Gelassenheit – eine Tugend oder Bequemlichkeit?

Aktion und Kontemplation - Ein Verkündigungsgespräch

Predigttext: Markus 4,26-29
Kirche / Ort: Heidelberg
Datum: 19.02.2017
Kirchenjahr: Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Markus 4,26-29 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

 26 Und er (Jesus) sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft  27 und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht wie.  28 Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.  29 Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

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Hinweis zur Form und Gestaltung der Predigt

Die Predigt ist als Verkündigungsgespräch bzw. als eine Art Dialog konzipiert, um die wesenhaft kommunikative Seite der Predigt zu verstärken. Der Liturg bzw. die Liturgin kann die Predigt mit bis zu sieben Sprecherinnen bzw. Sprechern („Stimmen“) gestalten. Auch kann an den gekennzeichneten Stellen die Gemeinde mit einbezogen werden, indem ihr Raum zum Gespräch gegeben wird, und ein meditativer musikalischer Beitrag kann zum Innehalten und zur Besinnung helfen.

Verkündigungsgespräch

Liturgin bzw. Liturg:
Welch eine Gelassenheit stellt uns Jesus mit der Gestalt des Sämanns vor Augen! Gelassenheit ist eine Tugend! Sie fehlt uns. Wir brauchen viel mehr Gelassenheit in unserem Lebensalltag. Könnten wir mit etwas mehr Gelassenheit die Aufgaben, vor die wir täglich gestellt sind, nicht besser erledigen? Könnten wir mit unseren Konflikten und Lebensproblemen nicht besser umgehen und Lösungsmöglichkeiten entdecken?

Stimme 1:
Da bin ich anderer Meinung. Gelassenheit ist nichts als Bequemlichkeit. Die Augen schließen, die Hände in den Schoß legen, um ja nichts zu sehen und zu tun, wenn es gilt, anzupacken. So denken doch viele. Selbst aktiv zu sein, bringt einen Menschen ja nur in Gefahr, Fehler zu begehen. Lass mal die anderen machen – und überhaupt: Was kann ein einzelner Mensch schon tun und bewirken? Es bleibt doch alles, wie es ist, und nichts, nichts wird besser.

Liturgin bzw. Liturg:
Was stimmt nun? Wie steht es mit der Gelassenheit? Ist sie eine Tugend oder bloße Bequemlichkeit?

(Zeit zum Gespräch in der Gemeinde)

Stimme 2:
Es kommt wohl auf die Situation an. Gelassenheit, etwas in einer bestimmten Situation lassen zu können, kann tatsächlich eine Tugend sein: Manchmal nämlich kann es gut sein, nachzugeben, wenn sich z.B. jemand mir gegenüber rechthaberisch verhält und einen unnützen Streit provoziert, wenn es nicht mehr um die Sache geht, sondern nur noch um die eigene Meinung, die um jeden Preis durchgesetzt werden soll.

Stimme 3:
Da möchte ich mich anschließen. Mir fällt noch ein anderes Beispiel ein: Gelassenheit, etwas lassen zu können, ist etwas Gutes, wenn ich nicht auf alles, was mir von einem Menschen mit Worten an den Kopf geworfen wird, gleich reagiere. Ganz wichtig ist mir, wenn ich die vielleicht ganz andere Meinung und die mir ganz unverständlichen Gefühlsäußerungen zulassen und unwidersprochen stehen lassen kann.

Liturgin bzw. Liturg:
Gelassenheit bedeutet für mich Geduld haben wie der Mensch, von dem Jesus im Gleichnis erzählt, und warten können, wenn eigene Aktivitäten in einer Beziehung zwischen zwei Menschen im Augenblick nicht weiterbringen. Ich muss lernen, etwas hinzunehmen, das ich jetzt nicht ändern oder beeinflussen kann.

