Glaube, der trägt
Die Welt, wie sie in Wahrheit ist
Predigttext: Matthäus 14,22-33 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe.
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.
26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich.
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Exegetische Bemerkungen
Der Kontext des Seewandels Jesu und Petri ist durch das Mkev bestimmt. Von Mt 13,53 (Jesus in Nazareth) bis Mt 17,23 (2. Leidensweissagung) stimmt Matthäus mit Markus im Wesentlichen überein. Dieser Komplex füllt den Raum zwischen den beiden Redekompositionen des Matthäus, Gleichnisrede (Kap. 13) und Gemeinderede (Kap. 18). Hier wie auch sonst geht es um das spezielle, matthäisch gezeichnete Profil Jesu.
Die Frage: „Was ist das für ein Mann …“ (Mt 8,27/Mk 4,41/Lk 8,25), ist zwar schon am Anfang des Evangeliums ein für alle Mal beantwortet: Sohn Abrahams, Sohn Davids (Mt 1,1), Sohn Gottes (Mt 1,18; 3,17), Erfüllung aller „messianischen“ Verheißungen (Mt 1,23 u.ö.). Sie durchzieht aber das gesamte Evangelium: von Gott autorisierter Interpret der Mosetora (Kap. 5-7; vgl. Mt 23,10); heilende Hand Gottes und darin Bringer des Gottesreichs (Kap. 8-9; vgl. Mt 12,28/Lk 11,20); Beauftragender und Begleiter durch die Zeiten hindurch (Kap. 10; vgl. Mt 28,18-20); das Ganze noch einmal auf den Punkt gebracht Mt 11,1-6/Lk 7,18-23 und Mt 11,28-30.
Unter der Frage: „Wer ist Jesus?“, mag dann auch Mt 14,22-33/Mk 6,45-52 gelesen werden: „Gespenst“/„Hirngespinst“ oder „Sohn Gottes“? Petrus stellt die entscheidende Frage: „Herr, bist du es, …“. Die Antwort „Ich bin’s“ weist auf die Täuferfrage Mt 11,1-6 zurück; die ausgestreckte Hand v 31 auf die Hand Gottes Mt 12,28. Die im Boot (= die Gemeinde) können zu Recht bekennen: „Du bist wahrhaft Gottes Sohn“.
Die Geschichte vom Seewandel geht über das Wunder der Sturmstillung hinaus: Jesus geht auf dem Wasser, Petrus will es auch versuchen, er schaut auf Jesus, und es klappt. Dann aber „sieht“ er auf den Wind, auf das, was Fakt ist, und er „geht unter“. Dieser verstärkt wunderhafte Zug entsteht durch Einschreiben des Auferstandenen in die faktische Wirklichkeit.
Deutlich nimmt die Perikope Bezug auf Mt 28,16-20. Dort fallen die „sehenden“ Jünger vor dem Auferstandenen nieder, „einige aber zweifelten“. Hier wird der „kleingläubige“ Petrus gefragt: „Warum hast du gezweifelt?“ Am Ende aber fallen alle vor dem Gottessohn nieder. Dort beendet der Auferstandene seinen Missionsauftrag mit der Zusage: „Ich bin bei euch“. Hier entspricht das dem Trostwort v 27. Die Aussage dieser Geschichte liegt auf der Hand: Der Auferstandene gehört zu unserer Wirklichkeit.
Homiletische Bemerkungen
Bei einer Predigt über diese doppelte Wundergeschichte steht das Wirklichkeitsverständnis zur Disposition. Im Unterschied zur Exegese hat sich die Predigt am heutigen Wirklichkeitsverständnis zu orientieren. Das heißt: Sie muss das „Wunder“ anders sagen.
Nun ist aber umstritten, was Wirklichkeit ist. Ist Wirklichkeit nur das, was semper ubique ab omnibus bezeugt wird, bestätigt durch sinnliche Wahrnehmung und Messbarkeit? Oder gibt es zwei Wirklichkeiten, die der Fakten und jene, die man Jenseits nennt? Oder umfasst die eine Wirklichkeit alles, die Welt der Fakten und die Welt des Unbegreiflichen? Und ist das Unbegreifliche, wenn es denn erfahren wird, die Wahrheit (vgl. Jh 8,31f)?
Sollte sich das Wirklichkeitsverständnis des heutigen Menschen in der Tat nur am Faktischen orientieren, wäre es die Aufgabe der Predigt, ihn zu einer erweiterten Wirklichkeitssicht zu bewegen, die die Präsenz des Auferstandenen (im Heiligen Geist) einschließt (docere et movere).
