Wir alle wünschen uns einen Lebensweg, der glatt verläuft, der über die Höhen des Daseins führt und uns mit strahlendem Sonnenschein verwöhnt. Auf Wanderungen durch finstere Täler verzichten wir gern. Vielleicht gibt es Einige unter uns, die das Glück eines geebneten Lebensweges, mit Erfolg und Gesundheit gepflastert, wandern dürfen und auf die Frage: „Wie geht es dir?“ ehrlich antworten können: „Danke, richtig gut”. Wie schön ist es, wenn wir dann daran denken, dass wir solches Wohlergehen uns nicht verdient haben, sondern zu den Geschenken gehört, die uns Gott in seiner Freundlichkeit zukommen lässt.
An hohen Geburtstagen werden die Senioren oft gefragt, wie sie es denn nur „geschafft“ haben, so alt zu werden. Oft geben sie dann ihre guten und weniger guten Rezepte zum Besten. In früheren Jahren lauteten die z.B.: „Jeden Tag ein Schnäpschen“. Oder: „Viel Arbeit und immer in Bewegung sein”. An solchen „Befragungen“ habe ich mich natürlich auch beteiligt und entsprechende Antworten erhalten. Aber einmal gab es eine überraschende Ausnahme. Ich machte einen Geburtstagsbesuch bei einem alten Herrn, den ich seit vielen Jahren gut kannte. Er saß meist still und in sich gekehrt in seinem Lehnstuhl und beteiligte sich kaum an den Gesprächen, die um ihn herum geführt wurden. Auch über den Glauben verlor er kein Wort. Wie üblich wurde auch ihm die Frage gestellt, ob er uns das Rezept verraten könne, mit dessen Hilfe er sein hohes Alter erreicht habe. Da kam auf einmal Leben in diesen so stillen und zurückhaltenden Mann. Er setzte sich in seinem Sessel kerzengerade auf und rief mit lauter und deutlicher Stimme: „Gnade, Gnade, nichts als Gnade!“ Die Runde der Geburtstagsgäste war sprachlos. Sie hatten wohl mit Manchem gerechnet, aber nicht damit, dass er, der Stille und Zurückhaltende, auf eine übliche Frage so temperamentvoll seine Antwort in die Mitte der Geburtstagsgesellschaft schleudern würde, den Kernbegriff des christlichen Glaubens: ,,Gnade!“
Für Paulus ist der Begriff „Gnade“ ein Schlüsselwort für das christliche Glaubensverständnis. Es spielt auch in unserem Predigttext eine bedeutende Rolle. In seinem Umfeld erscheint weiteres sprachliches Urgestein: Glaube, Friede, Hoffnung, Herrlichkeit Gottes, Ruhm, Geduld, Bewährung und noch einige andere. Dabei sind es zwei Gesichtspunkte, die für ihn wichtig sind: Der Ruhm der Herrlichkeit Gottes und der Ruhm der Bedrängnisse. Die Herrlichkeit Gottes zu rühmen ist eine Selbstverständlichkeit und nicht schwer. Paulus fasst diese Heilstatsachen noch einmal, sozusagen stichwortartig, zusammen. Wahrheiten, die auch uns geläufig sind: Gott hat uns gerecht gesprochen durch Jesus Christus. Durch den Glauben an ihn kommen wir zum Frieden. Das gibt uns eine berechtigte Hoffnung für die Zukunft, in der wir Gottes Herrlichkeit schauen dürfen. Das rühmen wir. Dafür danken wir Gott, deswegen stimmen wir unsere geistlichen Lieder an. „Sein Ruhm unsere Freude“ heißt ein schönes Liederbuch, in dem das umgesetzt wird, und auch unsere Kirchengesangbücher geben davon hervorragendes Zeugnis. Wie schön, wenn wir darauf unser Leben gründen und mit Paul Gerhardt rühmen können: “Der Grund, da ich mich gründe, ist Christus und sein Blut: das machet, dass ich finde das ewge wahre Gut. An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd: was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert”.
