Alles gut?
Muss ich als Pastor bedingungslos alle Bibeltexte gut finden? Wenn ich ehrlich bin, kann ich das nicht immer. Dieses Gleichnis Jesu vom Himmelreich zum Beispiel brauchte für mich die Liebe auf den zweiten und sogar dritten Blick. Daher möchte ich heute Morgen drei Blickwinkel auf den Predigttext mit Ihnen teilen. Der erst Blick ist der offensichtliche, der mir nicht sofort gefällt und Widerstand weckt. Ich denke, Jesus hat das Gleichnis bewusst so provokativ ausgestaltet, denn bei Hörerinnen und Hörern werden ja die Stirn runzeln und die Frage stellen: „So absurd funktioniert Gottes Gerechtigkeit?“
In diesem Gleichnis geht es diesmal nicht um Schulderlass, sondern um Lohn. Es dreht sich um meine Stärke und meinen Verdienst. Dabei sehe ich mich in der Rolle der Arbeiter, die zur ersten Stunde dabei sind und hart arbeiten; den ganzen Tag und sogar während der Mittagshitze. Das wurde so vereinbart und ist daher gerecht. Doch am Abend muss ich mit ansehen, wie meine Kollegen, die nur am Ende eine Stunde mit angepackt haben, denselben Lohn wie ich bekommen. Hier bricht mein Verständnis der himmlischen Gerechtigkeit zusammen. Alle bekommen denselben Lohn unabhängig ihrer Leistung? Das widerspricht jeder weltlichen Erfahrung.
Im Reich Gottes ist es anders
Der erste Blick auf das Gleichnis, will genau diese Provokation in mir auslösen. Es will mir vor Augen führen, dass es in Gottes Reich anders zugeht als in der Welt bzw. in der freien Wirtschaft. Jesus zeigt mir, dass in Gottes Reich das Wohl aller wichtiger ist als die Frage, wie dieser allgemeine Wohlstand bei unterschiedlichen Leistungen zu rechtfertigen ist.
Vielleicht geht es Jesus auf den ersten Blick genau darum: Er malt mir ungeschönt und kontrastreich vor Augen, dass meine gewohnten Ansichten im Himmelreich auf dem Kopf stehen werden. Was ich „schwarz“ nenne, nennt Gott „weiß“, was ich „ungerecht“ nenne, nennt Gott „gerecht“. Wer hier „die Letzten“ sind, sind bei Gott „die Ersten“.
Jesus lenkt meinen Fokus weg vom Vergleichen hin zur Dankbarkeit über das, was ich selbst erhalte, um die Fähigkeit zu erlernen, anderen ihr Wohl gönnen zu können. Vermutlich ist dieser erste Blick eine gängige Auslegung des Textes. Doch nicht immer muss mir gefallen und einleuchten, was Jesus verkündigt. Eben daran spüre ich ja, dass ich in der Welt verwurzelt bin und sich himmlische Logik nicht immer mit meiner Welterfahrung deckt.
Selbst Petrus musste sich mal eine Rüge von Jesus gefallen lassen. Als er Jesus wünschte, vor dem Kreuzestod bewahrt zu werden, sagte Jesus: „Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“ (Mt 16,23b) Vielleicht bin ich manchmal beim Lesen der Bibel mehr wie Petrus und weniger wie Jesus.
Der Weg des Bibliologs
Liebenswert ist diese „Holzhammer-Methode“ jedoch für mich nicht. Daher – wie erwähnt – brauchte ich den zweiten und dritten Blick, um mein Herz dem Gleichnis Jesu vom Himmelreich zu öffnen. Diese Horizonterweiterung gelang mir nicht durch Abstand zum Text, sondern durch ein tieferes Hineintauchen, um Neues darin zu entdecken. Die Bibel bietet diese Möglichkeit Dank des „schwarzen und weißen Feuers“, das in ihr lodert. Diese Begriffe sind mir in meinem Theologiestudium begegnet, als ich ein Seminar zum Bibliolog belegt hatte.