Stimme 4:
Ich stimme zu. Im Hinblick auf die eben erwähnten Beispiele ist Gelassenheit eine wirkliche Tugend. Man kann sie sich nur wünschen. Sie ist eine Gabe, ein Geschenk! Sie kann aber auch tatsächlich Ausdruck von Bequemlichkeit sein, das sollten wir nicht vergessen. Die Gefahr ist täglich groß. Höre ich etwa weg, wenn über einen anderen Menschen hergezogen und lieblos geurteilt wird? Nehme ich wahr, wenn ein Mensch in meiner Umgebung Hilfe braucht, mein Gespräch oder eine Handreichung? Habe ich den Mut, zu geschehendem Unrecht Stellung zu nehmen und zu meiner Meinung zu stehen, auch wenn ich von anderen angegriffen werde?

Stimme 5:
Wir brauchen das Vertrauen, dass sich das Gute, die Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Friede durchsetzen, auch wenn noch so vieles dagegenzustehen scheint. Ich wünsche mir das Vertrauen jenes Menschen im Gleichnis Jesu, der weiß, was er selbst tun kann und wo seine menschlichen Grenzen sind.

Stimme 6:
Jetzt habe ich aber eine Frage. Wie ist das mit den 2000 Jahren Christentum? Haben sich die Christen, die Kirche, nicht etwas zuviel Gelassenheit geleistet anstatt aktiv den Glauben zu leben? Was ist das Ergebnis der Verkündigung des Reiches Gottes, seiner neuen Welt, in der Gerechtigkeit, Gemeinschaftssinn, Liebe und Frieden regieren? Gibt es nicht immer noch viel zu viel Ungerechtigkeit, Einzelgängertum, Lieblosigkeit und Feindlichkeit? Demgegenüber doch ein Aufruf zu Gelassenheit eher schädlich. Wir brauchen Taten, die das Recht zwischen den Menschen fördern, den Gemeinschaftssinn pflegen, einen guten Umgang miteinander und mit allem, was uns in dieser Welt anvertraut ist, praktizieren, einen Umgang, der von der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung bestimmt ist.

Liturgin bzw. Liturg:
Das kann ich nur begrüßen. Wir sollten viel aktiver für das Reich Gottes werden. Wir zeigen uns zu schnell in die Passivität zurück. Ich kann und will nicht warten, wie der Mensch, von dem Jesus im Gleichnis erzählt, bis das Reich Gottes, die in der Bibel verheißene neue Welt Gottes von selbst, “automatisch”, ohne mein Zutun kommt. Ich wünsche mir keine schläfrige, sich ausruhende Gemeinde und Kirche, sondern mehr Lebendigkeit, Aktivität und lebenspraktisches, konkretes Handeln.

Ich kann Deine Unruhe verstehen. Jesus meint bestimmt nicht, dass wir immer und überall, in jeder Lebenssituation, die Hände in den Schoß legen sollen. In seiner ersten Predigt ruft er die Menschen zur Umkehr, zum Umdenken, zur Besinnung auf mit dem begründenden Hinweis auf das (mit seiner Person) nahe herbeigekommene Reich Gottes.

Mit dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat höre ich Jesus sagen: Das Reich Gottes kommt wie die Saat “von selbst”. Jesus will uns auf Gottes Wirken hinter den Dingen aufmerksam machen. Gott selbst führt die neue Welt, sie entsteht aus seinem Wirken. Das Reich Gottes hat schon begonnen, sagt Jesus. Jesus ruft den zweifelnden und resignierten Menschen zu, die sich in Gesellschaft und Kirche engagieren und mutlos werden, weil ihr Einsatz scheinbar so wenig Anklang findet und Frucht trägt. Jesus ruft diesen Menschen zu: Gott, der den Anfang einer neuen Welt gesetzt hat, wird sie auch zur Vollendung führen.

Stimme 7:
Können wir jetzt schon Früchte des Reiches Gottes sehen?

