„Wir müssen uns vormalen lassen und ins Herz bilden, wenn man uns unter die Erde scharrt, dass es nicht heißen muss gestorben und verdorben, sondern gesät und gepflanzt und dass wir aufgehen und wachsen sollen in einem neuen, unvergänglichen und ungebrechlichen Leben und Wesen. Wir müssen eine neue Rede und Sprache lernen, von Tod und Grab zu reden, wenn wir sterben, dass es nicht gestorben heißt, sondern auf den zukünftigen Sommer gesät, und dass der Kirchhof nicht ein Totenhaufe heißt sondern ein Acker voll Körnlein, nämlich Gottes Körnlein, die jetzt sollen wider hervorgrünen und wachsen, schöner als ein Mensch begreifen kann. Es geht nicht um eine menschliche irdische Sprache, sondern um eine göttliche himmlische.“ So sagte es Martin Luther, er dachte dabei an seine Neufassung von Ps 126, unser heutiges Predigtwort, wir haben es eben schon gebetet. Lassen wir uns heute also in dreifacher Weise auf die poetische Welt dieser Psalm-Worte ein. Es ist ein Wallfahrtslied, ein Erntelied, die Bitte an Gott um einen Rückruf.
Wallfahrtslied
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden!“ So beginnt dieses Lied aus dem ältesten Gesangbuch der Welt, eines der 14 Wallfahrtslieder im Psalter. Wallfahrten gibt es ja bei uns nicht, oder? Vielleicht doch? Als wir neulich bei einer Beerdigung mit einem langen Zug durch den sonnigen Feudenheimer Friedhof liefen, vorbei an den bunten Lutherbrettern, dachte ich plötzlich etwas verträumt: Dieser gemeinschaftliche Gang zum Grab ist eigentlich eine Wallfahrt! Es ist keine Spazier-Fahrt, es fährt keiner, alle „wallen“ auf einem gemeinsamen Weg, es ist kein Fortschritt, aber auch kein Rückschritt, so eine Wallfahrt durch den Fried- Hof, manche unterhalten sich, andere träumen vor sich hin, jeder in seine Herzensgedanken versunken, Schritt für Schritt, Brett für Brett, in einem langen Zug, auch wenn wir nicht laut beten und singen.
Merkwürdig, eine Wallfahrt zu einem Grab, was tun wir da? Ich glaube, es ist eine geistliche Übung, das Einüben unserer Sterblichkeit als befristete und endliche Geschöpfe, es ist auch das Einüben des aufrechten Gangs – wie jeder Gottesdienst. Wir lassen uns nicht unterkriegen vom Tod. Manch eine denkt auf dieser Friedhofs-Wallfahrt daran, wann und für wen sie das letzte Mal so einen Gang gemacht hat und für wen es das nächste Mal sein wird. Vielleicht ist jemand auch voller Dankbarkeit, dass er selbst noch gehen kann, ein Beten mit den Füßen, eine Mischung aus Dankbarkeit und Abschied und Besinnung. Ein Wallfahrtslied über die Erlösung passt zu diesem Bild: Freude und Tränen sind nahe beieinander, Träume und Natur klingen mit, auch wenn keiner singt oder laut betet. „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich“, unser Mund ist voll von den Erzählungen, von den gemeinsam erlebten festlichen Stunden, ja – vielleicht nur ein bisschen übertrieben: „unser Mund ist voll Lachens!“
Die Witwe drehte sich jedenfalls unter Tränen um und freute sich doch an dem langen Zug. Alle diese Menschen mussten auf ihrer Wallfahrt nichts sagen, um ihr beizustehen, sie hätten diesen Psalm beten oder singen können, aber sie gingen einfach mit, und das war in sich tröstlich, Schritt für Schritt und Brett für Brett gingen wir gemeinsam mit betenden Füßen – auf einigen Lutherbrettern steht ja: „Fürbitten heißt jemandem einen Engel senden“. Oder: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen“, oder „Verleih uns Frieden gnädiglich“. Eine Wallfahrt zum Grab, vorbei an solchen bunten Stationen mit Trostworten – das war ein schweigender Engelszug zum Grab, lauter Menschen, die mit den Füßen Fürbitte gaben, Schritt für Schritt, von Brett zu Brett, von Trostwort zu Trostwort.
Die Mittrauernden, Mitgehenden teilten mit der vorausschreitenden Witwe ihre Sehnsucht und Unruhe, wie es weitergehen würde mit ihr. Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott. „Wir gehen hin und weinen“. Aber auf diesem Weg der befristeten Unruhe sind wir nicht allein. „Wir gehen hin und weinen und kommen mit Freuden und bringen unsre Garben“.
