden wir nicht alt werden können, auch keine neuen Ufer erreichen. Wer Zweifel kultiviert, bekommt Super-Zweifel, wer Ängste rechtfertigt, findet Ängste de luxe, wer mit dem Feuer spielt, kann sich nicht selbst löschen. Die Geschichte Abrahams ist ein Glücksfall. Große Weltliteratur. Mit Abraham gewinnt ein Wort so große Kraft, das sich alle Despoten fürchten: Glauben. Vertrauen. Treue. Ein Wortfeld, viele Geschichten. In ihnen erscheint Gott. Erfahren mit Menschen und ihnen doch in Liebe verbunden. Ein Wort genügt: Geh! Wer sich jetzt bequem in seinen Vorurteilen und Besitzständen aalt, hat die Zukunft hinter sich und seine Vergangenheit vor sich.
Ein glückliches Ende
Darf ich diese Predigt überhaupt halten? 75 bin ich noch nicht. Aber Abraham fasziniert mich. Sein Glaube. Ob es mein Glaube werden kann? Von vielem müsste ich mich trennen. Alle Dinge in die Hand nehmen. Sie putzen. Ihnen ihren Glanz geben. Abwägen. Lassen. Einfach lassen. Der 66jährige singt:
Ich sing im Stadtpark Lieder
das jeder nur so staunt
und spiel’ dazu Gitarre
mit einem irren Sound
Oho, oho, oho
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, unserem Herrn.