(Meditative Musik)

Liturgin bzw. Liturg:
Ob wir jetzt schon Früchte des Reiches Gottes sehen können? – Ja, wenn wir uns von der Verkündigung der neuen Welt Gottes bestimmen und leiten lassen, von einer neuen Sicht der Welt und unseres Lebens. In einer scheinbar heillosen Welt lädt uns Jesus zum Vertrauen auf Gott ein, auf sein gutes Wirken und seine heilvolle, heilende Zukunft. Mit einer solchen Lebenseinstellung lernen wir, realistisch einzuschätzen, was uns möglich ist, und vertrauensvoll zu lassen, wo wir unsere menschlichen Grenzen spüren. Wir werden aufmerksam für alle Zeichen des Friedens im persönlichen und gesellschaftlichen Leben, aufmerksam für das Aufleuchten die Wirklichkeit Gottes im Alltag unserer alltäglichen Lebenswelt.

Stimme 8:
Dazu fällt mir ein Gebet ein: “Gott, ich bitte Dich, gib mir die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Gib mir die Geduld zu warten, was ich selbst nicht bewirken kann. Schenke mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden”.

Liturgin bzw. Liturg:
Wir wissen, dass sich die Saat unter bestimmten Bedingungen nicht entfalten kann. Wenn sie keine Wurzeln schlagen können, vertrocknen sie. Oder ihr anfängliches Wachstum kann durch allerlei Gestrüpp, das sich um die jungen Pflanzen schlingt, gehemmt und sogar ganz gestoppt werden.

Jesus, auf dessen Weg mit Gott wir uns in dieser Zeit des Kirchenjahres besonders besinnen sollen, macht uns mit seinem Gleichnis Mut. Jesus stärkt unseren Glauben, unser Vertrauen, dass wir die Saat der Gerechtigkeit, des Gemeinschaftssinnes, der Liebe und des Friedens nicht vergeblich ausbringen. Jesus stellt uns mit seinem Gleichnis die Gelassenheit des Sämanns vor Augen, damit wir bei all unseren Aktivitäten nicht vergessen, dass das Aufgehen und Wachsen der Saat in eines anderen Hand, in Gottes Hand, steht. Ihm sei Ehre in Ewigkeit.

Gemeinde:
Amen (gesprochen oder gesungen: liturgisches Amen bzw. EG 344,9 “Amen, das ist: es werde wahr …” oder EG 289,5 “Sei Lob und preis mit Ehren …”)

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Ein Kommentar zu “Gelassenheit – eine Tugend oder Bequemlichkeit?

  1. Chr. Kühne

    Der Autor, Dr. Janssen, lädt ein zu einer dialogisierenden Verkündigung des Predigttextes. Das macht wach und lässt neugierig werden!
    Wie steht es um die Tugend der Gelassenheit heute? Ist das nicht ein anderes Wort für Nichtstun und sich raushalten aus den Dingen? In der Predigt wird auf den richtigen Zeitpunkt hingewiesen, in dem ich handle oder warte. Das Gleichnis will uns dafür begeistern, diesen Zeitpunkt zu erspüren, zu erahnen – so wie es der Bauer in der Geschichte macht: Er geht jeden Tag aufs Feld – das ist seine Aktivität -, und er sieht die Saat wachsen – schließlich kann er sie nicht er-ziehen! – und freut sich am Wachstum – in aller Gelassenheit. Er braucht nichts zu tun. Und diese Situationen gibt es auch in der Nachbarschaft, in der Politik, im Beruf: Es gilt wachsam zu sein, wann ich eingreifen sollte und wann sich z.B. eine Beziehung wieder „zurechtläuft“ oder eine Schulnote „von selbst“ ändert, weil die Situation zuhause besser geworden ist. Das sind dann die „Früchte“, die wir sehen können und die uns auf das Reich Gottes hinweisen. Und dass wir Lust auf diese Früchte bekommen, dazu macht uns Jesus mit seinem Gleichnis Mut. Und die gelungene Predigt!

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