Bibliolog ist ein Weg, gemeinsam mit einer Gruppe eine biblische Geschichte zu erkunden. Die Methode entspricht der rabbinischen Auslegungsweise (Midrasch), nach der Texte der Heiligen Schrift durch eine kreative Füllung ihrer Lücken ausgelegt werden können. Das „schwarze Feuer“ ist die wörtliche Bedeutung des Textes , das „weiße Feuer“ steht für die Ideen, Auslegungen, Andeutungen hinter dem Text – die Botschaften „zwischen den Zeilen“, die zum Leben kommen, wenn wir mit dem Text in Beziehung treten. Einen klassischen Bibliolog werde ich nicht mit Ihnen führen, aber ich will zum klingen bringen, was die Geschichte zwischen den Zeilen noch erzählen könnte. Zwei neue Blickwinkel auf Jesu Gleichnis, möchte ich also nun mit Ihnen einnehmen. Bleiben wir für den ersten bei der rabbinischen Weisheit und hören eine Parabel des Rabbi Bun bar Hijja, die sich auf ihre Weise dem Thema der Lohngerechtigkeit nähert, jedoch eine überraschend andere Pointe nimmt:
Es war ein König, der viele Arbeiter mietete. Es war aber dort ein Arbeiter, der sich durch seine Arbeit überaus verdient machte. Was tat der König? Er nahm ihn fort und erging sich mit ihm auf langen und kurzen Wegen. Zur Abendzeit kamen jene Arbeiter, um ihren Lohn zu empfangen. Er gab ihm mit diesen seinen Lohn voll. Da murrten die Arbeiter und sagten: Wir haben den ganzen Tag gearbeitet und dieser hat nur zwei Stunden gearbeitet, und er hat ihm seinen vollen Lohn gegeben. Der König sprach zu ihnen: Dieser hat in zwei Stunden mehr gearbeitet, als ihr den ganzen Tag hindurch gearbeitet habt.
Soweit die Parabel, die mich an ein Sprichwort erinnert, das lautet: „Wer mit dem Finger auf jemanden zeigt, auf den zeigen drei Finger zurück“. Ein interessanter Aspekt, nicht wahr? Blicken wir damit auf das Gleichnis Jesu, werden zwischen Schwarz und Weiß plötzlich die Graustufen sichtbar. Ist es wirklich ungerecht, dass alle den gleichen Lohn bekommen haben? Wenn man schon die Gerechtigkeit ausloten möchte, müsste man dann nicht genauer hinschauen? Nicht nur auf die Quantität der Arbeitszeit, sondern auf die Qualität der Arbeitsleistung?
Vielleicht haben die Arbeiter in der letzten Stunde tatsächlich mehr geschafft und andere, die von Beginn an dabei waren, haben sich vielleicht geschont und Zeit vertrödelt. Unternehmen haben erkannt, dass Arbeitszeit, die an einen bestimmten Lohn gekoppelt ist, allein nicht die Produktivität der Mitarbeitenden sichert. Einige Führungsstile arbeiten daher mit Druck und Kontrolle, andere mit Motivation und extra Annehmlichkeiten wie gesonderten Ruhebereichen in der Firma oder Sportangeboten, kostenlosem Obst und Erfrischungsgetränken, um das Arbeitsethos zu fördern.
Menschen sind keine Maschinen, und daher ist es klug, was der Rabbi uns sagen will. Gleiche Arbeitszeit bedeutet noch lange nicht gleiche Produktivität, und damit stellt die gleiche Zeit als Bemessungsgrundlage noch lange keine Lohngerechtigkeit her. Dies als erster, neuer Blickwinkel auf Jesu Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Er mildert den spontan empfunden Skandal in mir ab, und regt mich zum Nachdenken an, ob das Thema Lohngerechtigkeit im Gleichnis nicht komplexer ist, als es zunächst erscheinen mag. So wäre die Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen, dass die letzten Arbeiter die Starken und die ersten die Schwachen sind.
Der zweite Blickwinkel
Der zweite Blickwinkel, den ich noch mit uns einnehmen möchte, dreht dies komplett um und passt womöglich noch besser zum jesuanischen Geist. Der Philosoph Max Horkheimer wäre am 14. Februar 125 Jahre alt geworden und schrieb einmal: „Je mehr Freiheit es gibt, desto mehr wird die Gerechtigkeit dadurch gefährdet, dass die Stärkeren, Gescheiteren, Geschickteren die anderen schädigen“.