Bei einer denkwürdigen Geschichte ist es nicht wichtig, dass sie wirklich passiert ist, sondern dass sie wahr ist. Eine solche Geschichte möchte ich heute mit Ihnen bedenken.
(Lesung des Predigttextes, Matthäus 14,22-33)
Der Auferstandene gehört zur Wirklichkeit
Was für ein grundstürzender Wandel bei denen, die im Boot saßen: In ihrer Existenz bedroht waren sie durch Sturm und wütendes Wasser, starr vor Angst und Schrecken, weil ihnen die raue Wirklichkeit wie ein Gespenst entgegenkam. Und mitten hinein in diese gespenstische Szene klingt ein Wort: „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht.“ Zweifel … Und dann doch niederfallen vor dem, der kein Gespenst, sondern Gottes Sohn ist.
So kann es gehen mit dem Glauben. Du hast es nicht in der Hand. Plötzlich ist er da, durch ein Wort, das dich trifft: „Sei getrost, fürchte dich nicht, ich bin bei dir.“ Plötzlich ist die Wirklichkeit mehr als nur das, was Fakt ist. Plötzlich gehört zur Wirklichkeit auch der, der zu dir spricht: „Sei getrost, fürchte dich nicht, ich bin bei dir.“ Plötzlich gehört zur Wirklichkeit auch der Auferstandene.
Auch Paulus hat das, wie wir gehört haben, bezeugt. Schmerzhafte Verluste säumen seinen Weg und am Ende sogar die Gefahr, das Leben zu verlieren. „Wir glaubten schon“, schreibt Paulus, „zum Tode verurteilt zu sein“; doch dann wird er wider Erwarten vor dem Tod errettet. Sein persönliches Ostern. Mit seinem persönlichen Ostern hat er Anteil an dem einen großen Ostergeschenk, das Gott der ganzen Menschheit gemacht hat: Er hat Jesus aus dem Tod gerettet.
Jesus ist auferstanden, einmal für alle Menschen. Rettung vor dem Tod ist Zufall, kann auch schief gehen. Rettung aus dem Tod ist unumstößliche Wirklichkeit. Wir denken dabei auch an die Leidenden unserer Zeit, an die unheilbar Kranken, die Trauernden, die Heimatlosen. Wir wissen aber auch, dass für sie alle ein Wort wahr wird, das Wort des Auferstandenen: „Seid getrost, ich bin bei euch, fürchtet euch nicht.“ Alles Leid, alle Ungewissheit, alle Angst ist umfangen von diesem einen Ostern am Ende des Weges. Das Osterlicht leuchtet in unsere Welt hinein. Nicht nur die Welt, wie sie ist, ist unsere Wirklichkeit, sondern die Welt, wie sie im Osterlicht erstrahlt. Es ist die Welt, wie sie in Wahrheit ist.
Darum wird die Geschichte vom Seewandel Jesu und des Petrus so erzählt, wie wir sie gehört haben. Mitten in Lebensangst und Todesnot hinein, mitten in diese grausam-realistischen Phänomene unserer Welt hinein, wird Jesus der Auferstandene gezeichnet, der, der über das Wasser geht, der über das Element des Todes schreitet, der allen Schrecken und alle Furcht bannt, weil er und nur er, der Gottessohn, aus dem Tod erretten kann. Jesus der Auferstandene wird in die reale Welt hineingezeichnet, weil er zur Wirklichkeit dazugehört, zu einer Wirklichkeit, die höher ist als alle Vernunft, zu einer Wirklichkeit, die wir auch „die Wahrheit“ nennen können. Eine denkwürdige Geschichte, bei der nicht wichtig ist, ob sie wirklich passiert ist, sondern dass sie wahr ist.
Wirklichkeit und Wahrheit
Wahr ist: Jesus der Auferstandene ist bei uns. Er ist bei uns mit seinem Wort: „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht.“ Sein Wort trägt uns. So wie es einst den Petrus getragen hat: „Komm her übers Wasser, sei getrost, fürchte dich nicht.“ Wasser ist der Tod. Aber Glaube entmachtet den Tod. So wie Glaube Berge versetzen kann. Solange Petrus dem Wort des Gottessohnes vertraut, weicht die Angst; er wird getragen und kommt Jesus immer näher. Traut er Jesus aber nicht, dann gewinnen die Elemente dieser Welt Macht über ihn und er beginnt zu sinken. Sein letzter Schrei: „Herr, rette mich!“, ist wie ein Gebetsschrei in höchster Todesnot. Vertrauen noch im Untergang ist das einzige, was trägt. Und es trägt! Jesus streckt seine Hand aus und rettet aus den Wassern des Todes.