Die Wallfahrt zum Grab ist eine Einübung in unsere Sterblichkeit, wir machen eine trostvolle Er-fahrung, wir er-laufen sie uns auf dem Weg. Es ist leichter, wenn viele mitgehen, mit-wandeln, dann wandelt sich auch so manche Unruhe auf dem Weg. – Ein Wallfahrtslied ist uns also heute gegeben, und es lädt ein zum Träumen auf dem Weg zum Grab, in Erinnerung an unsere Lieben, die wir heute noch einmal der Liebe Gottes übergeben. „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Und: die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“
Erntelied
Das ist anscheinend nicht nur ein Wallfahrtslied, es ist auch ein Erntelied! Der Ewigkeitssonntag, eine Beerdigung hat vielleicht auch etwas mit einem Erntedankfest zu tun: Es geht nicht nur um die Blumen und die schön gerichteten Beete, um die Erde, die uns alle empfangen wird: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub, es geht nicht nur um Blumenschmuck und Herbstlaub. Es sind eigentlich Erntefragen, denen wir auf „Gottes Acker“ nachsinnen: Welche Spuren hat der Verstorbene hinterlassen? Was hat er gesät, was hat er geerntet? Welche Saat ist aufgegangen und hat Frucht gebracht? Hat er Kinder und Kindeskinder? An was aus seinem Leben erinnert man sich?
Wer sät, weiß nicht gleich, ob die Saat auch aufgeht, man muss einen langen Atem haben. Ein besonders langfristiges Projekt ist tatsächlich, ein Kind zu bekommen. Manch eine denkt zwar, wie schnell sind sie groß geworden, wie schnell bin ich alt geworden, aber andere sind wohl auch voller Ungeduld, wie lange dauert es, bis sie selbstständig werden! Und so mancher denkt bei einer Beerdigung mit Kindern: Das Leben geht, das Leben kommt! Und jetzt stellt sich die Frage: Haben wir genügend Erntefeste zusammen gefeiert? Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen? Hatten wir genügend gemeinsame Pläne, die wir auch gelebt haben? Welche Saat ist nicht aufgegangen, welche Sehnsucht ist unerfüllt geblieben?
Wir müssen – wie Martin Luther empfiehlt – dafür „eine neue Rede und Sprache lernen, dass es nicht gestorben heißt, sondern auf den zukünftigen Sommer gesät, und dass der Kirchhof nicht ein Totenhaufe heißt sondern ein Acker voll Körnlein, nämlich Gottes Körnlein, die jetzt sollen wider hervorgrünen und wachsen.“ Wir müssen mit den Kindern eine neue Sprache lernen, sie wissen nicht mehr, was Garben sind, die gibt es nicht mehr. Aber Gaben kennen sie noch. Einfach ein „r“ weglassen! Oder ein „r“ dazu tun so wird aus Amen ein Armer – und das passt auch, auf einem der Lutherbretter steht ja: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir Armen! Und auf einem anderen: Das ewig Licht leucht da herein, gibt der Welt ein neuen Stein! Schreibfehler oder Umschreibungen, Neudeutungen in aller künstlerischer Freiheit: Einen neuen Grundstein, ein neues Fundament zum Leben und zum Sterben, beides! Versuchen wir es einmal mit Erntegedanken, wenn wir uns verabschieden auf „Gottes Acker“. Die bunten Bretter helfen uns dabei hoffentlich. Schließlich ist uns heute nicht nur ein Wallfahrtslied und ein Erntelied gegeben, es ist auch eine Bitte an Gott.
Bittlied
„Bringe zurück unsere Gefangenen, wie du dich Bäche wiederbringst im Südland!“ So singt unser Lied in träumerischer Bildsprache und erinnert uns daran, dass die ersten Sänger, Wallfahrer und Erntearbeiter etwas wussten vom Exil und Gefangenschaft. Sie wussten auch etwas davon, dass Flüsse austrocknen und wieder zu reißenden Bächen werden. So plötzlich können sich die Verhältnisse ändern.
Auch wir sind Gefangene unserer Verhältnisse, im Guten wie im Bösen. Mancher Rückruf Gottes kam sehr plötzlich, – wie eine Erlösung – so wie sich mancher sein Sterben wünscht, so wie es manche Angehörigen fürchten, weil sie sich nicht verabschieden konnten. Manch einer ist zwischendurch einmal plötzlich gerufen worden, aber „dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen“, um dann nach einiger Zeit doch Abschied zu nehmen.
So vielfältig wie unser Leben hier auf Erden, so vielfältig sind unsere Abgänge. Heute tragen wir alle in den brennenden Kerzen zusammen, die von uns gerufen wurden. Gott hat sie einmal ins Leben geschickt und nun wieder zu sich zurück gerufen. Gott ruft die Lebenden und die Toten. Und wir üben uns heute darin, dem Ruf Gottes zu folgen, schon hier auf Erden, und später in Ewigkeit.