Nehmen wir für den dritten Blickwinkel einmal an, dass die ersten Arbeiter tatsächlich die Stärkeren, Gescheiteren und Geschickteren waren, wie es der Text vermuten lässt. Warum waren überhaupt Tagelöhner in der elften Stunde übrig und konnten kurz vor Feierabend noch ihre Dienste anbieten? Das standen sich Menschen die Beine in den Bauch, die auch Arbeit benötigten, aber leer ausgegangen waren. Vielleicht weil die anderen auf dem freien Arbeitsmarkt geschickter waren, sich gut darzustellen, oder die Ellbogen besaßen, sich vor die anderen zu drängeln. Vielleicht waren die ungewollten Arbeiter wesentlich älter oder körperlich schwächer als die, welche zuerst eingeladen wurden. Vielleicht hatten sie ein Handicap, ein verletztes Bein oder eine gelähmte Hand. Wer zur elften Stunde noch keine Tagesarbeit bekommen hatte, dem wird es vermutlich auch am nächsten Tag nicht besser ergehen.
Aber Gott lädt sie ein. Insgesamt geht er fünfmal auf den Markt. Früh morgens, dann zur dritten, zur sechsten, zur neunten und sogar noch zur elften Stunde und sagt damit: „Ich war heute zwar schon hier und habe im Grunde genug Arbeiter im Weinberg, aber ich will, dass auch ihr nicht leer ausgeht und heute euer Brot auf den Tisch bekommt. Ja noch viel mehr: ich will es euch nicht nur schenken, sondern euch ermutigen, dass ihr etwas leisten könnt, und sei es für eine Stunde. Ihr seid wertvoll, ihr seid vielleicht nicht so geschickt, die Freiheit auf dem Arbeitsmarkt für euch zu nutzen oder seid benachteiligt im Vergleich mit anderen. Bei mir aber könnt ihr dennoch anheuern. Ich würdige euch auch zur elften Stunde. Ich brauche euch.“
Tiergattungen – und Menschen
Mit diesem dritten Blick öffnet sich mein Herz und mein Verstand für Jesu Gleichnis. Mir wird bewusst, was folgende Karikatur beschreibt: Vor einem Baum stehen ein Elefant, ein Affe, ein Goldfisch im Glas, ein Frosch und eine Katze. Vor den Tieren steht ein Mann im Anzug, über ihm schwebt eine Sprechblase. Darin steht: „Liebe Bewerberinnen und Bewerber, damit es gerecht zugeht, bekommen Sie alle dieselbe Aufgabe. Klettern Sie bitte auf den Baum“. Ist das gerecht? Oder hat nicht ein Affe eine ganz andere Chance, auf den Baum zu klettern, als ein Goldfisch im Glas? Gerechtigkeit lässt sich selten auf den ersten Blick klar erfassen.
Es lohnt sich stets genauer oder tiefer auf einen Sachverhalt zu schauen. Besonders wenn es um das Wohl von Menschen geht, ja sogar unabdingbar, wenn es um das Wohl von Menschen geht. Dieser Blick ist für mich jesuanisch und eine Schau ins Reich Gottes auf Erden. Es ereignet sich, wenn ich andere nicht mit mir vergleiche, als hätten alle dieselben Fähigkeiten, Grundvoraussetzungen und Chancen, um ihr Leben wie ich zu meistern.
Menschen sind keine Maschinen, die gleich fabriziert, automatisch das Gleiche zu leisten vermögen. Jede und jeder verdient es, individuell angeschaut zu werden. Im Reich Gottes geht es daher nicht pauschal zu. Welch Grund zur Freude. Gott sieht dich, Gott sieht mich, er sieht uns genau an. Gott vergleicht nicht mit Schablonen, Gott presst uns nicht durch Schablonen. Gott fördert maßgeschneidert, damit alle gut leben können und so kann ich nach dem dritten Blick aufs Gleichnis Jesu von Herzen dazu sagen: So sei es – Amen.