Nun folgt das „Aber“. Aber die Bedrängnisse. Was ist mit den Bedrängnissen in unserem Leben? Wir fürchten sie und gehen ihnen möglichst aus dem Wege. Was ist mit der Krankheit, die uns Sorge bereitet? Wir möchten solche Brocken nicht auf unserem Lebenswege sehen. Wir verwünschen Bedrängnisse dieser Art. Wir hadern mit Gott, wenn er uns solche Lasten zumutet. Wir bitten und betteln, damit er sie von uns nimmt. Und wir tun es zu Recht. Wir tun es im Namen Jesu, der uns dazu ermutigt. Wir lassen uns an seine Verheißung erinnern: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan”. Und lasst uns nicht vergessen, wie oft unsere Gebete, die in diese Richtung gehen, schon erhört worden sind, oft über Bitten und Verstehen. Wie gerne singen wir dann „…in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“
Aber die Bedrängnisse: Wir fürchten uns vor ihnen. Wenn sie in Sicht kommen, ergreifen wir die Flucht. Was sagt Paulus dazu? Er ist, was den Glauben betrifft, aus ganz anderem Holz geschnitzt als wir es normalerweise sind. Immer wieder kommt er in seinen Briefen darauf zu sprechen, wie misslich seine äußeren Umstände sind. Aber beeindruckend ist, wie gelassen, ja tapfer er damit umgeht. Einmal berichtet er von einem Aufenthalt im Gefängnis. Zu Unrecht wird er wie ein Straffälliger behandelt. Nur unter Aufsicht, an einen Aufseher gekettet, darf er sich bewegen. Wenn wir so durch die Straßen geführt würden, dann wäre uns das unendlich peinlich, egal ob wir schuldig oder unschuldig wären. Ganz anders Paulus. Die Ketten sind für ihn kein Ausdruck der Demütigung und der Schande, nein, er trägt sie wie einen Orden, der ihm verliehen wurde. Immer wieder betont er, mit welche Hingabe, ja Freude er alle Beschwerliche, alle Leiden, alle Häme, allen Hass, alle Verfolgung – also aller das, was das Leben überschattet und ihm seine Qualität nimmt – wie er das alles auf sich nimmt und es ihm sogar eine Ehre ist, dies für seinen Herrn tun zu dürfen. Und dabei strahlt es eine Zuversicht und Freude aus, die einfach atemberaubend ist. Was ist der Grund dafür? Der Grund dafür ist seine tiefe Verbundenheit mit Jesus Christus.
Es ist nicht nur der Glaube, dass Jesus Gottes Sohn ist, der gute Grundsätze aufgestellt hat, nach denen wir leben sollen, der für uns gekreuzigt wurde und auferstanden ist, wofür wir Gott dankbar sind und ihn rühmen. Es ist vielmehr eine Verbundenheit mit seinem Herrn, die ihn bis in die Tiefen seines Wesens erfasst und durchdrungen hat. So kann er mit einem gewissen Stolz sagen, dass er mit dem Leiden seines Herrn verbunden ist: Dass er seine Wundmale trägt, dass er mit ihm gekreuzigt ist – und das ist jetzt eine fast abenteuerliche Folgerung: mit ihm auch eine Zukunft hat. So hat für Paulus jede Bedrängnis ihren Sinn. Er sieht sie positiv. Sie führt ihn Schritt für Schritt in neue, tiefere Glaubensbereiche und gipfelt in strahlender Hoffnung auf dem, was noch kommt und in Dankbarkeit für das, was Gottes Geist in seinem Inneren an Liebe bewirkt. Welch ein Vorbild für uns. Wie klein werden wir da mit unseren Bemühungen um ein christliches Leben. Aber gleichzeitig möchte ich hinzufügen: Wie viel hat Gott durch seinen Geist schon an uns gearbeitet? Wie viel besser können wir im Laufe der Jahre mit unseren Bedrängnissen, mit Sorgen, Nöten und Schwierigkeiten umgehen? Welche Möglichkeiten stecken da noch in uns? Was kann Gott noch alles aus unserem Leben machen, dass es ihm immer mehr zum Ruhm gereicht? Da können wir ganz zuversichtlich sein.