Das ist die Wahrheit dieser Geschichte. Diese Wahrheit soll uns einleuchten. Darum erzählt die Bibel solche Geschichten. Sie sollen uns durch den Kopf gehen. Manchmal ist es aber auch einleuchtender, wenn sie uns durch den ganzen Körper gehen. Wir kennen die Vertrauensspiele von Konfirmandenfreizeiten. Glaube ist Getragen-Werden. Das soll dargestellt werden. Drei Konfirmanden knien auf dem Boden, den Rücken waagerecht ausgesteckt, die Hände wie zum Liegestütz aufgestellt. Darüber legt sich quer ein vierter Konfirmand. Nun vollziehen die drei mit dem Rücken Wellenbewegungen, und der vierte wird unsicher, darf aber vertrauen, denn er wird nicht fallen. Das ist „Vertrauen erleben“. Das leuchtet ein.
Wir brauchen solche Leuchtzeichen für unser Leben. Denn Petrus ist uns ja nicht fremd. Die Furcht unterzugehen, die Angst zu scheitern rücken uns manchmal bedrohlich nahe. Das ist menschlich. Wir geben den scheinbar unabänderlichen Fakten in der Welt Raum, zu viel Raum, so dass sie uns beherrschen und wir nicht mehr Herr über sie sind. Die Bibel möchte uns zu mehr Gottvertrauen bewegen, die Geschichte vom Seewandel Jesu insbesondere zu mehr Vertrauen auf den lebendigen Christus, der bei uns und mit uns ist und spricht: „Fürchte dich nicht.“
Heute kommen Migrationswellen auf uns zu, fremde Kulturen und andere Religionen drohen uns zu überrollen, und Angst vor dem Untergang des christlichen Abendlandes geht bei manchen Menschen scheinbar um. „Habt Gottvertrauen“ klingt bei Margot Käßmann so: „Gehen Sie sonntags in die Kirchen; dann müssen Sie keine Angst vor vollen Moscheen haben.“
Eine andere Welle erfasst uns wieder und wieder und wird anscheinend von Mal zu Mal höher. Es sind die Wellen der Pandemie, die nicht abnehmen wollen. Sie gehören zur krank machenden, z.T. leider auch tötenden Realität unserer Welt. Krank macht aber auch das angstvolle Fixiert-Sein auf jede neue Welle. Bei aller gebotenen Vorsicht, die die Realität unserer Welt ernst nimmt, dürfen wir aber auch die Nähe dessen ernst nehmen, der zu uns spricht: „Seid getrost, ich bin bei euch, fürchtet euch nicht.“ Gottvertrauen befreit zum Leben inmitten der Wellen.
Und dann gibt es auch Menschen, die werden bisweilen niedergedrückt von der Last der Verantwortung und drohen zu versinken. Was sie zu tragen haben, bereitet ihnen schlaflose Nächte. Ich kenne das. Ich habe mir dann immer gesagt: „Vieles hast du schon bewältigt; das wirst du auch noch schaffen.“ Oder aber auch: „Es gibt eine Zeit danach.“ Man mag das Selbstvertrauen nennen. Aber ich glaube, dass darin auch eine Portion Gottvertrauen mitschwingt. Denn Petrus kann sich nicht selbst tragen und halten. Nur das Vertrauen auf den Gottessohn kann ihn tragen und halten.
Und schließlich sehen wir uns in dieser Welt auch der realen Macht des Todes gegenüber. Er ist der Untergang schlechthin. Wenn sich nicht der Auferstandene längst in die Wirklichkeit mit eingebracht hätte mit seinem Wort: „Sei getrost, ich bin bei dir, fürchte dich nicht.“ So aber können wir seine rettende Hand ergreifen. Er rettet aus dem Tod. Das ist die ganze Wirklichkeit, die der Glaube Wahrheit nennt.
Eine denkwürdige Geschichte, bei der nicht wichtig ist, was wirklich passiert ist, sondern dass sie wahr ist.
Über eine denkwürdige Geschichte im Evangelium predigt Pfarrer Dr Scholz mit denkwürdiger Wahrhaftigkeit und Hoffnung. Jesus ist auferstanden und gehört zu den Jüngern und den Christen und ist bei uns. Das ist unsere Wahrheit und schenkt uns Vertrauen für die Zukunft der Kirche , bei den Pandemien und in unserem Alltag. Jesus, auferstanden und mächtig wie Gott, wird seine Leute auch aus dem Tod retten. Darum ist diese Geschichte wahr. Selten so hoffnungsvoll wird darüber gepredigt wie in dieser denkwürdigen Predigt.